Zum Glück gibt es noch Bücher, die einladen, sich Gedanken zu einem bestimmten Thema zu machen. Eines davon ist ein Bilderbuch der Autorin Louise Spilsbury mit Illustrationen von Hanane Kai mit dem vielsagenden Titel «Wir sind füreinander da»1. Es beginnt mit: «Die meisten Menschen auf der Welt sind freundlich und fair. Sie behandeln andere mit Respekt und versuchen, immer das Richtige zu tun.» Man stutzt angesichts der heutigen Weltlage, doch eben – die Gedanken beginnen zu kreisen.
In Bild und Text kommt erfrischend und mit einer wohltuenden Selbstverständlichkeit die Rolle der Eltern (und Erziehenden im grösseren pädagogischen Umfeld) als anleitende Beziehungspersonen zum Ausdruck. Es geht um Regeln, die uns helfen, gute Entscheidungen zu treffen, als Grundlage eines würdigen Miteinanders. Was hier zum engeren persönlichen Umfeld jedes Menschen angesprochen ist, gilt auch für das Zusammenleben im grösseren gesellschaftlichen Kontext. Es lohnt sich, die zu diesem Kontext vorliegenden Forschungsergebnisse zu reflektieren.
Darf ich das überhaupt?
Ein Kind in die Welt einzuführen, ist eine grosse und anspruchsvolle Aufgabe. Das ist den meisten Eltern bewusst, und sie möchten auf keinen Fall Fehler machen. Oft relativieren sie aus einer selbstkritischen Gefühlslage heraus berechtigte Überlegungen, die bei Abmachungen und Regeln mit ihren Kindern leitend waren. Falsche (oder falsch verstandene) Theorien nehmen heute in den Medien und in der Ratgeberliteratur viel Raum ein und lassen interessierte Eltern mit ihren drängenden Fragen im Stich. Eine junge Mutter mit zwei herrlichen kleinen Mädchen äusserte kürzlich mir gegenüber: «Manchmal bin ich sehr unsicher. Wenn ich mit meinen Kleinen unseren Einkauf fürs Mittagessen mache und ihnen sage, dass wir die von ihnen gewünschten Süssigkeiten nicht kaufen, oder wenn ich bestimme, wann wir vom Spielplatz nach Hause gehen, dann werde ich seltsam angeschaut. Ist das ein Übergriff, wenn ich meinem Kind einen Wunsch versage? Darf ich mich überhaupt in Gegensatz zu den Wünschen meiner Kinder stellen?»
Gemeinsame Werte als Grundlage
Unser Zusammenleben beruht wesentlich auf einem Wertekonsens, der das Fundament der Gesellschaft bildet. Werte sind emotional verankerte Einstellungenund Grundlage einer verantwortungsbewussten Lebensführung. Den Grundstein für ein solches Wertebewusstsein legen wir im täglichen Zusammenleben mit unseren Kindern und Jugendlichen, indem wir ihnen vorleben, was uns Werte bedeuten und wie wir unser Handeln danach ausrichten. Sie wurden über lange Zeiträume – eingebettet in die christlich-abendländische Kultur – in den Regeln und Gesetzen des eigenen Landes und in den ethischen Haltungen der Familie und dem Umfeld verankert. Aufbauend auf einer naturrechtlich-personalen Tradition bildeten sie als Wertekonsens das Fundament unserer Gesellschaft und spiegeln sich heute noch in unserer Kultur und unseren nationalen und internationalen Rechtssystemen. Dazu gehören Gerechtigkeitssinn, Friedfertigkeit, Besonnenheit, Mut, Redlichkeit, Achtung vor den Mitmenschen, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe.Das gab vor allem früheren Elterngenerationen eine innere Orientierung für ihre Erziehungsaufgabe – unentbehrlich, wenn die heranwachsende Generation sich für ein gleichwertiges, friedvolles Zusammenleben einsetzen soll und sich dagegen verwehrt, sich und die Mitmenschen für Kriege oder als Werkzeug für übergeordnete ökonomische Ziele instrumentalisieren zu lassen. Ein Blick in die Welt zeigt, wie drängend das ist. Leider sind solche Werte heute nicht mehr selbstverständlich, denn dieses ethische Fundament unserer Gesellschaft wird seit längerem von verschiedenen Seiten in Frage gestellt.
