2024 hätte die Welt das 75jährige Jubiläum der Genfer Konventionen begehen können. Alle Staaten haben sie am 12. August 1949 unterzeichnet. Zusammen mit anderen Texten bilden sie das moderne Humanitäre Völkerrecht. Ein Jahr zuvor, 1948, ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet worden, die heute zum Völkergewohnheitsrecht gehört und zum ersten Mal in der Geschichte Europas allen Menschen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zusichert:
«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.»
Die Schöpfer der Konventionen hatten die Bombennächte, die Massenmorde und die Atomwüsten am eigenen Leibe erlebt: Nie wieder. Die Gräber der Millionen ihrer Verwandten waren noch frisch. Und das fürchterliche Verbrechen der ersten Atombomben hat sie ahnen lassen, was nach Auschwitz noch kommen könnte. Wieviel Herzblut haben sie hineingegeben! Wieviel Hoffnungen hat die Welt aus diesen Versprechen der natürlichen Rechte aller geschöpft. Ein Trost für die Trauer um die Millionen Ermordeten.
Und heute?
Toben weltweit über 120 Kriege, und es mutet einen wie Hohn an, das 75jährige Jubiläum des Humanitären Völkerrechts feiern zu wollen.
Im grauenhaften Wüten des Völkermordes am palästinensischen Volk, um nur das Schlimmste zu nennen, haben die kriegführenden westlichen Eliten vergessen, dass wir Menschen sind, und handeln nur noch nach dem Grundsatz: «Anything goes.»
500 Jahre Geschichte des modernen Völkerrechts in Europa sind im Westen aus dem öffentlichen Leben ausgelöscht. Anders als im zahlenmässig überwiegenden Rest der Welt.
Trotzdem soll des 75jährigen Jubiläums des Humanitären Völkerrechts gedacht werden, indem wir an seine 500jährige Vorgeschichte erinnern.
Gegen die Willkür
des reinen Machtstaates
Es war das Naturrecht, das vor allem seit der frühen Neuzeit in langen Auseinandersetzungen eine Menschen- und Völkerrechtsordnung hervorgebracht hat, die in der europäischen Geschichte seit der frühen Neuzeit Widerstand leistete gegen den reinen Machtstaat und dessen Dogma, dass der Nutzen der einzige und wahre Grund des Rechts sei. Mit dem spätrömischen Kaiserreich bricht der erste imperiale Machtstaat Europas an seinem kranken Macht- und Grössenwahn zusammen und streut einen «tödlichen Samen», wie der grosse Baden-Badener Dichter Reinhold Schneider in seinem Essay «Macht. Die Rechtfertigung der Macht» schreibt: Bis heute erlebte Europa während anderthalb Jahrtausenden immer wieder neue Versuche, die «caesarische Macht» des römischen Machtstaates erneut zu kopieren, ja, zu übertreffen – deren Zusammenbrüche nicht enden wollendes Leid über die Völker brachten und bringen. Reinhold Schneider hat das eindrücklich beschrieben:
«Europa bietet in einem Zeitraum von anderthalb Jahrtausenden den Anblick mit ungeheurer Schnelligkeit erblühender und verwelkender Reiche; die Aura der Macht, die eines nach dem anderen über den Erdkreis wirft, scheint kaum mehr zu sein als ein Blitz; nach dem Zerfall des Reiches […] vollzieht sich der Wechsel der Vormacht in immer gefährlicherer Schnelle; die höchste Macht: das Imperium, das heisst das Erbe Roms, wird als Antrieb in allen Völkern lebendig; es ist, als habe das längst hingeschwundene römische Weltreich noch in seinem Untergang tödlichen Samen gestreut: alle Völker, selbst diejenigen, deren natürlicher Lebensraum einer solchen Nachfolge spottet, erstreben cäsarische Macht. […] Lissabon zur Zeit des portugiesischen Imperiums […] [erhob] den Anspruch, Rom, das zugleich als Stadt der Caesaren wie des Papstes erschien, zu übertreffen. Die architektonischen Formen Roms, die in fast allen Machtzentren Europas und selbst Amerikas erscheinen, bekunden eine Nachfolge nicht nur im künstlerischen Sinn: sie drücken die Übernahme einer gefährlichen Erbschaft aus, deren dämonischem Zwang die Völker, sobald ihr Machtbewusstsein wuchs, nicht widerstehen konnten. […] Und Rom, so dürftig auch die Mauerreste sind, die es im Gebiete Londons hinterliess, durchwuchs in der Tat die englische Hauptstadt, die Formen wieder emportreibend, die einstmals die Weltherrschaft ausdrückten […].» (Schneider, 1977, S. 16–17)
Widerstand der Dominikaner
Im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts beginnt die Geschichte des modernen Völkerrechts als heftige Auseinandersetzung mit der blutigen Eroberung und Kolonisierung Amerikas durch die spanischen und portugiesischen Weltreiche. Spanien ist damals die einzige Nation, in der eine Gruppe einflussreicher Christen aus dem Orden der Dominikaner das Unrecht des Kolonialismus’ öffentlich bekämpft: die Schule von Salamanca. Vor allem in ihren Reihen entsteht das frühe moderne Völkerrecht, das von Anfang an angewandtes Naturrecht ist.
Die spanischen Rechtsgelehrten dieser Naturrechtsschule treten ihren christlichen Landsleuten in den mittel- und südamerikanischen Kolonien mit der revolutionären Forderung entgegen, dass alle Menschen, auch die heidnischen Indios, allein weil sie der menschlichen Gattung angehören, frei und gleich geboren sind (vgl. de Vitoria 1952 und Fisch 1984). Das Recht auf Leben und Freiheit, so formulieren sie rund 200 Jahre vor der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, sei nicht davon abhängig, ob man getauft sei, sondern allgemeingültiges natürliches Recht.
Die von den Naturrechtlern der Schule von Salamanca erstrittenen «neuen Rechte» gelten ab 1542 für die Indios, scheitern aber 1545 am Widerstand der spanischen Kolonialisten (vgl. Neumann 1990). Man muss aber sehen: Mit der Gegenwehr der Schule von Salamanca gegen das Unrecht des aufkommenden Kolonialismus werden die Grundzüge geschaffen, welche die Aufklärung des 18. Jahrhunderts nur noch politisch umzusetzen braucht, ohne dem von Salamanca Geschaffenen etwas grundsätzlich Neues hinzuzufügen.
Neben alten Rechtsgebilden wie Verfassungen, Thronfolgerecht, Lehnsrecht und Kirchenrecht bildet sich in der Folge das «frühmoderne Völkerrecht» als ein eigenständiges besonderes Recht zwischen den voneinander unabhängigen weltlichen und klerikalen Herrschaftsgebilden in Europa heraus, den «frühmodernen Staaten» (vgl. Oestreich 1969).
