Erfassen, was in Israel und Palästina schon sehr lange passiert

von Dr. Matin Baraki

«Die ethnische Säuberung Palästinas». Wenn ein Mensch nicht jüdischen Glaubens so ein Buch geschrieben hätte, wäre er unweigerlich als antisemitisch und antiisraelisch gebrandmarkt worden. Aber der in Haifa geborene Historiker Ilan Pappe ist Sohn von deutschen Eltern jüdischen Glaubens, die vor den deutschen Faschisten geflüchtet waren. Er hat in Jerusalem studiert und war bis 2007 Professor an der Universität Haifa.

Die ethnische Säuberung Palästinas bzw. die Vertreibung des arabischen Volkes von Palästina aus seiner Heimat wurde schon auf dem ersten zionistischen Kongress im August 1897 in Basel konzipiert, wo Theodor Herzl seine Strategie vom «Judenstaat» vorstellte.
  Am 10. März 1948 traf sich David Ben-Gurion, erster Ministerpräsident Israels, mit elf Funktionären der jüdischen Einwanderer in Tel Aviv, und sie beschlossen die ethnische Säuberung Palästinas. Obwohl das Land noch unter britischem Mandat stand, begannen sie unter Führung von Moshe Dayan, später Verteidigungsminister, Menachem Begin und Yitzchak Rabin, beide später Ministerpräsidenten und letzterer sogar Friedensnobelpreisträger, die arabisch-palästinensischen Ortschaften anzugreifen. In kurzer Zeit wurden elf Stadtviertel und insgesamt 531 palästinensische Ortschaften zwangsgeräumt bzw. gesäubert, zahlreiche Dörfer wurden dem Boden gleichgemacht, und 800000 Menschen flohen, um ihr Leben zu retten. So lautet die Quintessenz des Buches – auf der Rückseite des Deckblattes kurz zusammengefasst. «Die Mission wurde erfolgreich ausgeführt» (S. 103), betonten die jüdischen Kämpfer. Am 7. Februar 1948 habe Ben Gurion das geräumte und zerstörte Dorf Lifta besucht und festgestellt: «Wenn ich jetzt nach Jerusalem komme, habe ich das Gefühl, in einer jüdischen (Jvrit) Stadt zu sein.» (S. 103) Ben Gurion meinte sogar: «Wenn wir unbeirrt weitermachen, ist es durchaus möglich, dass es in den nächsten sechs bis acht Monaten beträchtliche demographische Veränderungen gibt, ganz beträchtliche Veränderungen zu unserem Vorteil.» (S. 103f.) Es sei an der Zeit, «energisch und brutal» (S. 105) zu handeln. So forderte er, «erbarmungslos» gegen alle Familien vorzugehen, «Frauen und Kinder eingeschlossen». Während der Operation sei «es nicht nötig, zwischen schuldig und unschuldig zu unterscheiden» (ebd.), wurde hervorgehoben. Der damals noch zwölfjährige Junge, Fahim Zaydan, erinnerte sich später an die Ermordung seiner Familie. Die jüdische Mördertruppe habe die Menschen nacheinander aus den Häusern herausgeholt, einen alten Mann ermordet, dann seine Tochter, danach seinen eigenen Bruder. «Als meine Mutter sich schreiend über ihn beugte – sie hatte noch meine kleine Schwester Hudra im Arm, die sie gerade stillte –, erschossen sie sie auch.» (S. 130) In Deir Yassin hätten die jüdischen Truppen ein Massaker mit bis zu 170 Todesopfern (S. 131) und in Khirbat ein weiteres Massaker angerichtet (S. 132). In Haifa und Umgebung habe die «ethnische Säuberung» eine so «tödliche Geschwindigkeit» (S. 154) angenommen, dass in kurzer Zeit Menschen aus 15 Dörfern vertrieben wurden. In manchen dieser Dörfer lebten 300, in anderen 5000 Menschen, so beschreibt es Ilan Pappe.
  Das sind nur einige wenige Beispiele aus der Vorgeschichte des Palästina–Israel-Konfliktes. Das ganze Buch wird von unzähligen Brutalitäten und Verbrechen seitens der israelischen Besatzer am palästinensischen Volk durchzogen. Am Ende des Buches fragte ich mich: Wie können die Nachfahren von Menschen, deren Grosseltern und Eltern Auschwitz erlebt hatten, ein anderes Volk so grausam behandeln, wie es seit 1948 in Palästina und zurzeit in Gaza passiert? Wer das Buch aufmerksam liest, findet bei Ilan Pappe auch auf diese Frage eine angemessene Antwort.
  Wenn man den heutigen Widerstand der Palästinenser und den israelischen Krieg verstehen will, sollte man dieses hervorragend recherchierte und äusserst interessante und informative Werk unbedingt lesen und die darin dokumentierten Fakten berücksichtigen. Vor allem den Menschen, die eine minimale Kritik an der israelischen Regierungspolitik für antisemitisch halten, sei dieses Buch besonders empfohlen. Autor und Verlag ist für die nun erschienene Neuauflage sehr zu danken. •



Pappe, Ilan. Die ethnische Säuberung Palästinas. Westend Verlag, Neu-Isenburg, 4. Aufl. 2024, 413 Seiten

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