Nach 75 Jahren: Deutschlands Politik hat sich weit vom Grundgesetz entfernt

von Karl-Jürgen Müller

Im Mai diesen Jahres werden das deutsche Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt. Der Wortlaut des Grundgesetzes könnte mit seinen Kernpunkten so etwas wie «Verfassungspatriotismus»1 (Dolf Sternberger) begründen. Zu diesen Kernpunkten gehören die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die für unantastbar erklärte Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern sie auch zu schützen (Artikel 1); das Bekenntnis zu den als Grundrechte formulierten «unverletzlichen und unveräusserlichen Menschenrechten» und zur Uneinschränkbarkeit dieser Grundrechte in ihrem Wesensgehalt (Artikel 2 – Artikel 19); das Bekenntnis zur Demokratie, zum Bundesstaat, zum Rechtsstaat, zum Sozialstaat und zur Gewaltenteilung (Artikel 20).
  Zentral ist auch das Friedensgebot. Dieses Gebot ist die Konsequenz aus erlittener Diktatur und mörderischem Zweiten Weltkrieg. Abkehr von Friedenspolitik bedeutet in der Regel auch Entrechtung der Bürger des eigenen Landes. Vom Verfassungsgebot der Verpflichtung zum Frieden zeugen unter anderem die heutige Präambel des Grundgesetzes («dem Frieden der Welt zu dienen»), die Verpflichtung aller Bewohner des Landes auf die «allgemeinen Regeln des Völkerrechts» (Artikel 25) und Artikel 26, Absatz 1 mit seiner Formulierung: «Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.»

Buchstabe der Verfassung
 allein ist keine Garantie

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten aber auch, dass der Buchstabe der Verfassung allein keine Garantie für eine demgemässe Verfassungswirklichkeit bietet. Das hatte die Erfahrung mit der deutschen Geschichte seit 1930 gezeigt – Jahre, in denen die demokratische, rechtsstaatliche und freiheitliche Substanz der Weimarer Reichsverfassung von der Politik immer mehr ausgehöhlt und nach dem 30. Januar 1933 dann mit schnellen Schritten vollkommen zerstört worden war.
  Die Verfassungsgeber suchten nach Hilfsmitteln. Eines war das Konzept der «wehrhaften Demokratie», zum Beispiel in Form der Möglichkeit, politische Parteien durch das Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen, wenn sie «nach ihren Zielen oder nach ihrem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden» (Artikel 21, Absatz 2). Ein anderes war die sogenannte Ewigkeitsklausel des Artikel 79, Absatz 3: die Unveränderbarkeit der Grundsätze aus den Artikeln 1 und 20.
  Im Zuge der Auseinandersetzung mit den von der damaligen Regierung geplanten Notstandsgesetzen wurde in den sechziger Jahren erneut heftig darüber diskutiert, inwieweit die Gefährdung der Verfassungsordnung auch vom Staat und seinen Amtsträgern selbst ausgehen kann. Die Konsequenz war, dass das Grundgesetz 1968 um das Widerstandsrecht in Absatz 4 des Artikels 20 ergänzt wurde: «Gegen jeden, der es unternimmt, diese [Verfassungs-]Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.»

Die Bedeutung von Ethik und Moral

Oft wird indes übersehen, was der frühere Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde 1964 das erste Mal formuliert hatte: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Böckenförde meinte damit, dass der moderne, säkulare Verfassungsstaat die unabdingbare Voraussetzung seines Aufbaus und Bestandes, nämlich eine entsprechende grundlegende ethische, moralische Haltung seiner Bürger – auch seiner Politiker –, nicht selbst erzeugen und schon gar nicht erzwingen kann, sondern eben voraussetzt – und anderen Institutionen überlassen muss. Hier sind vor allem die Familien, sind Erziehung und Bildung, sind die Schulen, ist kulturelle Substanz und Tradierung dieser Substanz gefragt.

Wo steht Deutschland heute?

In den vergangenen Jahren hat sich Deutschlands reale Politik weit von der im Grundgesetz formulierten Verfassungsordnung entfernt – und auch sehr aktiv davon, dass andere Institutionen die notwendigen ethischen, moralischen Voraussetzungen für diese Verfassungsordnung sichern bzw. immer wieder neu schaffen können. Die Liste der Belege dafür ist sehr lang geworden und wird fast täglich länger. Die deutsche Politik und die von ihr missbrauchten Staatsorgane haben Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung schwerwiegend ausgehöhlt, Grundrechte über den Verfassungstext hinausgehend eingeschränkt, die Menschenwürde nur noch bedingt geachtet und geschützt. Die Familie als «die natürliche Kernzelle der Gesellschaft» (Artikel 23 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte) wurde zahlreichen Infragestellungen ausgesetzt, und Erziehung und Bildung sowie die Tradierung kultureller Substanz liegen sehr im argen.2
  Und das Amt, das vom Namen her für den Schutz der Verfassung zuständig wäre, nämlich das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz (und auch seine Landesämter), ist seit ein paar Jahren kräftig bemüht, begründete Kritik an dieser Entwicklung auch noch an den Pranger zu stellen. Seit zwei Jahren mit der gezielten Konstruktion eines Begriffes ohne Verfassungsgrundlage: der sogenannten «verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates». Der deutsche Staatsrechtslehrer Rupert Scholz spricht von einem «Anti-Meinungs-Terror», von einem Verfassungsschutzpräsidenten, der die Verfassung verletzt, von einer deutschen «Politik, die fast nur noch nach ideologischen Massstäben gemacht wird, nicht mehr nach Grundwerten».3

Was tun?

