Das Genossenschaftsprinzip stellt für den schweizerischen Bundesstaat ein zentrales Fundament dar. Als wirtschaftliche Organisationsform der Selbsthilfe ist die Genossenschaft nicht nur eine blosse Rechtsform, sondern eine eigentliche Gesellschaftsform. Stets ist sie lokal verankert und eingebettet in das föderalistisch-subsidiäre politische System der Schweiz. Die Genossenschafter entscheiden demokratisch über alle anfallenden Fragen, jeder hat eine Stimme. Hierin liegt eine zentrale Wurzel der später entwickelten direkten Demokratie. Der Zweck einer Genossenschaft besteht immer in der für alle Glieder wie für den Verband optimalen Nutzung einer gemeinsamen Sache. Die Nutzungsformen können verschieden sein, der Zweck sollte immer dem naturrechtlich verankerten Gemeinwohl – dem Bonum commune – dienen.
Herrschaft und Genossenschaft
Der Schweizer Historiker Adolf Gasser (1903–1985) hat die Bedeutung des genossenschaftlichen Prinzips besonders klar hervorgehoben. Für ihn war die europäische Geschichte stark vom Gegensatz zweier verschiedener Gesinnungen geprägt, und zwar von Herrschaft und Genossenschaft. In diesen Erscheinungen stehen sich, so betont Gasser, zwei Welten gegenüber, die ganz verschiedenen Entwicklungsgesetzen unterstehen: die Welt der von oben her und die Welt der von unten her aufgebauten Staatswesen, oder mit anderen Worten: die Welt der Gemeindeunfreiheit und die der Gemeindefreiheit. In seinem Hauptwerk «Gemeindefreiheit als Rettung Europas» (1947) führt er aus:
«Der Gegensatz Herrschaft – Genossenschaft ist vielleicht der wichtigste Gegensatz, den die Sozialgeschichte kennt. Beim Gegensatz Obrigkeitsstaat – Gesellschaftsstaat geht es eben um schlechtweg fundamentale Dinge: nämlich um die elementaren Grundlagen des menschlichen Gemeinschaftslebens.»
Gasser betont weiter, dass es das genossenschaftliche Ordnungsprinzip ist, das zu einer kommunalen Gemeinschaftsethik führt:
«Während im obrigkeitlich-bürokratischen Staate Politik und Moral auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen liegen, gehören sie im gesellschaftlich-kommunalen Staate untrennbar zusammen. Demgemäss wird man das genossenschaftliche Ordnungsprinzip, wie es den von unten nach oben aufgebauten Gemeinwesen zugrunde liegt, besonders zweckmässig als ‹kommunale Gemeinschaftsethik› bezeichnen.»
Die Bedeutung des
genossenschaftlichen Prinzips
Das genossenschaftliche Prinzip gilt in der Schweiz nicht erst seit der Gründung des Bundesstaates von 1848, sondern war schon seit Jahrhunderten fester Bestandteil der eidgenössischen Gesinnung. Diese Gesinnung ist durch die drei «Selbst» bestimmt: die Selbsthilfe, die Selbstverantwortung und die Selbstbestimmung.
Meistens gingen die Genossenschaften aus der mittelalterlichen Flurverfassung oder, anders ausgedrückt, aus der «mittelalterlichen Gemeinmark» hervor. Für das Verständnis des schweizerischen Staatswesens sind diese frühen Bezüge des Genossenschaftswesens zentral. Dazu schreibt der Schweizer Historiker Wolfgang von Wartburg (1914–1997) in seiner 1951 veröffentlichten «Geschichte der Schweiz»:
«Diese kleinen, natürlichen, sich selbst verwaltenden Gemeinwesen sind Schule und Nährboden der schweizerischen Freiheit und Demokratie geworden und sind es heute noch. Die ausgedehntesten und lebensfähigsten Markgenossenschaften aber bestanden im Gebirge, wo die gemeinsame Alp- und Viehwirtschaft ganze Talschaften umfasste.»
In der Schweiz waren für die allgemeine Verbreitung und Ausgestaltung der Genossenschaften die Allmenden zentral. Dies waren Flächen, die als Weide-, Wald- und Ödlandflächen allen offenstehen mussten. Die Gründung von Allmenden lief so ab, dass die Bewohner eines Siedlungsverbandes – eines oder mehrerer Dörfer, Weiler oder Hofgruppen – ein bestimmtes Gebiet zur kollektiven wirtschaftlichen Nutzung aussonderten. Dadurch entstand für eine bäuerliche Familie eine Dreiteilung: Neben der Ackerflur und dem Wohnbereich mit Hofstätten und Garten stellte die Allmende eine dritte Zone dar, die gemeinsam verwaltet wurde. Seit dem frühen Mittelalter versuchte der europäische Adel, die Allmendverfassung zu bestimmen oder mindestens zu beeinflussen. An vielen Orten, so auch auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, konnte sich das Genossenschaftsprinzip aber halten. Durch die Verschiedenheit der lokalen Verhältnisse entstand mit der Zeit eine Vielfalt von genossenschaftlichen Formen.