Ein Wertebruch mit Folgen
Um diese Entwicklung zu verstehen, braucht es wie so oft den Blick in die Geschichte. In unserem Zusammenhang ist die 68er Bewegung wichtig, weil durch sie ein deutlicher Bruch unserer Wertvorstellungen erfolgte. Zu Recht wurden damals auf einem falschen Menschenbild beruhende demütigende oder von verbaler oder körperlicher Gewalt geprägte autoritäre Erziehungspraktiken kritisiert. Man meinte, das Kind zum Guten zwingen zu müssen. So verloren diese aber ihr Vertrauen in ihre Mitmenschen, fühlten sich in Feindesland und konnten kein Selbstvertrauen und keine echte Verbundenheit mit ihren Mitmenschen entwickeln. Die von der 68er Bewegung propagierte antipädagogische Gegenreaktion verurteilte Erziehung grundsätzlich als «Verbrechen am Kind». Sie schob es dem Kind zu, seinen Weg in die Welt alleine zu finden. Das war eine Verweigerung erzieherischer Verantwortung und widersprach mit der Negierung bisheriger gesellschaftlicher Wertegrundlagen jedem pädagogischen Ethos. Denn pädagogisch begründete Autorität ist frei von Willkür und Gewalt und achtet die menschliche Würde.Die wohlwollende Anleitung zu einer würdigen Beziehungsgestaltung hilft dem Kind, eine innere Wertordnung und Lebensorientierung zu finden, und der Weg wird frei zur Entwicklung einer eigenständigen, beziehungsfähigen und verantwortungsbereiten Persönlichkeit. Ohne das laufen Kinder Gefahr, der Fiktion des schnellen Erfolgs nachzulaufen und dabei die Mitmenschen für eigennützige Ziele einzuspannen.
Das menschliche Miteinander
erodieren lassen
Diese gesellschaftliche Entwicklung riss in vielen Familien – und nicht nur da – einen Graben zwischen den Generationen auf. Sie verband sich mit neoliberalen Strategien gesellschaftlicher Veränderung. Ein schleichender Prozess des Wertezerfalls und Werterelativismus in unseren westlichen Gesellschaftssystemen wurde eingeleitet, durch den das menschliche Miteinander erodiert. Ständig zunehmend soll das Zusammenleben der Völker ökonomischen Zielsetzungen unterworfen werden. Diese Ideologien und Strategien wirken sich auch auf die Erziehungstheorien unserer heutigen Zeit aus. Die Tradierung grundlegender menschlicher und demokratischer Werthaltungen ist brüchig geworden und verunsichert viele Eltern in ihrer erzieherischen Haltung. Als Folge dieser Entwicklungen leben wir zunehmend in einer Gesellschaft, in der die Menschen vereinzelt sind und die Beziehungen untereinander verkümmern. Unsere Jugend ist davon besonders betroffen. Viele Kinder sind weder in der Familie noch in der Schule noch im weiteren gesellschaftlichen Umfeld beziehungsmässig eingebettet und gehalten. Sie fühlen sich oft leer und nicht gebraucht. Innere Langeweile bestimmt ihr Leben; es fehlt ihnen an Lebenssinn. Dabei würde die menschliche Natur eine andere Entwicklung begünstigen und erfordern. Diese Beziehungslosigkeit und die daraus erwachsenden persönlichen Probleme sind exakt der Nährboden für die Ausbreitung von Gewalt, entsteht sie doch vor allem dort, wo Gemeinschaften und zwischenmenschliche Beziehungen zerfallen. Es wächst eine geschichtslose und entwurzelte Generation heran, der jede Einsicht in wesentliche Lebenszusammenhänge fremd ist und die gegen die Selbstverständlichkeiten des Lebens rebelliert, ein übersteigertes Gefühl der eigenen Bedeutung entwickelt und anfällig ist für Verführung und politischen Totalitarismus jeder Art als kurzschlüssigen, asozialen Lösungsversuch eines Missbehagens. Dieses äussert sich nicht selten in einem tiefsitzenden Groll gegen die Menschen, einem Hader mit dem Von-allen-im-Stich-gelassen-Sein, welcher den Boden für viele Gewaltphantasien bildet, die die heutige Unterhaltungsindustrie nur allzu oft anbietet.
Der Mensch, ein ultrasoziales Wesen
Um das zu vermeiden und um zu verstehen, was Kinder von uns Erwachsenen brauchen, könnten wir heute auf viele sorgfältig erbrachte Befunde der Entwicklungspsychologie, speziell der Bindungsforschung zurückgreifen. Sie bestätigen die Errungenschaften vorangegangenerhumanwissenschaftlicher Forschung: Der Mensch ist ein ultrasoziales Wesen und kann nur überleben und sein Leben würdig ausgestalten in Kooperation mit seinen Mitmenschen. Bereits bei Geburt sind Kinder dafür prädestiniert. Zwar ist das Neugeborene eine «biologische Frühgeburt», wie der Schweizer Biologe und Anthropologe Adolf Portmann es umschrieb, und würde ohne liebende Pflege nicht überleben. Aber schon das Neugeborene bringt einiges mit auf die Welt, um von sich aus Kontakt mit seiner Mutter aufzunehmen und zu erwidern. So sind seine Sinnesorgane schon so weit entwickelt, dass der Säugling im sogenannten «Dialogabstand» das Gesicht seiner Mutter beim Stillen oder Füttern scharf sehen kann, genauso wie es deren Stimme und Geruch erkennt und mit seinen überdurchschnittlich häufigen Hautrezeptoren auf Lippen und Zunge fürs Saugen und Schlucken vorbereitet ist (und dabei sein Feinwerkzeug für die spätere Sprachmotorik formt). Im Laufe seiner frühesten Entwicklung sucht es spontan den Kontakt mit seinen Eltern und ihre emotionale Zuwendung und Bejahung und beginnt, sich an ihnen zu orientieren. Schon beim drei Monate alten Säugling ist ein Gefühl des «wir» zu beobachten. Mit neun Monaten machen Kinder typischerweise einen grossen Entwicklungsschritt – der Evolutionsanthropologe Michael Tomasello spricht von der «Neun- Monats-Revolution» – und richten ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Person oder einen anderen Gegenstand aus. Daraus entsteht im Alter von neun bis zwölf Monaten das Phänomen der «geteilten Aufmerksamkeit». Kinder machen zum Beispiel durch Zeigen (als Vorform von Sprache) ihre Eltern auf Gegenstände aufmerksam, weil sie deren Handlungsziel erkannt haben. In dieser urmenschlichenAnlage ist zugleich die Möglichkeit begründet, eine von Kooperationsfähigkeit, Mitgefühl und sozialer Verantwortung getragene Lebenshaltung zu entwickeln, bei welcher der Einzelne die Aufgaben des Lebens zum eigenen und zum Wohle anderer zu lösen weiss.
Zu Mitmenschlichkeit
und Kooperation erziehen
Auch die Erziehungsstilforschung gibt heutigen Eltern glücklicherweise wissenschaftlich fundierte Forschungsresultate an die Hand. Zum Beispiel leistete die vor wenigen Jahren verstorbene amerikanische Entwicklungspsychologin Diana Baumrind einen bedeutsamen Beitrag zur Frage eines geeigneten Erziehungsstils und ergänzte und bestätigte, was Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gefordert hatte. Sie kam zum Schluss, dass Kinder mit einem autoritativen – nicht zu verwechseln mit dem autoritären – Erziehungsstil am besten für eine gelingende Lebensgestaltung vorbereitet werden und Mitmenschlichkeit und Kooperationsfähigkeit entwickeln.
