Wir müssen uns selbst ent-westlichen

von Patrick Lawrence*

Die Grausamkeiten des zionistischen Israel zwingen uns zu grundlegenden Fragen: Wo bleibt unsere Menschlichkeit, während die Israeli ihre Terrorkampagnen täglich vor unseren Augen durchführen? Was sollen wir tun, wenn wir uns zu ohnmächtig fühlen, um sinnvoll zu reagieren, weil uns unsere Institutionen im Stich gelassen haben, wie uns die Westasien-Krise plötzlich vor Augen geführt hat?
  Jetzt erkennen viele von uns die Notwendigkeit, unsere Menschlichkeit zu verteidigen – die Menschlichkeit der Menschheit, wie ich darüber denke.
  Ich habe mich mit dieser Frage bereits im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum befasst und argumentiert, dass es an der Zeit ist, die multilateralen Institutionen, allen voran die Vereinten Nationen, neu zu betrachten, um sie nach einer langen Zeit, in der sie abgewertet wurden, wieder zu beleben.

Änderung der Denkweise

Hier möchte ich die soeben gestellten Fragen in eine andere Richtung lenken und vorschlagen, dass wir die Angelegenheit aus einer persönlichen, individuellen Perspektive betrachten.
  Was muss jeder von uns tun, sozusagen in der Privatsphäre seines Gewissens, seiner Gedanken, seiner Vermutungen und Einschätzungen, um die Arbeit zur Verteidigung der Menschlichkeit der Menschheit aufzunehmen? Es ist im Grunde eine psychologische Frage. Es geht ganz einfach darum, «unsere Denkweise zu ändern».
  Ich denke, wir müssen damit beginnen, zu erkennen, wer wir zu sein glauben. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich spreche nicht von dem, was wir sind, sondern von dem, was wir glauben zu sein, wofür wir uns halten.
  Wir leben in der «westlichen Welt», wie sie genannt wird, und daher sind wir natürlich Westler. Wer kann das bestreiten? Westler zu sein, ist ein fester Bestandteil unserer Identität, das kann ich wohl ohne weitere Erklärung sagen.

Trennlinien – Werke des Westens …

Das ist schon seit vielen Jahrhunderten so. Ich gehe davon aus, dass das Datum in diesem Zusammenhang 1498 ist, als Vasco da Gama an der Malabarküste in Südindien an Land ging und damit als erster moderner Westler in dem Teil der Welt ankam, den wir heute als den Nicht-Westen bezeichnen.
  Und daraus folgt ganz einfach: Wenn wir erklären, was wir sind, erklären wir auch, was wir nicht sind. Das Ergebnis habe ich gerade angedeutet: Die Welt ist geteilt in Westler und Nicht-Westler. Diese Spaltung, die für unser Denken grundlegend ist, ist im Grossen und Ganzen das Werk des Westens. Wir sollten dies zur Kenntnis nehmen.
  Die Grenze zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen ist sehr alt und reicht viel weiter zurück als bis 1498. Sie geht mindestens auf das 5. Jahrhundert v. Chr. zurück, als Herodot die Perserkriege in seinen berühmten «Historien» aufzeichnete. Und es ist bemerkenswert, wie intakt diese Grenze zwischen West und Ost bis zu uns überliefert ist.
  Das Biden-Regime und der Rest des Westens betrachten sie heute als die Trennlinie zwischen Demokratien und Autokratien. Betrachtet man die israelisch-palästinensische Frage in einem grösseren Zusammenhang, so stellt man fest, dass es sich um eine weitere Konfrontation zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen handelt.
  Wir mögen die Behauptung des Biden-Regimes, es führe einen Krieg gegen die Autokraten des Nicht-Westens im Namen der Demokraten des Westens, nicht akzeptieren, aber das bedeutet nicht, dass wir uns nicht dennoch als grundlegend «westlich» verstehen. Wir haben auf diese Weise unsere Vergangenheit geerbt, bewusst oder unbewusst.

… und menschliche Konstrukte

Wir kommen zu meinem ersten grundlegenden Punkt. Wenn wir die Menschlichkeit der Menschheit verteidigen wollen, ist es unsere erste Pflicht anzuerkennen, dass die Grenze zwischen West und Ost nach wie vor ein menschliches Konstrukt ist und nichts weiter. Herodot hat in seiner Weisheit diesen Punkt erkannt: Selbst als er das halbe Jahrhundert der Feindschaft zwischen dem persischen Reich und den griechischen Stadtstaaten aufzeichnete, bezeichnete er die Linie zwischen ihnen, die den Osten vom Westen trennte, als «imaginär».
  In den letzten 2500 Jahren scheint niemand diesen Punkt verstanden zu haben: Man geht heute allgemein davon aus, dass diese Linie unabänderlich in die Erde eingegraben ist, so als ob sie von einem Satelliten aus sichtbar wäre. Wir müssen uns also zunächst von diesem ungeprüften Gedanken verabschieden. Es geht also darum – im wahrsten Sinne des Wortes – «unsere Denkweise zu ändern».
  Das bedeutet, und hier sollten wir ein nützliches Wort erfinden, dass wir unser Bewusstsein «ent-westlichen» müssen. Ich behaupte, dass der Beginn eines Prozesses der persönlichen, individuellen «Ent-Westlichung» absolut notwendig ist, wenn wir die Menschlichkeit der Menschheit verteidigen wollen.
  Die Japaner – eigentlich die frühen japanischen Feministinnen – hatten einen wunderbaren Ausdruck für diese Art von Projekt. Es waren grossartige Menschen – prinzipientreu, authentisch, die sich unter Fremden wie mir wohlfühlten – und ich habe viel von ihnen gelernt. Sie sprachen von «dem inneren Denkgebäude» und der Notwendigkeit, es abzubauen.

Ent-Westlichung

Wie die Dinge liegen, widmen sich das Biden-Regime und seine Klienten jetzt der Verteidigung des Westens als ihrer Hauptaufgabe, wie sie Ihnen sagen werden. Wenn wir unser Bewusstsein ent-westlichen, können wir diesen Gedanken leicht durchschauen und verstehen, wie erbärmlich oberflächlich und begrenzt er ist.
  Damit haben wir uns selbst die Tür geöffnet, um nicht den Westen zu verteidigen – was impliziert, dass der Westen gegen den Rest antritt –, sondern die Menschheit und die Menschlichkeit der Menschheit.
  Lassen Sie mich das gleich vorwegsagen: Jens Stoltenberg, der frühere Generalsekretär der Nato, und Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, und Antony Blinken, der US-Aussenminister, haben es ganz offensichtlich bitter nötig, sich zu ent-westlichen. Aber wir sollten nicht den Fehler begehen, anzunehmen, dass diese wenigen unbelehrbaren westlichen Überlegenheitsfanatiker unser Problem sind.
  Ich spreche von einer neuen inneren Haltung, einer neuen Art zu denken, zu sehen und zu handeln, die jeder von uns in sich selbst kultivieren muss. Das ist alles andere als unmöglich, falls sich jemand fragt, wie gross die Aufgabe ist.
  Ich spreche hier aus Erfahrung. Ich habe knapp drei Jahrzehnte als Auslandskorrespondent verbracht, fast jeden Tag davon in nicht-westlichen Ländern, hauptsächlich, aber nicht nur in Ostasien. Und als ich diese Jahre beendete, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich nicht mehr wirklich ein Westler war.
  Meine Physiognomie – runde Augen, blondes Haar und so weiter – hatte nichts damit zu tun. Ich war natürlich ganz ich selbst: Ich hatte nichts aufgegeben oder verleugnet. Aber ich hatte «meine Denkweise geändert» – oder das Leben und die Erfahrung hatten sie für mich geändert. Ich war nicht mehr ganz westlich. Das hatte mit meiner Denkweise zu tun, mit der Art und Weise, wie ich die Welt sah und wie ich mich in ihr bewegte.
  Der Gedanke, dass der Westen all jenen überlegen sei, die sich im Namen des Nicht-Westens versammeln, erschien mir mittlerweile lächerlich. Das westliche Beharren auf dem Primat des Individuums, vor allem aus der Sicht der Amerikaner, erschien mir zumindest problematisch.
  Ich behaupte nicht, dass man drei Jahrzehnte lang unter Asiaten umherwandern muss, um das Projekt der Ent-Westlichung zu vollenden. Ganz und gar nicht. Es geht um die Verfeinerung des eigenen Selbstbewusstseins. Worauf es ankommt, ist die eigene Ehrlichkeit, die Unabhängigkeit des Denkens und die Entschlossenheit, nicht mehr und nicht weniger als man selbst zu sein, ungeachtet der vorherrschenden Orthodoxien.

