von Guy Mettan, freier Journalist*
Wie konnten sie uns das antun? Warum will Kiew uns zerstören? Das sind die Fragen, die sich die Bewohner des Donbass seit zehn Jahren stellen. Aus der Schweiz oder aus Frankreich betrachtet, mögen sie unpassend erscheinen, so sehr sind wir an die Vorstellung gewöhnt, dass nur die Ukrainer unter dem Krieg leiden würden. Wir wollen nicht wissen, dass der Kampf seit zehn Jahren andauert und in erster Linie die Zivilbevölkerung im Donbass betroffen hat.
Eine Woche lang konnte ich die beiden Provinzen in alle Richtungen bereisen, zerstörte und im Wiederaufbau befindliche Städte besuchen, Flüchtlinge treffen und mit den Menschen sprechen. Ich zweifle nicht daran, dass dieser Bericht bei vielen Menschen Anstoss erregen wird, die daran gewöhnt sind, die Welt in Schwarz-Weiss zu sehen. Denen werde ich antworten, was John Steinbeck und Robert Capa ihren Kritikern entgegenhielten, als sie 1947, zu Beginn des Kalten Krieges, Stalins Russland besuchten: Ich begnüge mich damit, Zeugnis abzulegen, zu berichten, was ich auf der anderen Seite der Front gesehen und gehört habe. Jeder soll sich dann seine eigene Meinung bilden. Meine ist, dass Russland und die Menschen im Donbass ihren Kampf niemals beenden werden, bevor sie ihn nicht gewonnen haben.
Eine überraschende Gelegenheit
Alles begann auf sehr russische Weise, durch eine unwahrscheinliche Verkettung von Umständen. Vor neun Jahren hatte ich in Duschanbe einen tadschikischen Unternehmer aus Moskau getroffen, der seine Tochter verheiratete. Er sprach kein Wort Englisch und hatte, ohne auf mein miserables Russisch Rücksicht zu nehmen, unsere gesamte Delegation zur Hochzeit eingeladen. Ich hielt eine kleine Ansprache zu Ehren der Braut und ihrer Eltern. Seitdem ist Umar Ikromowitsch ein Freund fürs Leben geworden, weder die Entfernung noch die sprachliche Kluft können uns trennen. Ein- oder zweimal im Jahr, an wichtigen Feiertagen, schickt er mir Telegramm-Nachrichten. Im Februar überraschte er mich mit dem Vorschlag, mich ihm anzuschliessen und seine Arbeit im Donbass zu besuchen, wo er noch nie zuvor gewesen war. Umar beschäftigt nämlich einige hundert Arbeiter in der Region Moskau und einige Dutzend beim Wiederaufbau des Donbass.
Am 3. April um drei Uhr morgens erwartete er mich mit Nikita, einem Freund von ihm aus dem Verteidigungsministerium, am Ausgang des Moskauer Flughafens Wnukowo, um mich in den Donbass mitzunehmen. Nikita hatte das Programm vorbereitet und die erforderlichen Genehmigungen sowie einen erfahrenen Fahrer, Volodja, bereitgestellt. Zehn Stunden am Stück, mit einer kurzen Kaffeepause an einer neu eröffneten Tankstelle, rasten wir die 1060 Kilometer lange «Prigoschin»-Autobahn von Moskau nach Rostow am Don hinunter, genau die Autobahn, die der verstorbene Wagner-Chef im Juli letzten Jahres mit seinen Panzern hatte hochfahren wollen.
Nichts ist einfacher als eine russische Autobahn. Sie verläuft immer geradeaus, bis Rostow gibt es keine einzige Kurve. Und da diese, abgesehen von fünfzig Kilometern Baustelle kurz vor Rostow, tadellos ist, verlief die Fahrt schnell und schmerzlos, so dass wir in wenigen Stunden vom letzten Schnee in Moskau zum milden Frühling am Asowschen Meer gelangen konnten. Unterwegs Flotten von Lastwagen, einige Militärkonvois, aber letztendlich recht wenig Verkehr.