Wertschätzend, warmherzig die
Aktivität und Unabhängigkeit fördern
Baumrind hielt zwei wichtige Faktoren für die Erziehenden fest: Zum einen sollten sie altersgemässe Forderungen an ihre Kinder stellen und auf diese Weise ihre Aktivität und Unabhängigkeitsstreben fördern, sie jedoch im Auge haben und ihnen, wenn nötig, korrigierend beistehen, jedoch auf Machtdemonstration und Zwang verzichten. Indem sie ihre Werthaltungen vorleben, sind sie auch ein Modell, mit dem die Kinder sich identifizieren können. Sie ermutigen sie, ihre Meinung zu äussern, und bieten ihnen Reibungsfläche bei unterschiedlichen Vorstellungen, so dass die Heranwachsenden ihre Werthaltungen klären und als gefühlsmässige Erfahrung in ihre Lebensorientierung integrieren können. Gleichzeitig sind solche Eltern auch fürsorglich, warmherzig, wertschätzend, feinfühlig und unterstützend und gehen im Gespräch geistig anregend auf die Kinder ein.
Zugegeben, diese Anforderungen an die Erziehenden sind hoch und fordern sie in ihrer Persönlichkeit. Doch die Kinder mit dieser inneren Haltung in die Welt einzuführen, lohnt sich. Die Untersuchungen von Diana Baumrind zeigen, dass autoritativ erzogene Kinder schon im Vorschulalter hilfsbereit und kooperativ sind und fähig sind, Konflikte sowohl gerecht als auch mitfühlend zu lösen, und sich auch gegen Ungerechtigkeiten wehren. Als Jugendliche neigen solche Kinder weniger zu Risikoverhalten wie Drogenkonsum und Delinquenz, sind leistungsbereiter und prosozialer eingestellt und übernehmen gerne altersgemässe Aufgaben im gesellschaftlichen Zusammenleben.
Nicht nur für Kinder
Dieses Wissen steht uns also zur Verfügung, wenn wir unsere Kinder und Jugendlichen stark machen wollen und ihnen jene Werte vermitteln, welche ihre Entwicklung zu einer beziehungsfähigen Persönlichkeit möglich macht. Dieses Wissen um den Menschen muss Allgemeingut werden. Es gibt uns darüber hinaus auch Hinweise für eine Analyse aktueller Probleme, nicht nur bei der Erziehung unserer Heranwachsenden. Wenn wir betroffen sind von den Ereignissen, die heute unsere Welt erschüttern, so stellt sich uns zwingend die Frage nach der Wertorientierung von Politikern und Verantwortungsträgern, die das ihnen geschenkte Vertrauen missbrauchen, Unrechtssysteme unterstützen und die Welt in Krieg und Elend stürzen. Fehlgeleitet durch Ideologien und Machtgier nutzen sie ihre Position für den eigenen Vorteil ohne Rücksicht oder Empfinden für das, was sie anrichten. Sie sollten den Mut haben, ehrlich hinzuschauen, was sie anrichten, und sich die Frage nach den eigenen Werten stellen. •
1 Spilsbury, Louise; Kai, Hanane. Wir sind füreinander da. Gabriel-Verlag 2021
Zum Weiterlesen und Weiterdenken:
Buchholz, Annemarie. «Der Beitrag von Psychologie und Pädagogik zur naturrechtlichen Auffassung vom Menschen». In: Mut zur Ethik: Schutz der Familie und der heranwachsenden Jugend. II. Kongress 1994, S. 811–815
Buchholz, Annemarie. «Personale Psychologie – Der Beitrag von Psychologie und Pädagogik zur Menschenwürde». In: Mut zur Ethik: Die Würde des Menschen. V. Kongress 1997, S. 82–89
Burger, Alfred; Perret, Eliane. Jugend und Gewalt.Unsere Kinder und Jugendlichen brauchen Erziehung. Verlag Zeit-Fragen 2011
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