  Friedrich Nietzsche hat irgendwo geschrieben – vielleicht in «Die fröhliche Wissenschaft», leider kann ich es nicht genauer sagen –, dass wir «das Gewand des Westens ablegen», eine wunderbare Formulierung. Und an anderer Stelle schrieb er, wir sollten unsere Boote über unsere Grenzen hinaus rudern, damit wir aus einer nützlichen Entfernung zurückblicken und uns so sehen können, wie wir sind.
  Dies ist ein Teil dessen, was er mit dem «Pathos der Distanz» meinte, und nur ein Teil davon. Nur aus der Ferne, so meinte er, können wir unsere Schwächen sehen und uns selbst ganz und gar erkennen. Und das ist es, was ich meine – zu überdenken, wer wir sind, von oben bis unten. Auch das ist ein Teil dessen, was Nietzsche meinte, als er von der «Umwertung aller Werte» schrieb.

Selbstüberwindung

Er drängte uns, wie ich es ausdrücken möchte, uns auf das dünne Eis der Moderne zu begeben und all das zu überdenken, was wir für richtig gehalten haben.
  Ich werde mich hier einigen spezifischen Schritten zuwenden, die wir meiner Meinung nach unternehmen müssen. Sie alle sind Aspekte dessen, was ich für den grundlegenden Prozess halte, dem wir uns als Individuen unterziehen müssen. Diesen Prozess können wir leicht benennen: Nennen wir ihn «den Prozess der Überwindung» oder vielleicht «Selbstüberwindung».
  Die erste dieser Fragen habe ich bereits angedeutet. Es geht um die Ideologie, die den Westen, wie wir ihn geerbt haben, zusammenhält, auch wenn diese Ideologie in unserem Unbewussten liegt.
  Um die Menschlichkeit der gesamten Menschheit zu verteidigen, müssen wir in uns selbst die Anmassung überwinden, dass unsere Lebensweise und unsere Institutionen das überlegene Paradigma sind, nach dem andere streben, oder, wenn sie nicht danach streben, danach streben sollten; oder im Extremfall müssen sie belehrt oder dazu gebracht werden, danach zu streben, und wenn sie nicht danach streben, dann nur, weil sie primitiv und daher unwissend sind.
  Der reinste Ausdruck dieser Annahme, den ich kenne, wird «Wilsonscher Universalismus» genannt, nach dem Präsidenten, der diese Idee in den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts vertrat. Wir – wir Amerikaner – sind die Auserwählten der Menschheit, erklärte Woodrow Wilson, und es ist unsere Aufgabe, unser Licht in alle dunklen Ecken der Welt zu tragen.
  Es ist leicht, sich selbst zu täuschen, wenn wir über diesen Punkt nachdenken. Es ist leicht zu sagen: «Was für ein törichter und extravaganter narzisstischer Gedanke.»
  Ich weiss das, weil ich während meiner Jahre in Asien oft und immer auf bittere Weise feststellen musste, dass ich mir selbst etwas vorgemacht hatte, als ich annahm, dass ich die Gleichheit der Menschen, unter denen ich lebte, anerkannte. Wenn ich jetzt zurückblicke, schäme ich mich für die vielen Gelegenheiten, bei denen meine wahren Ansichten über andere zum Vorschein kamen und sich als völlig anders herausstellten, als ich dachte. Bei den schlimmsten dieser Gelegenheiten schienen sie sogar ein wenig wilsonianisch zu sein.
  Es erfordert, wie ich vorhin schon sagte, eine Art rohe Ehrlichkeit, uns selbst zu betrachten, nach innen zu schauen und genau zu sehen, wer wir sind und was wir zu überwinden haben.
  Es geht darum, sich von einer Ideologie zu trennen, in die wir unser ganzes Leben lang eingetaucht sind. Und wenn man sein ganzes Leben lang eine bestimmte Art von Luft geatmet oder eine bestimmte Art von Wasser getrunken hat, ist es in der Tat schwierig, sich eine andere Luft oder ein anderes Wasser vorzustellen. Aber das ist es, was wir tun müssen.