Rostow – spektakuläre Investitionen in
die Trinkwasserversorgung für Donezk …
In Rostow – geschäftiger Hafen und staugeplagte Hauptstadt des russischen Südens – konnten wir kaum unser Gepäck abstellen und drei Schritte gehen, als wir schon zu unserer ersten Besichtigung aufbrachen: ein riesiges Pumpspeicherwerk für das Wasser des Don, das sich an der Mündung des Flusses, etwa 20 Kilometer von der Stadt entfernt, befindet. Arbeiter sind noch damit beschäftigt, die Aussenanlagen fertigzustellen. Zwei gigantische Rohre, Dutzende von 20 000 m3 grossen Tanks und acht Pumpstationen mit jeweils elf Turbinen leiten nun Süsswasser von Rostow in das 200 km entfernte Donezk, das auf Grund des ukrainischen Embargos kein Trinkwasser mehr hat. Alles ist automatisiert. Die 3700 Arbeiter begannen und beendeten die riesige Baustelle sowie den Bau der Hochspannungsleitung zur Stromversorgung der Turbinen innerhalb von sechs Monaten zwischen November 2022, unmittelbar nach der Wiedereingliederung der Republiken in das Mutterland, und April 2023.
… und Ausdruck
russischer Entschlossenheit
Erste Schlussfolgerung: Nach solch schnellen und kolossalen Investitionen scheint mir der russische Wille unerschütterlich, und es scheint mir ausgeschlossen, dass Russland jemals wieder zustimmen wird, sich vom Donbass zu trennen. Dieses Gebiet ist jetzt russisch, Punkt.
Bei Einbruch der Dunkelheit sitzen wir schliesslich am Tisch einer offensichtlich sehr beliebten Brasserie in Rostow mit Blick auf den friedlichen Don. Die Nacht wird ruhig und der Schlaf bleiern. Die nächste Nacht wird mit 40 ukrainischen Raketen, die auf den nahe gelegenen Luftwaffenstützpunkt Morozovsk abgefeuert werden, lebhafter.
Am nächsten Morgen Abreise nach Mariupol, 180 Kilometer und drei Stunden Fahrt entfernt. Nach Taganrog führt die Strasse am Asowschen Meer entlang und ist mit Lkw-Konvois verstopft, die vom Donbass kommen und gehen. Sie wird derzeit verbreitert. Die Militärfahrzeuge tragen ein deutlich sichtbares V oderZ. Vor und hinter der Grenze zur Republik Donezk reihen sich Checkpoints und verschiedene Kontrollen aneinander. An den Seitenstreifen warten lange Kolonnen auf die Durchsuchung. Dank unserer Passierscheine befinden wir uns bald auf exukrainischem Gebiet. Jewgeni, ein Russe aus Wladiwostok, der sich freiwillig bei der Republik Donezk gemeldet hat, übernimmt die Führung. Er wird uns während unseres gesamten Aufenthalts als Reiseführer und Dolmetscher dienen.
Augenschein in Mariupol –
Zerstörung und Wiederaufbau
Kurz vor Mittag erreichen wir die Vororte von Mariupol und betreten das völlig verwüstete Gebiet von Azovstal. Die Fabrik besteht nur noch aus verrosteten Schornsteinen, einem Geflecht aus aufgerissenen Rohren und verbogenem Schrott. Ein apokalyptischer Anblick, der sofort Erinnerungen an Stalingrad, die Traktorenfabrik, Wassili Grossman und die «Reise nach Russland» von Steinbeck und Capa wachruft. Keines der umliegenden Häuser und Wohngebäude ist stehengeblieben.
