«UNRWA ist für die Palästina-Flüchtlinge in der Region ein Rettungsanker» (António Guterres)

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Der Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge UNRWA, der Schweizer Philippe Lazzarini, hat am 17. April 2024 vor dem Uno-Sicherheitsrat eine Rede gehalten, die keinen Mitmenschen unberührt lassen kann. Er schildert das unvorstellbare Leiden der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen unter der gnadenlosen Belagerung durch die israelische Armee. Er deckt die «heimtückische Kampagne» gegen die UNRWA auf, «die darauf abzielt, [sie] aus den Besetzten Palästinensischen Gebieten zu vertreiben». Er fordert die Uno-Mitgliedsstaaten auf, die Arbeit der UNRWA weiterhin politisch und finanziell zu unterstützen. Und er erinnert daran, dass das 1949 von den Vereinten Nationen beschlossene vorübergehende Mandat der UNRWA so lange unverzichtbar ist, bis «die internationale Gemeinschaft sich wirklich für eine politische Lösung [des Palästinakonflikts] einsetzt».1
  Der Bundesrat und einige unserer Parlamentarier laufen zurzeit Gefahr, sich von der «heimtückischen Kampagne» gegen die UNRWA beeindrucken zu lassen. Es sei ihnen empfohlen, Philippe Lazzarinis Aufruf und den folgenden Expertenbericht mit dem nötigen Respekt zur Kenntnis zu nehmen.

Unabhängiger Expertenbericht
 bestätigt bestmögliche Einhaltung
 neutraler Grundsätze durch UNRWA

Am 22. April 2024 hat die «Unabhängige Überprüfungsgruppe für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA)» ihren Abschlussbericht vorgelegt, der die Vorwürfe der israelischen Regierung, die UNRWA sei mit der Hamas eng verbunden, entkräftet hat.2 Die Vorsitzende des Gremiums, die ehemalige französische Aussenministerin Catherine Colonna, erklärte in New York, die UNRWA verfüge über ein «besser entwickeltes System als andere UN-Organisationen […], um die Einhaltung des humanitären Grundsatzes der Neutralität zu gewährleisten.» Sie fügte hinzu: «Ich möchte die internationale Gemeinschaft erneut nachdrücklich ermutigen, dem Hilfswerk zur Seite zu stehen, damit es seinen Auftrag erfüllen und die Herausforderungen meistern kann, wenn sie denn da sind.»3 Für die angebliche Beteiligung von UNRWA-Mitarbeitern am Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 habe Israel bisher keine Beweise vorgelegt.
  Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, «akzeptiert die in Frau Colonnas Bericht enthaltenen Empfehlungen […]. Für die Zukunft appelliert der Generalsekretär an alle Beteiligten, die UNRWA aktiv zu unterstützen, da sie für die Palästina-Flüchtlinge in der Region ein Rettungsanker ist.»4

Bundesrat verschiebt Entscheid
 über Schweizer Beiträge an UNRWA

Der Bundesrat hatte nach den genannten Vorwürfen gegen die UNRWA die für 2024 vorgesehenen Beiträge der Schweiz noch nicht überwiesen. Am 24. April 2024 teilte er nun mit: «Über die Auszahlung an die UNRWA wird der Bundesrat zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden. Er hat davon Kenntnis genommen, dass am 22. April der Bericht zur externen Überprüfung der UNRWA unter der Leitung der ehemaligen französischen Aussenministerin Catherine Colonna publiziert wurde. Der Bundesrat wird diesen nun im Detail studieren. Einen Entscheid zur UNRWA wird er anschliessend auf der Grundlage einer Gesamtbeurteilung fällen.»5 Es ist zu hoffen, dass der Bundesrat damit nicht allzu lange wartet – die notleidenden Menschen brauchen unsere Hilfe jetzt!

Versagen der Schweiz
 im Uno-Sicherheitsrat

Der langjährige Schweizer Diplomat Paul Widmer warnte schon vor langem vor einem Beitritt der Schweiz zum Uno-Sicherheitsrat: «Der Sicherheitsrat aber ist ein Führungsorgan. Wenn er seine Aufgabe ernst nimmt, muss er in Konflikten Partei ergreifen. Das aber ist das Gegenteil von dem, was einem neutralen Staat auferlegt ist. Dieser muss sich aus militärischen Konflikten heraushalten. Er bezieht für keine Partei Stellung. Deshalb gehört die Schweiz nicht in den Sicherheitsrat.»6
  Diese Weitsicht eines neutral gesinnten Schweizers bestätigte sich vor kurzem. Am 18. April 2024 stimmten 12 von 15 Mitgliedern des Sicherheitsrates dem Antrag Palästinas auf eine Uno-Vollmitgliedschaft zu. Die Schweiz war nicht dabei. Vielmehr enthielt sie sich, neben Grossbritannien, der Stimme. Damit unterstützte sie implizit das Veto der USA, die den Antrag zu Fall brachte und so verhinderte, dass die Uno-Generalversammlung über die Aufnahme Palästinas entscheiden kann. In letzterem, demokratisch organisierten Gremium (jedes Land hat eine Stimme) wäre dem gepeinigten und in seinem Lebensrecht missachteten Volk eine überwältigende Zustimmung sicher gewesen. Denn laut der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (lpb) erkennen heute 138 der 193 Uno-Mitgliedsstaaten den Staat Palästina an. «Deutschland und weitere EU-Staaten allerdings nicht» so lpb. «Sie pflegen jedoch diplomatische Beziehungen zu Palästinenser-Vertretern.»7 Auch hier hält sich die Schweiz an die EU/US-Vorgaben – würde es ihr nicht besser stehen, sich zur Mehrheit der Völker zu gesellen?