«Mensch – Staat – Völkergemeinschaft»
2011 erscheint im Stämpfli-Verlag Bern das Buch von Iris Glockengiesser: «Mensch – Staat – Völkergemeinschaft. Eine rechtsphilosophische Untersuchung zur Schule von Salamanca», in welcher sie die historische Bedeutung der Schule von Salamanca neu beleuchtet, und zwar als Begründerin
«des modernen Völkerrechts und eines neuen Konzepts der Völkergemeinschaft – stets auf der Grundlage der Lehren von Thomas von Aquin und Aristoteles –, allerdings angepasst an die Erfordernisse der beginnenden Neuzeit, der Entdeckung neuer Völker und den damit verbundenen Fragestellungen. Dabei versuchten die Gelehrten der Schule von Salamanca im Rahmen ihres christlichen Grundverständnisses der Welt, den Menschen im neu entdeckten Amerika jenen Stellenwert einzuräumen, der ihnen als freien und gleichen Menschen zustehen musste.» (Glockengiesser, S. 1)
Dies bedingte ein neues Konzept der Weltgemeinschaft, die sich nicht mehr nur auf die christliche Welt beschränkte, «sondern einen totus orbis […], also die Weltgemeinschaft als eine moralische Person, die auf der Basis des Naturrechts alle Völker umfasst.» (Glockengiesser, S. 1)
Die Gelehrten der Schule von Salamanca waren Universalgelehrte: Sie hatten Theologie studiert und sich auch mit dem Recht und der Philosophie beschäftigt. Die bedeutendsten spanischen Theologen und Juristen des siglo de oro, des «Goldenen Zeitalter» Spaniens (Beginn 1492, kulturelle Blütezeit 1550–1660), standen in Verbindung zur Universität von Salamanca, dem damaligen geistigen Zentrum Spaniens. Daraus ergab sich die Bezeichnung Schule von Salamanca. Der Begründer dieser Schule war Francisco de Vitoria (1483–1546), ein katholischer Moraltheologe und Naturrechtslehrer. Ein weiterer bedeutender Vertreter war Francisco Suárez (1548–1617), Jesuit, Theologe und Philosoph. Insbesondere Hugo Grotius und Samuel Pufendorf beriefen sich in ihren Ausführungen auf ihn. Das Konzept der Schule von Salamanca behandelte die Trias Mensch – Staat – Völkergemeinschaft, die inhaltlich eng miteinander verbunden sind.
Die Begegnung mit
bisher unbekannten Kulturen
Die Schule von Salamanca begründete das moderne Völkerrecht und formulierte ein neues Konzept einer Völkergemeinschaft, einer Weltgemeinschaft, die auf der Basis des Naturrechts alle Völker umfasst. Die Entdeckung und Eroberung Südamerikas stellt dabei den historischen Hintergrund dar für das Durchdenken und Ausformulieren der Grundgedanken der Menschenrechte. Die Begegnung der Christen mit den Indios und deren bisher unbekannten Kulturen veränderte das bisherige mittelalterliche Weltbild, indem es ganz neue Fragen aufwarf:
Sind diese Wesen, die Indios, Menschen wie wir? Welche Legitimität haben die indianischen Stämme? Sind das echte Staatsgemeinschaften? Darf man diese Menschen versklaven, ihr Land einfach in Besitz nehmen? Können Nichtchristen/Ungläubige über volles menschliches Recht verfügen?
Zweifellos bestand vor allem die Absicht, ja, die vermeintliche Pflicht zur Evangelisierung der Indios; gleichzeitig erwartete man auch wirtschaftlichen Profit; wobei eine menschenwürdige Behandlung der Indios zumindest vom Königshaus angenommen wurde.
Die Grundannahme, von der Francisco de Vitorio und Francisco Suárez ausgingen, ist die angeborene Gleichheit aller Menschen. Sie verfügen über die Fähigkeit zu Vernunft, über natürliche Freiheit und zeichnen sich als Menschen durch ihre gemeinschaftsbildende Sozialnatur aus.
I. Vernunftfähigkeit
Es ist grundsätzlich seine Vernunftfähigkeit, die den Menschen ausmacht und ihn als Ebenbild Gottes kennzeichnet, unabhängig davon, ob er an Gott glaubt oder nicht. Die Unterschiede in seinen Lebensweisen, sein Glaube, die Formen seines Zusammenlebens und seine Gebräuche, sind ausschliesslich eine Frage der Erziehung und Unterweisung.
Das Menschsein der Indios war schon vor ihrer Entdeckung vollumfänglich vorhanden. Sie gehören zur Gemeinschaft aller Völker und sie verfügen von Natur aus über menschliche Würde. Auch beweisen die geordneten Formen ihres Zusammenlebens die grundsätzliche Vernunftfähigkeit der Indios.