Viele Bürger in Deutschland widersprechen öffentlich, leisten einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen offen Opposition. Zu beobachten ist aber auch: Die freiheitsfeindlichen Tendenzen nehmen zu. Mangelnder Friedenswille und Entrechtung der Bürger gehen einher mit öffentlichen Diffamierungskampagnen; mit einem von faktisch gleichgeschalteten Mainstream-Medien erzeugten und mit Lügen gespickten Feindbild; mit aggressiv-autoritärer Verächtlichmachung; mit dem Missbrauch der Sprache («Selbstbestimmungsgesetz», «Demokratiefördergesetz» usw.); mit sozialer Ausgrenzung; und auch mit staatlichen Zwangsmassnahmen. Was vor allem gestört und verhindert werden soll: eigenständiges Denken, das freie Wort, echtes Mitgefühl und wirkliche Gemeinschaftsbildung.
  Hochachtung vor denjenigen, die sich davon nicht einschüchtern lassen. Und dass sich entschlossener Widerspruch auch lohnen kann, zeigt das erzielte aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsäusserungsfreiheit. Aber niemand kann jetzt schon sagen, wie weit Politik und Staat zu gehen bereit sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass mit der Zunahme der «Delegitimierung des Staates» die Daumenschrauben fester angezogen werden und dass das Propagandakarussell beschleunigt wird, ist sehr gross. Alles wird getan, um die deutsche Gesellschaft auch innerhalb der Bürgerschaft tiefer zu spalten – so dass die einen auf die anderen gehetzt werden können.

Langfristig aufbauend wirken

Nach dem 30. Januar 1933 haben viele Deutsche das Land verlassen – verlassen müssen, weil sie an Leib und Leben gefährdet waren. Oder sie haben den Weg der inneren Emigration gewählt. So weit sind wir im heutigen Deutschland nicht. Trotzdem kann man sich als Deutscher im Ausland fast schon fühlen wie im Exil.
  Die deutschen Exilanten nach dem 30. Januar 1933 haben mit ihrem Exil ganz verschiedene Wege eingeschlagen. Einige sind verzweifelt, haben sich in einem anderen Land nicht neu beheimaten, haben die deutsche Tragödie nicht ertragen können. Manche haben sich sogar das Leben genommen. Andere haben aus dem Exil heraus öffentlich Position bezogen. Berühmt geworden sind die Radiosendungen von Thomas Mann, «Deutsche Hörer!», die die britische BBC in den Jahren 1940–1945 ausstrahlte und die – trotz sehr hohen Risikos – von vielen Deutschen gehört wurden und die mit dazu beitrugen, einen geistigen Boden für die Zeit danach zu legen. Wieder andere arbeiteten intensiv an konkreten Konzepten für die politische, wirtschaftliche und soziale Zukunft Deutschlands nach dem Ende von Diktatur und Krieg. Einer von ihnen war der zuerst in die Türkei und dann in die Schweiz geflohene deutsche Ökonom und Sozialphilosoph Wilhelm Röpke mit seinen grundlegenden Arbeiten zur sozialen Marktwirtschaft.
  Nach dem Krieg haben vor allem diejenigen Exilanten und inneren Emigranten aufbauend wirken können, die unterscheiden konnten zwischen dem Volk und der Politik der Mächtigen, die jegliche Kollektivschuld verneinten und die den Deutschen ohne Überheblichkeit begegneten.
  Wie auch immer man seinen eigenen Status sehen mag und wo auch immer man sein Leben gestaltet: Nicht hadern und nicht verzweifeln, sondern an der Zukunft des Landes arbeiten, ist wohl der beste Weg, Deutschland zu unterstützen. Rupert Scholz sagt am Ende des Interviews in der Weltwoche4: «Ja. Ich bin letztlich ein Optimist, was Deutschland angeht.» Wichtig aber auch sein letzter Satz: «Es wird Zeit, es wird viel Zeit brauchen.»  •



1 vgl.Zeit-Fragen, Nr. 18 vom 22.8.2023
2 Solche Beobachtungen machen auch Persönlichkeiten, die sonst zum Mainstream gehören bzw. noch im Mainstream publizieren können. Zwei aktuelle Beispiel dafür sind ein Interview mit Birgit Kelle über die deutschen Pläne zur Legalisierung der Leihmutterschaft und das gesellschaftspolitische Umfeld dieser Pläne (https://www.nzz.ch/feuilleton/leihmutterschaft-wird-angesichts-von-paris-hilton-oder-kim-kardashian-glamouroes-vermittelt-ld.1824887 vom 11.4.2024) sowie ein Interview mit dem Staatsrechtslehrer und ehemaligen deutschen Verteidigungsminister Rupert Scholz in der Weltwoche vom 18.4.2024 (https://weltwoche.ch/story/brandmauern-haben-in-einer-demokratie-nichts-zu-suchen/)
3 ebenda
4 ebenda

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK