von Winfried Pogorzelski
Musik weckt und fördert die unerschöpfliche Kreativität des Menschen. Er wächst über sich hinaus, schafft grossartige Werke, deren Wirkung sich niemand entziehen kann: Musik begeistert, verschafft Glücksmomente, führt Menschen zusammen, lässt sie das Leben besser bewältigen. Über alle Kontinente und Kulturen hinweg vermag dies am meisten die klassische Musik, aber auch die Volksmusik.
Die Klassik, vom Staat in der Regel hochsubventioniert, ist vielerorts zunehmendem Spardruck ausgesetzt und muss von daher einen gewissen Bedeutungsverlust hinnehmen. Für ihre Erhaltung, Pflege und Verbreitung setzt sich Kent Nagano unermüdlich ein. Er träumt «von einer Welt, in der jeder Mensch die Chance hat, Zugang zur klassischen Musik zu finden» (S. 40), pflegt aber auch den Austausch zwischen Musiktraditionen verschiedener Kulturen.
«Das klingende Fischerdorf»
Kent Nagano, amerikanischer Dirigent mit japanischen Wurzeln, studierte in Santa Cruz und in San Francisco Musik und Soziologie, lernte auch bei Pierre Boulez, Leonard Bernstein und Olivier Messiaen, mit dem er befreundet war. Seine Tätigkeit führte ihn an die wichtigsten Konzert- und Opernhäuser u.a. nach Montreal, Boston, New York, Berlin, Hamburg, München, Salzburg, Zürich, Mailand. Er gehört zu den gefragtesten Vertretern seiner Zunft.
In den 1950er und 1960er Jahren wuchs Nagano in einem Fischerdorf namens Morro Bay an der Westküste Kaliforniens auf, wo sich Einwanderer unterschiedlicher ethnischer Herkunft – darunter auch Schweizer – niedergelassen hatten. An der dortigen Schule wirkte mit Hingabe der Georgier Wachtang Korisheli als Pianist und Musikpädagoge. Ihn hatte es dorthin verschlagen, nachdem er den Wirren des Zweiten Weltkriegs entflohen war. Sein Ziel war es, ein Orchester aufzubauen. Morgens vor der Schule und nachmittags nach dem Unterricht erhielt jeder Schüler Instrumentalunterricht; den Abschluss am Abend bildete jeweils eine Orchesterprobe.
Konnten die Schüler früher einige Märsche recht passabel spielen, so lernten sie unter der Hand ihres engagierten Lehrers, Noten zu lesen, vom Blatt zu spielen und sich gegenseitig zuzuhören. Mit seinem immer besser werdenden Orchester verwandelte sich die Gemeinde Morro Bay in ein «klingendes Dorf» (S. 29). Die vielen Konflikte zwischen den Menschen unterschiedlichster Herkunft legten sich. «Die Musik hielt uns zusammen, gab uns ein Gemeinschaftsgefühl, war ein Ort der Begegnung. Und sie gab uns ein gemeinsames Ziel: das nächste Konzert, an dem wir alle gemeinsam arbeiteten, um dem Publikum […] ein einmaliges Erlebnis zu bescheren.» (S. 37)
Wesen und Wirkung
der klassischen Musik
Für Kent Nagano ist die klassische Musik der rund letzten 1000 Jahre «ein Universum, das sich ausdehnt, sobald man sich hineinbegibt» (S. 11). In ihr liegen «unsere gesamte abendländische Tradition, die grosse Entwicklungsidee bis hin zur Moderne und der Kanon mit seinen Werken aus den unterschiedlichen Epochen. In ihr liegt nie versiegende menschliche Kreativität, durch die unaufhörlich Werke in dieser Kunst hervorgebracht werden.» (S. 11) In der Musik – wie in allen schönen Künsten – liegt eine Unendlichkeit; denn mit einem Kunstwerk wird man nie fertig, es ist nie ganz erschlossen, erfasst, verstanden.
Musizieren geht immer einher mit zwischenmenschlichen Begegnungen, mit einem Gemeinschaftserlebnis aller Beteiligten, so auch bei der klassischen Musik wie bei der Volksmusik. Jeder Beteiligte – auf dem Podest und im Auditorium – wird zutiefst berührt, stärkt seine soziale Kompetenz, seine Konzentrationsfähigkeit und seine Lebenstauglichkeit.
Nagano verweist in diesem Zusammenhang auf Friedrich Schiller und sein Wort von der «ästhetischen Erziehung des Menschen», denn die «Schönen Künste» seien «eine «notwendige Bedingung der Menschlichkeit» (S. 7).
Bewältigung menschlicher
Extremsituationen durch Musik
Es gibt viele Beispiele dafür, dass der Mensch – als Musizierender und als Zuhörer – unter der Einwirkung von Musik in der Lage ist, in Extremsituationen nicht den Mut zu verlieren und die Notlage durchzustehen. So stellt auch Nagano fest, dass oft ernste Musik oder eine andere künstlerische Betätigung eine wichtige Rolle spiele, «wenn wir mit schier unerträglichen Lebenslagen konfrontiert sind […] Warum haben Häftlinge in Hitlers Konzentrationslagern in ihren menschenunwürdigen Baracken gezeichnet, gesungen und, so sie denn die Möglichkeit hatten, musiziert?» (S. 126) Oder warum, so fragt er, gelang dem französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908–1992) im Jahr 1940 im deutschen Kriegsgefangenenlager das Meisterwerk Quatuor pour la fin du temps (Quartett für das Ende der Zeit), das er dort 1941 zusammen mit Kriegsgefangenen zur Uraufführung brachte (S. 39f.)?