Aus der Vernunftfähigkeit leitet sich das Recht auf Eigentum ab. Entsprechend haben die Indios das Recht darauf, vollständig über ihr eigenes Leben und alles, was dazugehört, zu verfügen.
Zeitgleich gab es allerdings auch Vertreter einer Gegenposition, die behaupteten, die Indios seien nicht vernunftfähig und dementsprechend von Natur aus nicht gleichwertig, sondern minderwertig. Daher habe man das Recht, sie zu beherrschen; sie bedürften sogar der Unterwerfung unter die ihnen überlegenen, höherwertigen (Christen-) Menschen.
II. Natürliche Freiheit
Der Mensch verfügt über eine von der Natur gegebene, daher natürliche Freiheit. Von Natur aus gibt es keine Sklaven, es gibt also kein natürliches Recht, Menschen zu versklaven. Tatsächlich entstand damals aber eine grosse Debatte darüber, unter welchen Umständen es sehr wohl möglich sein könnte, Menschen zu ihrem eigenen Wohl oder auf Grund von schuldhaftem Verhalten oder kriegerischen Auseinandersetzungen zu versklaven. Es gebe in bestimmten Situationen legitime Gründe, einen Menschen zu versklaven. Verneint wird hier die Behauptung einer naturgegebenen Sklaverei.
III. Soziale Natur des Menschen
Der Mensch ist wesentlich durch seine soziale Natur gekennzeichnet. Dies beinhaltet die Notwendigkeit der Gemeinschaftsbildung. Der Mensch sucht und braucht die Gemeinschaft, einerseits, weil er allein nicht überleben kann, und andererseits, weil er nur im Zusammenleben seine Fähigkeiten vollständig entwickeln kann.
«So wie der Mensch die übrigen Lebewesen an Verstand, Weisheit und Sprache übertrifft, so wurde ihm […] vieles von der lenkenden Vorsehung vorenthalten, was den übrigen Lebewesen zugeteilt und zugestanden wurde. Schon zu Beginn nämlich teilte die Natur allen anderen Lebenwesen gleichsam als Mutter sofort bei ihrer Geburt ihre Schutzkleidung zu, damit für die Unversehrtheit und den Schutz der Tiere Sorge getragen sei […] Den Menschen aber, auch wenn er mit Vernunft und Tugenden ausgestattet ist, liess die Natur verletzlich, schwach, mittellos und ungeschützt, ganz ohne Hilfsmittel, überall bedürftig, nackt und unbehaart […]. Damit also in derartigen Notlagen Abhilfe geschaffen werde, wurde es nun notwendig, dass die Menschen nicht unstet umherirrten und sich wie wilde Tiere in der Einsamkeit zerstreuten, sondern dass sie sich gegenseitig Hilfe leisteten, indem sie in Gesellschaft zusammenlebten.» (Vitoria, zit. nach Glockengiesser S. 31)
Nur innerhalb der menschlichen Gemeinschaft kann sich der Mensch zu seiner vollen Blüte, zu allen Möglichkeiten seiner Existenz vollständig entwickeln. Das wiederum führt zur Notwendigkeit der Bildung staatlicher Gemeinschaften.
«Weil nun die menschlichen Gesellschaften wegen dieses Zieles, damit nämlich der eine des anderen Last trage, gegründet wurden und weil von allen Gesellschaften die staatliche Gesellschaft diejenige ist, in welcher die Menschen am bequemsten ihren Notlagen begegnen, folgt, dass ein Gemeinwesen sozusagen die natürlichste Art des gegenseitigen Austausches und der Natur am angemessensten ist.» (Vitoria, zit. nach Glockengiesser S. 32)
Teil der Gemeinschaft aller Menschen
Seine Sozialnatur entspricht seiner Vernunftnatur und seiner Freiheit; dabei ist der Mensch von Geburt an Teil der Gemeinschaft aller Menschen, der er sich als ursprüngliches Gemeinschaftswesen nicht entziehen kann. Der Mensch braucht das Gegenüber sowohl zur Perfektionierung des Geistes wie auch zur Bildung von Freundschaften,
«selbst wenn das Leben sicher wäre und sich selbst genügte, könnte es dennoch in Einsamkeit nur unangenehm und unerfreulich sein.» (Vitoria, zit. nach Glockengiesser, a.a.O.)