Das Stadtzentrum hingegen hielt viel besser stand, mit einer Zerstörungsrate, die auf den ersten Blick auf fünfzig Prozent geschätzt werden kann. Es wird derzeit umfassend wiederhergestellt. Der Wiederaufbau des berühmten Theaters auf dem zentralen Platz – ob es bombardiert oder gesprengt wurde, ist unklar – soll bis Ende des Jahres abgeschlossen sein. Umar ist zufrieden: Die Kinder und jungen Mütter haben den Park und den Spielplatz, den seine Firma gerade fertiggestellt hat, bereits in Beschlag genommen. Die Buslinien, die von der Stadt Sankt Petersburg gestiftet wurden, sind wieder in Betrieb. Die Strassencafés haben wieder geöffnet.
Dann fahren wir in den Westen der Stadt, der ein ganz anderes Bild bietet. Dort ist alles neu. Die alten Viertel wurden bereits renoviert, und in weniger als einem Jahr sind neue Viertel, Häuserblocks, eine Schule, ein Kindergarten und ein Krankenhaus aus dem Boden geschossen. Eine Frau, die ihren Hund ausführt, erzählt uns, dass sie erst vor zwei Wochen in ihre brandneue Wohnung eingezogen ist, nachdem sie monatelang in einer Elendsbehausung ohne fliessendes Wasser gelebt hatte.
Auf den Baustellen, die von der staatlichen Militärbaugesellschaft des Verteidigungsministeriums mit Unterstützung der russischen Städte und Provinzen überwacht werden, wird Tag und Nacht gearbeitet. Zehntausend Bewohner wurden bereits umgesiedelt, und die Stadt hat mit 300 000 Einwohnern wieder zwei Drittel ihrer Vorkriegsbevölkerung erreicht. Im Laufe des Nachmittags besichtigen wir ein zweites Krankenhaus mit 60 Betten, das völlig neu und wieder zerlegbar ist, sehr gut ausgestattet ist und von freiwilligen Ärzten aus verschiedenen Regionen Russlands geleitet wird.
Was sagen uns Schulen über ein Land?
Die spektakulärsten Bauten sind jedoch die Schulen. Eine neue Marineakademie am Meer wird im September ihren ersten Kadettenjahrgang aufnehmen. Klassenzimmer, Internat, Sporthallen, Trainingsräume – vier glänzende Gebäude aus Glas und Stahl wurden innerhalb von zehn Monaten aus dem Boden gestampft. Wie man mir sagte, sind sie vorgesehen für 560 uniformierte Schüler im Alter von 11 bis 17 Jahren. Sie werden hauptsächlich Waisenkinder von den beiden Donbass-Kriegen, dem von 2014–2022 und dem von 2022–2024, aufnehmen, wie man mir sagte. Sechs Tage in derWoche sind acht bis zehn Stunden Unterricht, man wird kaum Zeit für Langeweile haben. Nach Abschluss der Schule können die Schüler entweder ihre Ausbildung bei der Marine vervollständigen oder an einer zivilen Universität studieren.
Die zweite Schule ist traditioneller, aber noch spektakulärer. Es handelt sich um eine experimentelle Schule, wie sie in Russland (und meines Wissens auch in der Schweiz) noch nie zuvor gesehen wurde. Das bemerkenswerte Design ist sehr durchdacht. Die Klassenzimmer sind mit den neuesten Technologien ausgestattet, mit Computern, Robotern, Cyber- und Nanotechnologien und Künstlicher Intelligenz. Klassischer sind die Räume für Zeichnen, Nähen, Kochen, Malen, Sprachen, Ballett, Theater, Chemie, Physik, Biologie, Anatomie und Mathematik. Es gibt sogar einen Raum, der mit Kabinen ausgestattet ist, in denen man das Fahren und Fliegen lernen kann.