Die Bildung der Bürgergemeinden
Für den geographischen Raum der heutigen Schweiz schufen die Allmenden im Mittelalter ein wichtiges Fundament gemeinschaftlichen Wirkens und sorgten mit ihren Regeln für Ordnung und Sicherheit. Neben den Allmenden, über die in der Regel alle Agrardörfer bis ins 18. Jahrhundert verfügten, entstanden besondere Genossenschaftsformen, die bestimmten weiteren, kommunalen Zwecken dienten.
Die Genossenschaften entwickelten auf diese Weise eine gemeinschaftsbildende Kraft, ohne die eine Willensnation Schweiz nicht hätte entstehen können. So übernahmen im Laufe des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit die Dorf- oder Talgenossenschaften nebst ihren traditionellen Bereichen noch weitere Aufgaben des Gemeinwerks. Solche waren die Bestellung von Weg und Steg oder etwa Wasserbau, Wasserversorgung, die Erstellung von kirchlichen Bauten oder auch die Fürsorgepflicht für die Armen. Damit entwickelten sich die Dorf- und Talgenossenschaften langsam zu Dorf- und Talgemeinden, dem Fundament des späteren Bundesstaates.
Von Wartburg schreibt zu diesem Vorgang:
«Dieser menschlichen Wirklichkeit, nicht einer abstrakten Idee, entstammt das Schweizer Freiheitsideal […] So steht die schweizerische Staatsbildung im Gegensatz zu allen andern Staatsbildungen Europas. Es liegt ihr nicht der Wille zur politischen Einheit zugrunde, sondern im Gegenteil der Wille zur Erhaltung der ursprünglichen Eigenart und Freiheit der Glieder, somit zur Erhaltung der Mannigfaltigkeit. Ihre Einheit entsteht nicht durch übergeordnete Macht oder durch Gleichförmigkeit, sondern durch freie Zusammenarbeit an gemeinschaftlichen Aufgaben.»
Die Genossen wurden also zu Dorfbürgern und die bisherigen Dorfgenossenschaften entwickelten sich zu Dorfgemeinden. Dies führte bis 1798 zum Entstehungsprozess der heute noch in vielen Kantonen bestehenden Bürgergemeinden.
Die Helvetik (1798–1803) bewirkte die Teilung in Einwohner- und Bürgergemeinde. Dadurch intensivierte sich die Aufteilung der Allmende. Einzelne Allmenden gingen in Pacht- oder Privatbesitz über, andere beanspruchten Einwohnergemeinden, oder es bildeten sich privatrechtliche auf Grunden. Die auf Grunden und Bürgergemeinden sind in der Schweiz bis heute ein wichtiges Traditionsgut und stellen menschliche Verbindungen zu Geschichte und Kultur einer Gemeinde her.
Ohne die Tradition der Allmende und den beschriebenen «Genossenschaftsgeist» hätte in der Schweiz 1848 die Bundesstaatsgründung nicht stattgefunden. Dieser «Genossenschaftsgeist» wurzelt stets im kleinen Raum, eben in der kleinen übersichtlichen Raumeinheit der Gemeinde, die als Grundlage das Genossenschaftsprinzip besitzt. Nur in einer solchen Raumeinheit kann sich eine lebendige genossenschaftliche Selbstverwaltung entfalten. Diese historische Dimension der schweizerischen Gemeinden wird in aktuell stattfindenden Fusionsdiskussionen stets ignoriert oder in geschichtsloser Manier als «weicher Faktor» abgetan.
Die Genossenschaftsbewegung
des 19. Jahrhunderts
Aufbauend auf den beschriebenen schweizerischen Traditionen der Allmende und der Genossenschaften bildete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem mit der zunehmenden Industrialisierung, eine breite Genossenschaftsbewegung. Gewerkschaften, Arbeitervereine (Grütliverein) und linke Parteien waren oft deren Hauptträger. Diese Bewegung – in der Schweiz wie in Europa – drang in neue, auch industrielle Bereiche vor, nicht aber ohne die genossenschaftlichen Grundprinzipien zu bewahren. So entstanden neben den traditionellen landwirtschaftlichen Genossenschaften Produktions-, Konsum-, Wohnbau- sowie Kredit- und Spargenossenschaften.
Die Genossenschaft als Rechtsform wurde 1881 im schweizerischen Obligationenrecht festgeschrieben und erfreute sich zunehmender Beliebtheit. So stieg die Zahl der Genossenschaften in der Schweiz um die Jahrhundertwende massiv an (1883: 373; 1890: 1551; 1910: 7113). Der wichtigste Grund waren vor allem die wiederkehrenden Krisen der kapitalistischen Wirtschaft. Mit der grossen Krise der 1930er Jahre stiegen die Genossenschaftsgründungen nochmals kräftig an, bis sie im Jahre 1957 mit über 12 000 einen Höhepunkt erreichten. Knapp die Hälfte der Genossenschaften war landwirtschaftlicher Natur, neu dazu kamen Dienstleistungsbereiche, wie zum Beispiel die Elektrizitätswirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden besonders häufig Bau- und Wohngenossenschaften gegründet und gefördert.