«Die gesellschaftsbildende Sozialnatur des Menschen gründet folglich in dem Streben nach Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse, aber auch nach Erwerb der Sprache und intellektueller Bildung sowie nach Gerechtigkeit und Freundschaft. Letztere seien eine Zierde des menschlichen Willens, die ausserhalb einer Gemeinschaft gänzlich ungebildet und sozusagen verstümmelt bleiben müssten. Denn auch Gerechtigkeit und Freundschaft seien immer auf die Existenz von Mitmenschen ausgerichtet; folglich zeige auch der menschliche Wille, dass der Mensch ein ‹auf seine Mitmenschen bezogenes Geschöpf› sei.» (Glockengiesser a.a.O., S. 33)
Der Mensch schliesst sich also in (staatlichen) Gemeinschaften zusammen, um ganz Mensch sein zu können. Dies ist als Akt des freien Willens zu verstehen und bedeutet nicht, dass er damit seine Freiheit verliert. Aber es erwachsen ihm Pflichten, die sich aus dem Leben in Gemeinschaft ergeben. Die Freiheit des Individuums verlangt gleichzeitig die Einbindung in eine staatliche Gemeinschaft, die notwendig auch Pflichten beinhaltet.
Zweck des Sozialen:
das allgemeine Wohl
Neben dem Zweck der gegenseitigen Hilfe und der Entfaltung aller Kräfte kann der Bildung menschlicher Gemeinschaften noch ein anderer Zweck zugeschrieben werden: die Erhaltung des sozialen und politischen Friedens. Ohne die friedliche Koexistenz der Menschen und damit auch der Völker ist die gegenseitige Hilfe schwer aufrechtzuerhalten.
Die Staatsbildung soll diesem Ziel dienen, und somit besteht der Gesamtzweck des Staates darin, dass die Menschen ihrer Natur entsprechend friedlich gemeinsam leben können. (vgl. Glockengiesser a.a.O., S. 35)
Die Communitas perfecta verlangt niemals eine Unterwerfung unter Einzelwesen, aber sie bedeutet Einordnung in die Verpflichtung einer nach Vollkommenheit strebenden Gemeinschaft, d.h. einer Lebensgemeinschaft, die sich um ein höchstes Mass an Gerechtigkeit und Perfektion bemüht.
Der Mensch ist kein allein auf sich selbst bezogenes Ich, er hat immer einen Anteil des Sozialen in sich, der die Menschen untereinander verbindet und zum Respekt vor dem anderen verpflichtet. Dieser Respekt verpflichtet zur Hilfestellung und Verteidigung der anderen. Das Wohl des Menschen kann sich nur in und durch Gemeinschaften entfalten, dementsprechend kann das Einzelwohl nicht bestimmt werden, ohne das Gemeinwohl aller zu beachten (vgl. Glockengiesser a.a.O., S. 37).
Staatszweck: Vervollkommnung des
Menschen in Frieden und Sicherheit
Die Gründung einer politischen Gemeinschaft, eines Staates, ist nach dem Konzept der Schule von Salamanca eine Kombination aus der sozialen Natur des Menschen, seiner natürlichen Veranlagung zur Gemeinschaftsbildung und seinem freien Willen: Vitoria zufolge schliesse sich der Mensch aus freiem Willen und in Kenntnis seiner Natur mit anderen zusammen, um seine Vervollkommnung zu erreichen und in Frieden und Sicherheit leben zu können. Damit kommen einem Staat zwei Aufgaben zu: die Vollendung des Menschen und die Förderung des Gemeinwohls, des Bonum commune. Der Staat soll ein friedliches Zusammenleben der Mitglieder der Gemeinschaft garantieren und die Einheit und Ordnung herstellen. Der Staat stellt die Bedingungen und die Mittel bereit, mit Hilfe derer die Bürger das Gemeinwohl erlangen können. Die Gesetze eines Staates müssen auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein, andernfalls können sie nicht gerecht sein.