Vielfalt und Integration

Das zweite Thema, das ich ansprechen möchte, hat mit der Politik zu tun. Hier möchte ich einige Punkte ansprechen.
  In diesen Tagen hört man viel über Inklusion und Vielfalt. Wir hören so viel über diese Dinge, dass es schwierig ist, diese Worte ernst zu nehmen. Hören Sie genau hin. Die Menschen, die am lautesten über Vielfalt und Integration sprechen, meinen in der Regel die Hautfarbe, das Geschlecht oder ein anderes oberflächliches Identitätsmerkmal.
  Sie haben keinerlei Vorstellung von Inklusion oder Vielfalt, wenn es um irgendeinen substantiellen Wert geht. Man kann auf alle möglichen Arten anders sein, aber nicht, Gott bewahre, anders im Denken oder im Glauben oder in der Tradition oder Kultur.
  Das nützt nichts. Wenn wir die Menschlichkeit der Menschheit verteidigen wollen, müssen wir diese Worte von den hochmütigen Menschen zurücknehmen, die sie am häufigsten benutzen – die sie in der Tat in ihr Gegenteil verkehren – und ihnen eine neue und ernsthafte Bedeutung geben.
  Dies setzt voraus, dass wir echte Vielfalt und echte Integration nicht nur akzeptieren, sondern auch annehmen, und das bedeutet wiederum, dass wir diejenigen annehmen, die vielleicht überhaupt nicht so denken wie wir oder deren Werte sich grundlegend von den unseren unterscheiden.
  Und je mehr wir feststellen, dass andere uns auf diese Weise fremd sind, desto wichtiger ist es für uns, unsere Neigungen zu überwinden.

Geschichte niemals ausklammern

Mein drittes Anliegen hier ist vielleicht das wichtigste. Vielleicht hätte ich es zuerst nennen sollen. Es hat mit der Geschichte zu tun. Die Geschichte ist, wie wir immer und unter allen Umständen feststellen werden, wieder einmal unser Freund.
  Der Westen neigt dazu, die Geschichte der nicht-westlichen Völker zu ignorieren oder abzutun. Wenn Sie daran zweifeln, dass ich das zu Recht sage, nehmen Sie eine Mainstream-Zeitung zur Hand und studieren Sie, wie sie Palästinenser, Iraner, Russen und Venezolaner behandelt.
  Beachten Sie meine Wahl der Beispiele. Unsere Gesellschaften neigen in der Regel dazu, die Geschichte derjenigen auszulöschen, gegen die wir uns stellen. Das ist eine sehr verhängnisvolle Praxis, die zu allen möglichen Problemen führt. Wenn wir die Geschichte eines anderen Volkes verleugnen, verleugnen wir auch die Komplexität dieses Volkes, seine Bestrebungen, ja, letztendlich seine Menschlichkeit.
  Wir erlauben uns, sie mit einem Etikett zu versehen – «terroristischer Staat», «Oligarchie», «Theokratie» und so weiter – und es ist nicht mehr nötig, sie zu verstehen. Ihre Geschichte verschwindet augenblicklich. Wir haben sie, mit einem Wort, entmenschlicht.
  Das offensichtliche Projekt hier ist, anderen ihre Geschichte zuzugestehen. Das ist sofort transformierend. Sehen Sie sich an, was im Fall der Palästinenser in Gaza passiert, wenn wir die gegenwärtige Krise in den Kontext von 1948 stellen.
  Unser Verständnis ändert sich sofort. Wir haben, wie wir heute sagen, unseren Blick auf diese Frage entwestlicht. Und deshalb werden wir täglich aufgefordert – unaufhörlich, unerbittlich – die Geschichte dieser Krise aussen vor zu lassen.