Wir kennen noch andere Beispiele dieses Phänomens: Während der Leningrader Blockade (1941–1944) war die Bevölkerung – darunter 400 000 Kinder – den Angriffen der deutschen Luftwaffe, dem Hunger und extremer Kälte ausgesetzt. 1,1 Millionen Zivilpersonen fielen ihr zum Opfer, 90 % von ihnen verhungerten. Im Jahr 1942 wurde der Widerstandswille der Einwohner entscheidend dadurch gestärkt, dass die 7. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch – eigens zu diesem Zweck komponiert – durch Lautsprecher in der ganzen Stadt zu hören war. Selbst die deutschen Soldaten konnten sich der Wirkung dieser Musik nicht entziehen.
Beeindruckend ist auch das Beispiel der österreichischen Pianistin Alice Herz-Sommer (1903–2014) aus Prag, die im Ghetto von Theresienstadt Konzerte gab. Nicht zufällig wählte sie auch die 24 Etüden für Klavier von Frederic Chopin, denn sie bringen alle Grundmuster menschlichen Empfindens zum Ausdruck und gehören zu den bedeutendsten und virtuosesten Werken der Klavierliteratur. Sie stellen aussergewöhnlich hohe technische, psychische und physische Anforderungen an den Interpreten. Für Alice Herz-Sommer waren sie genau das Richtige, um mit der Verzweiflung angesichts der Deportation ihrer betagten Mutter ins Konzentrationslager zurechtzukommen. Die Bewältigung der künstlerischen Herausforderung gab ihr die Kraft, diese schwierige Phase ihres Lebens durchzustehen, und diese Kraft übertrug sich auf die Ghettobewohner.
Mit Musik
gegen eine sinnentleerte Gesellschaft
Die hochentwickelten Gesellschaften befänden sich in einer Sinnkrise, so Nagano. Das habe beispielsweise die Finanzkrise von 2008 mit der Folge der weltweiten Rezession gezeigt, die darauf zurückzuführen sei, dass der Mensch die Bodenhaftung verloren habe und dem Utilitarismus verfallen sei. Um gegen solche Entwicklungen gefeit zu sein, müsse der Mensch wieder nachdenklich, wertorientiert, diszipliniert und urteilsfähig in menschlicher und ethischer Hinsicht werden. Dazu habe er Gelegenheit bei der «Konfrontation mit den Künsten, mit Musik, Literatur, Philosophie, Malerei» (S. 87). Dieser Weg beginne am besten dann, wenn die Kinder noch am empfänglichsten sind: in der Grundschule, wo der Musikunterricht immer mehr vernachlässigt werde. Die Meisterwerke grosser Komponisten seien komplex, hätten viel Substanz und Tiefgang wie das Leben selbst und würden deshalb positive Haltungen und Werte vermitteln. Beethovens neun Sinfonien z.B. stünden für die Auseinandersetzung mit den grossen humanistischen Ideen.1 Entgegen einer weit verbreiteten Meinung sei klassische Musik nicht für gebildete Liebhaber geschaffen, sondern für alle.
Wenn die Jugend nicht zur Musik kommt, dann muss eben die Musik zur Jugend kommen, ist Naganos Wahlspruch. So kam er auf die Idee, die Musik unter die Menschen – egal welcher Herkunft und welchen Alters – zu bringen, wenn sie nicht von sich aus in den Konzertsaal und ins Opernhaus kommen: Er gründete in Montreal-Nord, wo materielle Armut und Bildungsferne herrschen, einen Musikkindergarten, den er regelmässig besucht, und führte im dortigen Eishockey-Stadion Beethovens berühmte 5. Sinfonie auf. Das Publikum – darunter die Eishockey-Spieler der Montreal Canadiens – dankte mit tosendem Applaus. Er besuchte die Inuit in der kanadischen Arktis, um deren Musik kennenzulernen und sie in gemeinsamen Auftritten mit der mitteleuropäischen klassischen Musik zu verschmelzen. In Hamburg und Berlin setzte er jugendliche Musiker und Sänger bei einer Opernproduktion ein. Am Potsdamer Platz veranstaltete er wiederholt mit jungen Leuten Open-air-Klassikkonzerte, was Akteure und Passanten gleichermassen begeisterte …
Die Ideen in Sachen Aufführungsorte, Musiker und Repertoire werden Kent Nagano nicht so schnell ausgehen. 2015 dirigierte er in der Zürcher Tonhalle das Hornroh Modern Alphorn Quartet mit einem zeitgenössischen Stück des österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas. Für bewegende Veranstaltungen, Spannung und Hörvergnügen wird er wohl weiterhin sorgen und damit seinen Beitrag leisten für die Humanisierung der Gesellschaft. •
1 Salathé, Nicole. Klassik gegen Krise: Stardirigent Kent Nagano verspricht Wunder. https://www.srf.ch/kultur/musik/musik-klassik-gegen-krise-stardirigent-kent-nagano-verspricht-wunder
Quellen:
Ehrhardt, Bettina. Kent Nagano – Montréal Symphony. Dokumentation 63, DVD. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2010
Franz, Nadja; Kloepfer, Inge. Der Traum des Kent Nagano. Film, NDR/Arte 2017
Freitag, Annette. «Vier Alphörner. Und Kent Nagano». https://www.journal21.ch/artikel/vier-alphoerner-und-kent-nagano
Müller, Melissa; Piechocki, Reinhard. Alice Herz-Sommer. «Ein Garten Eden inmitten der Hölle» Ein Jahrhundertleben. München: Droemer, ISBN 978-3-426-27389-0
Pogorzelski, Winfried. «Triumph der Kunst über die Barbarei, Zum Dokumentarfilm ‹Das Wunder von Leningrad› und zu seinem historischen Hintergrund». https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2019/nr-8-26-maerz-2019/triumph-der-kunst-ueber-die-barbarei
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