So ist der Staat nichts anderes als die am besten organisierte Gemeinschaft des Menschen. Da die Bürger immer die Träger der Staatsgewalt bleiben, ist die Grundlage des Staates demokratisch. Die Frage nach der besten Regierungsform – ein Herrscher oder eine Gruppe von Herrschern – bleibt sekundär, solange sich die Herrschaft nicht in eine Tyrannei verwandelt. Diese schadet eindeutig dem Gemeinwohl. Damit sind alle möglichen Staaten bzw. Staatsformen gleich(wertig), und vor allen Dingen sind sie souverän. Kein Staat steht über dem anderen, so wie kein Mensch über dem anderen steht: Kein Volk kann sich zum Herrscher über ein anderes Volk aufschwingen.
Auch Kinder ihrer Zeit …
In manchen Fragen blieben auch die Gelehrten der Schule von Salamanca Kinder ihrer Zeit:
Dies weiterzuentwickeln blieb und bleibt nachfolgenden Generationen als Aufgabe. Ihre Auffassung jedoch, dass alle Menschen – Spanier, Christen und die Menschen der Neuen Welt – gleich und frei geboren seien, war in der damaligen Zeit ein revolutionärer Gedanke. Ebenso revolutionär waren ihre Gedanken zum Staat und zur Völkergemeinschaft: Eine universelle internationale Gemeinschaft bildet die Grundlage, in der alle Staaten, unabhängig von ihrer religiösen oder kulturellen Ausrichtung, als Teil eines Ganzen angesehen werden, als Teil der internationalen Gemeinschaft, welche für die Förderung des Gemeinwohls aller Menschen sorgen muss. In diesem Sinne schliessen wir uns den Schlussworten von Iris Glockengiesser an:
«Friede, Sicherheit und die Gewährung der Menschenrechte als oberste Ziele jedes einzelnen Menschen, aber auch jedes Staates und der gesamten Völkergemeinschaft können nur gemeinsam erreicht werden. Aber nur, wenn wir alle – ganz im Sinne der Schule von Salamanca – unseren Beitrag zum Bonum commune und zum Bonum totius orbis zu leisten bereit sind.» (Glockengiesser, S. 110)
Naturrecht –
«Grundwissenschaft des sozialen Lebens»
Seit der Schule von Salamanca entsteht das neuzeitliche Naturrecht in der frühen Neuzeit in Europa aus der christlichen Kultur heraus. Es geht von der menschlichen Sozialnatur aus, also von der Anthropologie, und mündet spätestens mit Hugo Grotius und Samuel Pufendorf Mitte des 17. Jahrhunderts in das Projekt einer «Grundwissenschaft des sozialen Lebens» (Wolf, S. 260) des Menschen. Nicht im Gegensatz zur christlichen Lehre oder im Kampf gegen sie. Auch nicht als Anwendung der neuen physikalischen oder mathematischen Methoden der aufkommenden Naturwissenschaften. Es ist eine eigenständige Erfahrungswissenschaft, die aus der menschlichen Sozialnatur natürliche Gesetzmässigkeiten des sozialen Zusammenlebens ableitet. Prägnant wie kaum jemand formuliert das Samuel Pufendorf:
«Der Mensch ist also das Lebewesen, das am meisten auf seine Selbsterhaltung bedacht ist. Dabei ist er aber auf sich allein gestellt ganz hilflos. Er ist nicht in der Lage, ohne Unterstützung von seinesgleichen zu überleben, ist aber auch bestens geeignet zur gegenseitigen Förderung. […] Daraus ergibt sich, dass der Mensch, um zu überleben, ein Leben in Gemeinschaft führen muss, d.h., er muss sich mit seinen Mitmenschen zusammentun und sich ihnen gegenüber so betragen, dass sie ihrerseits nicht jeden Vorwand ergreifen, ihm zu schaden, sondern statt dessen bereit