Die US-amerikanische Politologin Elinor Ostrom (1933–2012) untersuchte in den 1980er Jahren in einer weltweit angelegten grundlegenden Studie die «Verfassung der Allmende». Sie erhielt dafür 2009 als erste Frau den Wirtschaftsnobelpreis. Ausgehend von historischen Beispielen aus verschiedenen Kontinenten zeigt sie die Bedeutung des Genossenschaftsprinzips für die Gegenwart auf. Anhand der Allmende führt sie vor Augen, wie sich Menschen bei knappen, natürlichen Ressourcen organisieren, um gemeinschaftlich komplexe Probleme zu lösen. Ostrom kommt mit ihren umfassenden Studien zum Schluss, dass für eine gute Bewirtschaftung von lokalen Allmendressourcen in vielen Fällen eine Kooperation der unmittelbar Betroffenen besser ist als eine staatliche Kontrolle oder eine Privatisierung. Damit würdigt sie eindrücklich das genossenschaftliche Prinzip.
Zukunft der Genossenschaft
In der Schweiz geniesst das genossenschaftliche Prinzip nach wie vor grosses Vertrauen, allerdings sinkt die Anzahl Genossenschaften in den letzten Jahren. Zudem gerät der ursprüngliche Genossenschaftsgedanke im Rahmen von Grossgenossenschaften immer mehr unter Druck. Wichtig ist, den Ansatz der Genossenschaft wieder breiter zu diskutieren und an den Schulen und Hochschulen zu lehren. Ostrom fand Beispiele der Allmende als Genossenschaftsform überall auf der Welt, in vielen Kulturen und Ländern. Die Genossenschaft erweist sich so als sinnvolles, naturrechtlich begründetes Wirtschaftsmodell, das die Beteiligten demokratisch mit einbezieht und so auch ein Modell für die Entwicklung einer selbstbestimmten politischen Kultur darstellt.
Die drei «Selbst» sorgen im Verbund mit dem Milizsystem für das Einüben einer speziellen demokratischen Kultur. Damit wurde die Genossenschaftsidee historisch betrachtet in vielen Belangen zentraler Bezugspunkt und Fundament für die Entstehung und Entwicklung der direkten Demokratie und der Ausgestaltung des schweizerischen Bundesstaates. Mit der Bezeichnung der «Eidgenossenschaft» besitzt die Schweiz als einziges Land diesen wichtigen historischen Verweis in ihrem Namen.
Genossenschaften können im umfassenden Sinn «Schulen für die Demokratie» sein. Dies alles sind Gründe, die dazu führten, dass die Genossenschaftsidee seit 2016 Teil des immateriellen Unesco-Weltkulturerbes ist. Diese Würdigung unterstützt auch die Forschungsresultate von Elinor Ostrom. •
gl. Die Uno-Generalversammlung hat am 19. Juni 2024 das Jahr 2025 wiederum zum Jahr der Genossenschaften erklärt, zum zweiten Mal nach 2012. Unter dem Motto «Genossenschaften bauen eine bessere Welt auf» wurde Ende November in Neu-Delhi anlässlich der Weltkonferenz der Internationalen Genossenschaftsbewegung ACI (Alliance Coopérative Internationale) das Uno-Genossenschaftsjahr 2025 eröffnet. Rund 3000 Repräsentanten von Genossenschaften aus 100 Ländern waren vertreten. Uno-Generalsekretär António Guterres nahm ebenso daran teil wie der indische Premierminister Narendra Modi und der General-direktor der Weltarbeitsorganisation ILO, Gilbert F. Houngbo. Organisiert wurde der Anlass von der Indian Farmers Fertiliser Cooperative Limited (IFFCO) und 18 weiteren Genossenschaften in Indien. Die Konferenz brachte weltweit führende Persönlichkeiten der Genossenschaftsbewegung zusammen, um Herausforderungen und Chancen der Genossenschaftsbewegung auszuloten mit dem Ziel, eine gerechtere und nachhaltigere Welt aufzubauen. Auch die weltweit bedeutende Genossenschaftsbewegung des spanischen Baskenlands war mit einer grossen Delegation anwesend, mit Regierungsvertretern, den Instituten für Genossenschaftsstudien der drei baskischen Universitäten Lanki (Universität Mondragón), Gezki (EHU/UPV) und Deusto, und der weltweit grössten Genossenschaft Mondragón.
In diesem Jahr soll der Genossenschaftsgedanke weltweit gestärkt werden. Bereits jetzt sind 12 % der Weltbevölkerung Mitglieder von insgesamt drei Millionen Genossenschaften. Damit soll ein gerechteres und gleichwertigeres Unternehmensmodell gefördert werden, mit dem auch die Nachhaltigkeitsziele der Uno für 2030 erreicht werden können.
Quelle: TULankide 631 Mondragón
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