Beispiel China

Wenn wir die Menschlichkeit der Menschheit richtig verteidigen wollen, müssen wir bereit sein anzuerkennen, dass die Menschheit unzählige verschiedene Geschichten hat, die wir alle als gültig anerkennen müssen. In dieser Sache fordere ich uns auf, wachsam zu sein und die Geschichte energisch zu verteidigen und darauf zu bestehen, dass sie niemals ausgeklammert werden darf, egal unter welchen Umständen wir uns befinden.
  Ein weiteres Beispiel dafür, was ich meine, ist, dass wir das Staatswesen eines Landes, wie das von China, betrachten und davon absehen müssen, ohne weitere Ausführungen oder Überlegungen zu dem Schluss zu kommen, dass es als inakzeptabel «autoritär» zu bezeichnen ist, und uns auch nicht damit zufriedengeben sollten, zu sagen, dass es – wie ich neulich in der Londoner«Times»gelesen habe – «von einer totalitären Clique regiert» wird.
  Wenn wir vorhaben, die Menschlichkeit der Menschheit und auch unsere eigene zu verteidigen, ist ein solches Denken ein hoffnungsloser Fall. Von Anfang an zum Scheitern verurteilt. So mag China für den unverbesserlichen westlichen Geist aussehen, aber es handelt sich dabei um eine karikaturhafte Darstellung der Realität. Sie ist aus zwei Gründen nicht mehr akzeptabel, falls sie es jemals war.
  Erstens: Wenn wir unsere Blindheit weiterhin so kultivieren, werden wir den Anschluss an das 21. Jahrhundert und all seine Strömungen verlieren. Zweitens, und das ist noch offensichtlicher, werden wir die anderen überhaupt nicht verstehen.
  Im Falle Chinas muss man sich nicht nur eine Karte des Festlandes ansehen, sondern einen grossen Stapel von Karten aus verschiedenen Epochen. Dann sieht man, dass China eine lange Geschichte von Spannungen und Konflikten zwischen Integration und Desintegration hat, die viele Jahrhunderte zurückreicht, so dass das China der einen Zeit dem China der anderen kaum noch ähnelt.
  Die Wahrung der territorialen Integrität und die Verteidigung der Souveränität Chinas waren über einen langen, langen Zeitraum hinweg eine ständige Herausforderung. Wenn wir uns diese Karten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse vor Augen halten, können wir verstehen, warum eine starke Zentralregierung so lange Teil der chinesischen Realität war und warum sie selbst von Pekings Kritikern im Inland weitgehend akzeptiert wird.
  Und wir können dann sehen, dass die Einheit und Integration der heutigen Volksrepublik eine grosse Errungenschaft ist.
  Zu dieser Errungenschaft gehören, so möchte ich hinzufügen, auch die Leitprinzipien, nach denen sich das moderne China richtet. Ich denke dabei an die berühmten Fünf Prinzipien von Zhou Enlai aus dem Jahr 1954, über die die meisten Westler so viel wissen, wie sie über die chinesische Geschichte wissen – mehr oder weniger nichts.
  Achtung der territorialen Integrität und Souveränität, Nicht-Aggression, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer, Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen, friedliche Koexistenz: Das macht fünf. Dies sind unwiderlegbar bewundernswerte Ideen.
  Es sind auch Ideen des 21. Jahrhunderts. Und sie entspringen der langen Erfahrung Chinas im Laufe seiner Geschichte.

Ent-Westlichung der Geschichte

Wenn ich über sie nachdenke, kommt mir eine andere Stelle bei Nietzsche in den Sinn. Ich habe heute viel von «Fritz», wie ihn seine Familie nannte, für Sie, weil er sich sehr mit der Frage beschäftigte, was uns westlich macht, und mit der Notwendigkeit, unsere «Westlichkeit» zu überwinden.
  Ein Wort, das oft mit ihm in Verbindung gebracht wird, ist «Perspektivismus». Es bedeutet die Fähigkeit, aus der Perspektive anderer zu sehen, und ich vertrete seit langem die Auffassung, dass dies eine unserer wichtigsten Aufgaben ist, wenn wir im 21. Jahrhundert erfolgreich sein wollen.
  Dies ist ein Zitat aus «Götterdämmerung». Es bezieht sich mehr oder weniger direkt auf unsere Aufgabe, uns selbst zu ent-westlichen:

«Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem ‹modernen Geiste› geht vielleicht nichts so sehr wider den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man ‹Freiheit›. Was aus Institutionen Institutionen macht, wird verachtet, gehasst, abgelehnt: wo das Wort ‹Autorität› auch nur laut wird, glaubt man sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei. So weit geht die décadence im Werth-Instinkte unserer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie ziehen instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt…» (S. 90)

Denken Sie darüber nach. Dies sind die Bemerkungen von jemandem, der mit seinem Boot weiter und über Grenzen hinausgerudert ist, dann umkehrte und etwas anderes sah als das, was er eigentlich sehen sollte.
  Ich möchte noch einen weiteren Punkt in bezug auf die Geschichte ansprechen.
  Wenn ich dazu aufrufe, sie zu schätzen und zu verteidigen, dann meine ich nicht nur die Erinnerung. Erinnerung und Geschichte sind eng miteinander verbunden, und diese Beziehung ist eines meiner Lieblingsthemen. Hier möchte ich nur sagen, wenn wir von der Verteidigung der Geschichte und ihrer Nutzung sprechen, müssen wir uns sicher um die geschriebene Geschichte kümmern. Wir müssen darauf bestehen, unsere Geschichte zu ent-westlichen, indem wir darauf bestehen, dass Ereignisse, die heute vernachlässigt werden – die Nakba ist ein Paradebeispiel dafür –, weder verharmlost noch verzerrt oder ganz ausgelassen werden.
  Als Nietzsche davon schrieb, das Gewand des Westens abzulegen, meinte er nicht, dass wir vergessen sollten, wer wir sind, oder dass wir unsere Identität aufgeben sollten. Ganz im Gegenteil. Die Übung war als Prozess der Selbstentdeckung gedacht, nicht der Selbstverleugnung. Die Kultur ist Teil des Menschseins, und wenn wir lernen, die Kulturen anderer zu achten, müssen wir auch unsere eigene achten.
  Wenn wir also über die Ent-Westlichung unseres Bewusstseins nachdenken, müssen wir auch an unsere «Wieder-Verwestlichung» denken.

Rückkehr zu den Idealen der
Aufklärung – aber ohne Nostalgie

Hier möchte ich eine radikale Idee vorbringen.
  In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Westen sich industrialisierte und lernte, der Wissenschaft zu vertrauen, wich die Aufklärung, das Zeitalter der Vernunft, dem Zeitalter des Materialismus. Unser Zeitalter ist eine Erweiterung dieses Zeitalters, das kann man wohl sagen. Der materielle Konsum ist jetzt ein bleibender Wert. Wir verehren den Markt, als ob er immer das Beste wüsste – als ob er das Denken für uns übernehmen könnte, als ob das, was der Markt diktiert, immer das richtige Ergebnis bringen würde.
  Mit anderen Worten: Wir haben die Ideale der Aufklärung mehr oder weniger aus den Augen verloren. Wir bekennen uns dazu, nach ihnen zu leben, aber wie ich bereits in einem früheren Vortrag festgestellt habe, bekennt sich jedes Zeitalter ziemlich hohl dazu, die Werte des vorangegangenen Zeitalters in Ehren zu halten, selbst wenn es sie aufgegeben hat.
  Hier möchte ich mich auf Nietzsches Begriff der Umwertung aller Werte berufen.
  Wenn ich von einer Wieder-Verwestlichung spreche, die mit einer Ent-Westlichung einhergeht, schlage ich nichts Geringeres vor als die Transzendierung der Werte, die wir aus dem Zeitalter des Materialismus geerbt haben, und eine Rückkehr zu den Idealen, die unsere Gesellschaften hinter sich gelassen haben, als der «Fortschritt» im Zuge der Industrialisierung der westlichen Staaten den Charakter eines ideologischen Kults annahm. Seitdem haben wir den materiellen Fortschritt mit dem Fortschritt durch unsere Werte verwechselt – dem Fortschritt der Menschheit insgesamt.
  Wir haben jetzt alle erdenklichen Gadgets, aber wie die Zionisten uns grimmig erinnern, ist unser Verhalten untereinander so barbarisch wie eh und je. Steve Jobs prahlte einst damit, dass Apple «die Welt verändern» werde. Wie verarmt kann unser Denken sein? Technologien – Mobiltelefone und alles andere – haben nichts verändert, was mit menschlichen Werten zu tun hat. Wenn man den Fall Gaza betrachtet, haben Technologien die Welt verändert, indem sie dazu beigetragen haben, menschliche Werte zu zerstören.
  Die Ideale der Aufklärung – Humanismus, rationales Denken, Naturrecht, Toleranz, «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» und so weiter – sind das, was wir im Westen der Welt bieten können, nicht anders als China der Welt seine Fünf Prinzipien anbietet. Ich spreche nicht von einer nostalgischen Rückkehr in die Vergangenheit, das muss ich hinzufügen. Ich spreche von einer Rückkehr zu uns selbst.
  Hier muss ich darauf achten, mein Denken zu relativieren.
  Es gibt einige sehr intelligente Menschen, die uns sagen, dass das Projekt der Aufklärung in Wirklichkeit ein Fehlschlag war und die Ursache für viele der Probleme ist, mit denen die Menschheit seither konfrontiert ist. Von der Aufklärung, so wird argumentiert, sei der Impuls ausgegangen, die westliche Zivilisation als das glorreiche Ziel der gesamten Menschheit zu universalisieren. Das Ausmass, in dem aufklärerische Denker wie Thomas Jefferson das Individuum in eine Position der Überhöhung [über der Gemeinschaft stehend] erhoben, scheint mir ein weiteres Problem zu sein.