Lernen – in Russland
offenbar nicht verpönt
Die Ende 2022 begonnene und im September 2023 fertiggestellte Schule hat im vergangenen Jahr ihren ersten Jahrgang mit 500 Schülern aufgenommen und erwartet zu Beginn des neuen Schuljahres im September weitere 500 Schüler. Die Pädagogik ist auf der Höhe der Zeit, ohne pädagogistisches Geplänkel: Die Kurse dauern zwölf Stunden pro Tag. Der Unterricht beginnt um 8 Uhr und endet um 20 Uhr, wobei morgens sechs Stunden «harte» Fächer und nachmittags sechs Stunden Freizeit- oder Ergänzungsfächer unterrichtet werden. Die Kantine bietet drei Mahlzeiten pro Tag. Die einzige Schwierigkeit, so versichert die Direktorin, besteht darin, Lehrer zu finden, die bereit sind, nach Mariupol zu ziehen. Aber sie scheint nicht der Typ zu sein, der vor dieser Aufgabe zurückschreckt.
«Sie wollen so viele
Zivilisten wie möglich töten»
Am späten Nachmittag fahren wir auf die brandneue Autobahn, die Mariupol mit dem 120 Kilometer entfernten Donezk verbindet, und machen einen kurzen Stopp in der Kleinstadt Wolnowakha, deren Kulturpalast im November letzten Jahres einen HIMARS-Schlag erlitten hat. Das Dach war eingestürzt, und Gerüste verstopften das, was von Bühne und Saal übriggeblieben war. Glücklicherweise forderte die Salve weder Tote noch Verletzte, da die für diesen Tag angesetzte Aufführung in letzter Minute verlegt worden war. Für die Einheimischen bestand kein Zweifel daran, dass die Ukrainer so viele Zivilisten wie möglich töten wollten. Mein Reiseführer erklärt mir, dass sie die HIMARS immer in Dreiergruppen abfeuern: eine erste Rakete, um das Dach und die Strukturen zu durchschlagen, eine zweite, um die Bewohner zu liquidieren, und zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten später einen dritten Schlag, um so viele Feuerwehrleute, Rettungskräfte, Verwandte, Polizisten, Freunde und Nachbarn wie möglich zu töten, die den Opfern zu Hilfe gekommen waren. Diese Schilderung wird mir mehrmals wiederholt.
Donezk – belebte
Grossstadt im Kanonendonner
Donezk ist eine Grossstadt mit einer Million Einwohnern, sehr weitläufig, sehr belebt, mit dichtem Verkehr. Man sieht nur wenige zerstörte Gebäude oder Fassaden. Handkehrum lebt die Stadt im Lärm der Kanonen. Ich hatte bei meiner Ankunft auf Grund der Müdigkeit und der Aufregung des Tages nicht darauf geachtet. Aber beim Aufwachen um drei Uhr morgens war ich plötzlich von Kanonendonner aufgeschreckt worden. Alle zwei bis drei Minuten ging ein Schuss los, der die Fensterscheiben erzittern liess und den Himmel in ein orangefarbenes Licht tauchte: Es ist russische Artillerie, die auf ukrainische Stellungen einige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt feuert. Die Ukrainer erwidern das Feuer mit Raketen, Drohnen oder HIMARS-Raketen, was russisches Gegenfeuer auslöst, ein oder zwei pro Stunde, wie mir scheint.
Am nächsten Morgen wird mir beigebracht, wie man die einen von den anderen unterscheidet. Die HIMARS sind bis zur letzten Explosion lautlos, die französischen SCALP-Raketen und die britischen Storm Shadow-Raketen machen ein Flugzeugbrummen, ebenso wie die russischen Raketenabwehrraketen, während die normalen Granaten zischend niedergehen. Wie auch immer, ich muss mir keine Sorgen machen, versichern mir meine neuen Freunde. Sie haben mich im einzigen Hotel der Stadt untergebracht, das noch in amerikanischer Hand ist, und die Ukrainer würden es nie wagen, auf ein amerikanisches Ziel zu schiessen. Nichtsdestotrotz fordert der ukrainische Beschuss weiterhin Verletzte und durchschnittlich einen Toten pro Woche. Allesamt Zivilisten, denn es gibt absolut keine Soldaten, Fahrzeuge oder militärische Einrichtungen in der Stadt. In den vier Tagen, die ich dort verbracht habe, ist mir nicht eine einzige Uniform begegnet.