Hanebüchene «Begründung»
 für die Stimmenthaltung des Bundesrates

«Die Schweiz ist der Ansicht, dass es besser wäre, die Aufnahme Palästinas als Uno-Vollmitglied zu einem Zeitpunkt zu vollziehen, an dem ein solcher Schritt in die Logik eines sich abzeichnenden Friedens passen wird.»8 Die Pflicht und Schuldigkeit der Schweiz als Hüterin der Genfer Konventionen und einstmals neutrale Vermittlerin wäre es allerdings, nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag auf einen «sich abzeichnenden Frieden» zu warten, sondern sofort etwas dafür zu tun.  •



1 Erklärung des Generalkommissars der UNRWA vor dem Uno-Sicherheitsrat in New York vom 17.4.2024. https://www.unrwa.org/newsroom/official-statements/independent-review-unrwa-adherence-humanitarian-principle-neutrality
2 https://www.unrwa.org/resources/reports/independent-review-mechanisms-and-procedures-ensure-adherence-unrwa-humanitarian#block-menu-block-10
3 https://media.un.org/unifeed/en/asset/d319/d3199621
4 https://www.unrwa.org/newsroom/official-statements/statement-attributable-spokesperson-secretary-general
5 Medienmitteilung des Bundesrates vom 24.4.2024
6 Widmer, Paul. «Die Schweiz gehört nicht in den Uno-Sicherheitsrat». In: Neue Zürcher Zeitung vom 1.7.2015
7 https://www.lpb-bw.de/geschichte-palaestinas#c22309
8 Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA. «Antrag auf Vollmitgliedschaft Palästinas in den Vereinten Nationen». Medienmitteilung vom 18.4.2024

Erklärung des Generalkommissars der UNRWA vor dem Uno-Sicherheitsrat vom 17. April 2024 (Auszüge)

«Das Mandat der UNRWA wird von einer überwältigenden Mehrheit der Mitgliedsstaaten unterstützt. Dennoch steht das Hilfswerk unter enormem Druck. Es ist mit einer Kampagne konfrontiert, die darauf abzielt, es aus den Besetzten Palästinensischen Gebieten zu vertreiben. In Gaza versucht die israelische Regierung, die Aktivitäten der UNRWA zu beenden. […] Seit Beginn des Krieges werden Gebäude und Mitarbeiter des UNRWA angegriffen. 178 UNRWA-Mitarbeiter wurden getötet. Mehr als 160 UNWRA-Gebäude, die zumeist als Notunterkünfte genutzt werden, wurden beschädigt oder zerstört, wobei mehr als 400 Menschen ums Leben kamen. […]
  Wir fordern eine unabhängige Untersuchung und eine Rechenschaftspflicht für die eklatante Missachtung des Schutzstatus von humanitären Helfern, Operationen und Einrichtungen nach internationalem Recht. Alles andere wäre ein gefährlicher Präzedenzfall und würde die humanitäre Arbeit auf der ganzen Welt gefährden. […]
  Lassen Sie mich mit drei Appellen schliessen:
  Erstens fordere ich die Ratsmitglieder auf, im Einklang mit der Resolution 302 der Generalversammlung zu handeln und die entscheidende Rolle der UNRWA sowohl jetzt als auch im Rahmen eines Übergangs zu sichern. Die UNRWA ist seit langem ein Wächter über die Rechte der Palästina-Flüchtlinge. Sie kann ihre zentrale Rolle bei der Bereitstellung wichtiger Dienstleistungen und dem Schutz der Menschenrechte nur dann aufgeben, wenn eine politische Lösung realisiert wird. Bis dahin muss die politische Unterstützung der Mitgliedsstaaten durch finanzielle Mittel ergänzt werden.
  Zweitens fordere ich Sie auf, sich für einen echten politischen Prozess einzusetzen, der zu einer Lösung führt, die Palästinensern und Israeli Frieden bringen kann. […]
  Drittens müssen wir anerkennen, dass ein politischer Prozess allein keinen nachhaltigen Frieden garantieren wird. Die tiefen Wunden in dieser Region können nicht geheilt werden, ohne Empathie zu entwickeln und die Entmenschlichung zurückzuweisen, die in der politischen Rhetorik oder beim Missbrauch neuer Technologien in der Kriegsführung um sich greift.»

Quelle: https://www.unrwa.org/newsroom/official-statements/independent-review-unrwa-adherence-humanitarian-principle-neutrality
 (Übersetzung Zeit-Fragen)

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