  John Gray, ein britischer Intellektueller, hat 1995 ein Buch mit dem Titel «Enlightenment’s Wake»veröffentlicht, in dem er die allgemein akzeptierten Vorstellungen über die Bedeutung der Aufklärung weitestgehend demontiert. Ich erkenne diese Überlegungen nicht nur an. Ich befürworte viele Aspekte davon.
  Und deshalb bringe ich Nietzsches Begriff der Umwertung unserer Werte ins Spiel. Die Ideale der Aufklärung sind beständig. Es ist die Art und Weise, wie sie interpretiert und angewandt wurden, die zu den Misserfolgen führte. Ho Chi Minh bewunderte Jeffersons Erklärung. Aber Amerika hat Ho verraten, das sollten wir nicht vergessen. Jefferson, um es auf den Punkt zu bringen, war ein Sklavenhalter.
  Ich spreche also von der Manifestation der Werte der Aufklärung in einem neuen Kontext des 21. Jahrhunderts. Das mag ein kühner Gedanke sein, aber es ist nichts furchtbar Kompliziertes daran. Über die Werte des materialistischen Zeitalters hinauszugehen, ist in der Tat ein neuer Gedanke. Aber ich spreche lediglich davon, die Ideale, zu denen wir uns nach wie vor bekennen, die wir aber nicht einhalten, neu zu bewerten – und ihnen damit gerecht zu werden. Diesen Idealen gerecht zu werden, bedeutet vor allem, nach ihnen zu handeln, ohne sie anderen aufzudrängen. Man kann sich nicht zur Freiheit – und schon gar nicht zur Demokratie – bekennen, während man von anderen verlangt, die eigene Version dieser Ideale zu akzeptieren.
  Das ist es, was ich mit «Wieder-Verwestlichung» meine, als Begleiter unseres Projekts der Ent-Westlichung, und beide in der Sache der Verteidigung der Menschlichkeit der Menschheit. 



Dies ist eine überarbeitete Fassung des zweiten von zwei Vorträgen, die der Autor kürzlich zum Thema «Verteidigung der Menschlichkeit der Menschheit» in der Schweiz gehalten hat. Er sprach am 10. Oktober 2024 bei einer Veranstaltung von Zeit-Fragen. Diese überarbeitete Version wurde zuerst bei ConsortiumNews am 14. Oktober veröffentlicht. 

Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein vorletztes Buch ist «Time No Longer: Americans After the American Century», Yale 2013. 2023 ist sein neues Buch «Journalists and Their Shadows» bei Clarity Press erschienen. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über https://www.patreon.com/thefloutist.

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