Allee der Engel
Wir beginnen den Tag mit einem Besuch der «Allee der Engel», die sich inmitten eines schönen Stadtparks befindet. So wurde das Grabmal genannt, das zum Gedenken an die Kinder errichtet wurde, die seit 2014 durch ukrainische Bombenangriffe getötet wurden. 160 Namen wurden bereits auf den Marmor geschrieben. Die Liste umfasst jedoch bis heute mehr als 200. Unter dem schmiedeeisernen Torbogen türmen sich Dutzende von Blumensträussen, Spielsachen und Kinderfotos. Es ist erschütternd.
Auf dem Rückweg besuchen wir die Kollegen vom Fernseh- und Radiosender OPLOT am Rande des zentralen Platzes. Ihr Gebäude wird regelmässig von HIMARS beschossen. Die zuletzt getroffenen Studios konnten noch nicht repariert werden, aber sie werden einfach mit dem, was man hat, wieder instand gesetzt, und die fünf Fernseh- und Radiokanäle senden ihre Programme ohne Unterbrechung. Die Leitung und das Team bestehen zu 90% aus Frauen, die wenigen Männer sind mit der Berichterstattung von der zehn Kilometer entfernten Front beauftragt. Ein kleiner Kindergarten – eine grosse Kinderkrippe würde die Aufmerksamkeit der ukrainischen HIMARS auf sich ziehen – betreut die Kinder der Angestellten. Dies ist in der ganzen Stadt so, da die öffentlichen Kindergärten geschlossen werden mussten, um den Luftschlägen zu entgehen. Anfangs, im Jahr 2014, sei es wegen der Anschlagsgefahr schwierig gewesen, Journalisten anzuwerben, aber das sei heute nicht mehr der Fall, versichert die Chefredakteurin Nina Anatoleva. Die russische Intervention im Jahr 2022 hat die Sicherheit sehr erhöht. Aber sie haben an Einschaltquoten verloren. Ihre Kanäle, die im russischsprachigen Teil der Ukraine weit verbreitet waren, wurden abgeschaltet und sind nur noch im Internet oder über das lokale Netzwerk zu sehen.
Besuch eines
Aufnahmezentrums nahe der Front
Am Nachmittag fahren wir in das Dorf Yassinouvata, das in der Nähe von Avdeevka und damit ganz nah an der Front liegt. Das Dorf, das dem ukrainischen Granatbeschuss stark ausgesetzt ist, beherbergt eine Schule, die in ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge aus den kürzlich befreiten Dörfern umgewandelt wurde. Kaum hat man Donezk verlassen, ist die Nähe zur Front spürbar. Die Strasse ist von Granatbeschuss zerfurcht und mit Trümmern von eingestürzten Brücken übersät. Links von uns fliegen zwei Ka-50 Alligator-Hubschrauber und ein MI-8-Hubschrauber im Tiefflug von der Front zurück. Zu unserer Rechten bilden Schützengräben und drei Reihen von Dragonerzähnen, die unserer Schweizer Toblerone1 entsprechen, eine der Linien der russischen Verteidigung. Militärfahrzeuge fahren regelmässig an ihr entlang.
Unser Fahrzeug ist vollkommen anonym. Kein Konvoi, keine Presseabzeichen, keine kugelsicheren Westen oder Helme, die die Aufmerksamkeit ukrainischer Überwachungsdrohnen auf sich ziehen könnten. Die GPS unserer Handys sind längst deaktiviert. Es geht darum, so unauffällig wie möglich zu sein. Die Strasse wird immer holpriger, und es gibt so gut wie keinen Verkehr. Der Fahrer, der Reiseleiter und Umar sind vollkommen unaufgeregt.