sind, auch seinen Vorteil zu wahren und zu fördern. Die Regeln dieses Gemeinschaftslebens oder die Lehren darüber, wie sich ein jeder betragen muss, um ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein, werden als Naturrecht bezeichnet. Daraus ergibt sich folgende Grundregel des Naturrechts: Jeder muss die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern. Nach dem Grundsatz: ‹Wer ein Ziel will, dessen Wille umfasst notwendigerweise auch die Mittel, ohne die das Ziel nicht erreicht werden kann.› folgt daraus: Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in Gemeinschaft notwendig und nützlich ist; was stört und schadet, ist verboten. Alle übrigen Vorschriften, deren Richtigkeit im Lichte der natürlichen Vernunft, die dem Menschen gegeben ist, unmittelbar einleuchtet, sind nur Folgesätze dieses obersten Grundsatzes. […] Die Natur des Menschen ist so beschaffen, dass die Menschheit ohne das Leben in der Gemeinschaft nicht bestehen kann. Und der Mensch ist auch imstande, mit Hilfe seines Verstandes, die hierher gehörenden Gebote zu erkennen.» (Pufendorf, 1994, Kapitel 3)
Dieses Projekt einer Wissenschaft vom Menschen entsteht von Christen innerhalb des Christentums im Einklang mit der Bibel, versteht sich aber nicht als Theologie, sondern als Anwendung vernünftigen rationalen Denkens und Schliessens auf die Natur des Menschen. Hier wächst heran, was im 18. Jahrhundert als politische Aufklärung auftritt: Naturrecht. Etwas vereinfacht skizziert Pufendorf es so: Die Theologie lehrt uns über das Leben nach dem Tode, das Naturrecht gibt uns die Regeln des Gemeinschaftslebens auf dieser Erde vor dem Tode.
Mit der Schule von Salamanca begann die Entwicklung des modernen Völkerrechts mit seinem naturrechtlichen Konzept der Menschenrechte. Es berief sich bereits rund 250 Jahre vor den Menschenrechtserklärungen im Zeitalter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts auf die angeborene Freiheit und Gleichheit aller Menschen und entwickelte sich – innerhalb des Christentums – unter anderem auch zu einer Bewegung gegen die Unterdrückung fremder Völker durch christliche Nationen. •
Literatur
Fisch, Jörg. Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984
Glockengiesser, Iris. Mensch – Staat – Völkergemeinschaft. Eine rechtsphilosophische Untersuchung zur Schule von Salamanca, Bern 2011
Neumann, Martin. LasCasas. Die unglaubliche Geschichte von der Entdeckung der Neuen Welt, Freiburg/Br. 1990, S. 177–186
Oestreich, Gerhard. Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969
Pufendorf, Samuel. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Frankfurt am Main 1994, Kapitel 3, § 7, § 8, § 9, § 11
Schneider, Reinhold. «Macht. Die Rechtfertigung der Macht», in: Schneider, Reinhold. Gesammelte Werke, herausgegeben von Edwin Maria Landau, Band 8, Frankfurt/Main 1977, S. 16–17
de Vitoria, Francisco. De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in Barbaros relectiones, 1539, Vorlesung über die kürzlich entdeckten Inder und das Recht der Spanier zum Krieg gegen die Barbaren, herausgegeben und übersetzt von Walter Schätzel, Tübingen 1952
Wolf, Erik. Grosse Rechtsdenker der deutschen Gei-stesgeschichte, 4. Auflage, Tübingen 1963, S. 260
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