Die Direktorin der Schule, eine ehemalige Mathematiklehrerin, die nun Leiterin des Aufnahmezentrums ist, empfängt uns. Die Befreiung von Avdeevka und den Nachbardörfern Ende Februar hat die überlebenden Bewohner aus den Kellern geholt. Sie sind hier in den Klassenzimmern untergebracht, bis sie wieder in ihre Häuser zurückkehren oder eine neue Unterkunft finden. Von den 160 beherbergten Personen konnten einige bereits nach Avdeevka zurückkehren. Heute ist Nina Timofeevna, 85 Jahre alt und sehr lebhaft, an der Reihe, in ihre Wohnung zurückzukehren. Sie hatte zwei Jahre lang in ihrem Keller gelebt und Feuer auf der Strasse gemacht. Sie versichert: «Die ukrainischen Soldaten haben uns überhaupt nicht geholfen», während die russische Armee ihr Dach und die Fenster ihres Hauses repariert hat, so dass sie wieder in ihr Haus zurückkehren kann, begleitet von zwei Soldaten der Militärpolizei, die ihr Gepäck tragen. «Das ist kein Krieg, sondern ein Massaker an Zivilisten. Sie wollen uns zerstören.»
In den Fluren packen Freiwillige der orthodoxen Kirche Kartons mit Kleidung, Wasserflaschen und Lebensmitteln aus. In den anderen Räumen sitzen Paare mit einer schönen blauäugigen Katze und alte Menschen. Eine Familie mit einem vierjährigen Jungen. Ihre Wohnung wurde von einer Rakete weggeblasen, als sie versuchte, im Freien etwas zu essen zu finden. Der Vater war Arbeiter und die Mutter Buchhalterin in der Kokerei Avdeevka. Sie entgingen dem Tod wie durch ein Wunder und können es immer noch nicht fassen, dass sie überlebt haben …
Der Donbass wird russisch bleiben
Auf dem Rückweg nach Donezk dreht sich das Gespräch um das Leben während des Krieges, und Jewgeni erzählt mir, dass in Mariupol das Neonazi-Bataillon Asow bereits 2014 ein geheimes Gefängnis in einem Flughafengebäude eröffnet hatte, das «Bibliotheka», die Bibliothek, genannt wurde, weil die Opfer dort als «Bücher» bezeichnet wurden, ganz nach dem Vorbild der Nazis, die ihre Opfer als «Stück» bezeichneten. Während der acht Jahre, in denen die mit Nazisymbolen tätowierten Nationalisten des Bataillons in Mariupol das Sagen hatten, wurden dort laut Zeugenaussagen Dutzende Menschen gefoltert und getötet, während die örtliche Polizei wegschaute. Derzeit laufen Ermittlungen, um die Opfer zu identifizieren, und die Besichtigung der Räumlichkeiten wurde ausgesetzt. Die russische Presse berichtete darüber, aber die westlichen Medien schwiegen aus Angst, das Narrativ von den guten Ukrainern und den bösen Russen zu trüben.
Zweite Feststellung: Der Donbass begeht Anfang April den 10. Jahrestag seines Aufstands gegen das Kiewer Regime, das gegen ihn den Terrorkrieg ausgerufen hatte. Tausende Menschen, Kinder, Zivilisten und Kämpfer, wurden getötet. Donezk erhielt den Beinamen «Stadt der Helden». Nach so vielen Opfern werden die drei Millionen Einwohner der Oblast bis zum Ende kämpfen, um ihre Republik zu verteidigen, was immer der Preis sein wird und was immer man im Westen über sie denken mag. •
1 Panzersperren der Schweizer Armee, die auf Grund ihrer Form mit dem Markennamen dieser Schweizer Schokolade benannt wurden.
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Guy Mettan ist Journalist und Abgeordneter im Grossen Rat des Kantons Genf, den er 2010 präsi- dierte. Er arbeitete für das «Journal de Genève», Le Temps stratégique, Bilan, «Le Nouveau Quotidien» und später als Direktor und Chefredaktor der «Tribune de Genève». 1996 gründete er den Swiss Presseclub, dessen Präsident und späterer Direktor er von 1998 bis 2019 war.
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