von Karl-Jürgen Müller
Mir fällt es heute nicht mehr leicht, etwas über Deutschland zu schreiben. So vieles liegt im argen. Schnelle Lösungen sind nicht in Sicht. Schönzureden und falsche Hoffnungen zu machen, ergibt keinen Sinn.
Bundestagswahlen …
Am 23. Februar können die wahlberechtigten Deutschen ein neues Parlament und damit mittelbar auch die neue Regierung wählen. Derzeit sagen die Umfragen1, dass CDU und CSU zusammengerechnet mit 31 Prozent die meisten Stimmen erhalten würden (aber nicht die absolute Mehrheit). An zweiter Stelle steht die AfD mit 20 Prozent. Allerdings wird die AfD wie ein politischer Paria behandelt, und die Partei wird trotz eines hohen Stimmenanteils nicht an der Regierung beteiligt werden. Die FDP und die Linke liegen derzeit unter 5 Prozent, und es ist ungewiss, ob sie wieder in den Bundestag einziehen werden. SPD (17 Prozent) und Bündnis 90/Die Grünen (12 Prozent) müssen mit schweren Einbussen gegenüber den Wahlen vor dreieinhalb Jahren rechnen. Ganz neu in den Bundestag kommen wird sehr wahrscheinlich das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) (derzeit 7 Prozent). Sehr wahrscheinlich werden CDU und CSU den nächsten Bundeskanzler (Friedrich Merz von der CDU) stellen. Mit wem sie zusammen regieren werden, ist noch offen.
… versprechen keine Besserung
Sind mit dem neu gewählten Parlament und der neuen Regierung Besserungen in Sicht? Ich habe grosse Zweifel. Der deutsche Parteienstaat führt ein Eigenleben mit ganz besonderen Abhängigkeiten – nicht von den Bürgern. Von ihnen hat er sich weit entfernt.
In der Schweiz haben die Bürger mehr politische Gestaltungsmöglichkeiten. Das wäre auch für Deutschland eine Hoffnung. Werner Wüthrich hat in seinem umfangreichen Buch «Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz. Geschichte der freiheitlich-demokratischen Wirtschaftsverfassung der Schweiz» (ISBN978-3-909234-24-0) dargelegt, welch ein Segen für das Land, dessen wirtschaftliche Entwicklung und dessen sozialer Frieden die Verantwortlichkeit aller Stimmbürger war und ist.
Aber von einer direkten Demokratie ist in Deutschland kaum noch die Rede.
Trotzdem heisst es noch immer offiziell, Deutschland sei eine Demokratie. Das Demokratieprinzip ist in der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, in Artikel 20 festgeschrieben. Dort heisst es: «Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.» Neben dem Demokratieprinzip gibt es dort weitere verfassungsrechtliche Bestimmungen mit Ewigkeitsanspruch gemäss Artikel 79, Absatz 3: das Rechtsstaats-, das Sozialstaats- und das Bundestaatsprinzip. Und zum Rechtsstaat gehören unverzichtbar die Garantie der Grundrechte sowie die Gewaltenteilung und die Gewaltenkontrolle. Das ist alles sehr gut, auch wenn die direkte Demokratie fehlt.
Nicht zuletzt wegen seiner Geschichte hat sich Deutschland in seiner Verfassung zudem ausdrücklich dem Frieden verpflichtet. In der Präambel heisst es, das «Deutsche Volk» habe sich entschieden, «dem Frieden der Welt zu dienen». Artikel 25 macht «die allgemeinen Regeln des Völkerrechts» zu einem «Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.» Und Artikel 26 legt fest: «Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig.» Sie sind sogar «unter Strafe zu stellen». Auch das ist sehr gut.
Sie halten sich
nicht mehr ans Grundgesetz
Das Problem im heutigen Deutschland ist: Der Parteienstaat hält sich nicht mehr an das, was das Grundgesetz sehr gut formuliert hat. Abhilfe über Wahlen ist derzeit (siehe oben)nicht in Sicht. Die etablierten Parteien (CDU, CSU, FDP, SPD, Bündnis 90/Die Grünen) haben das zusammen mit den ihnen dienstbaren Medien und anderen politisch einflussreichen Lobbys angerichtet. Abhilfe über den Rechtsweg ist zum Lotteriespiel geworden. Manchmal bekommt der Bürger Recht, oftmals nicht.2 Die verschiedenen Formen politischer Meinungsäusserung werden immer mehr eingeschränkt. Die Frage ist berechtigt: Befindet sich das real existierende Deutschland schon in einem Zustand, für den das Grundgesetz Artikel 20, Absatz 4 vorgesehen hat? Dort heisst es zum Schutz der Verfassungsordnung: «Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.»
Das ist ein wichtiger Absatz im Grundgesetz. Aber in der konkreten Praxis wäre die Berufung darauf ein Wagnis, eher tollkühn als mutig.
Was also tun?
Nichts zu tun, ist unwürdig. Aber ein langer Atem wird notwendig sein. Zu Beginn des Jahres 2025 wünsche ich dem Land, dass eine öffentliche Stimme der Menschlichkeit, des Rechts und des Friedens erwächst. Deutschland braucht Bürger mit Zivilcourage.
Vier Vorschläge seien zur Diskussion gestellt.
Meinungsäusserungs-
und Informationsfreiheit
Erstens: das Jahr 2025 zum Jahr der Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit zu machen. Dieses in Artikel 5 Grundgesetz garantierte Grundrecht ist von existentieller Bedeutung für die politische Teilhabe und für ein würdiges Leben. Die staatliche Infragestellung der Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Mittlerweile sagt eine Mehrheit in repräsentativen Befragungen, man könne in Deutschland bei bestimmten Themen nicht mehr offen seine Meinung sagen. Alarm, Alarm! müssten alle Bürger mit Zivilcourage rufen.
Friedensfähig statt kriegstüchtig
Zweitens: Das politische Ziel der «Kriegstüchtigkeit» muss entschlossener in Frage gestellt und durch das Ziel der «Friedensfähigkeit» ersetzt werden. Der Plan, Deutschland kriegstüchtig zu machen, ist mit massiven Drohungen gegen andere Länder verbunden, namentlich gegen Russland. Mit dem im März 2024 öffentlich angekündigten «Operationsplan Deutschland»3 des Ministeriums von Boris Pistorius soll das gesamte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben auf den Krieg getrimmt werden. Ausdrücklich wird Russland zum Feind erklärt.
Die Behauptung, Russland bedrohe Deutschland, ist eine Propagandalüge. Die Gefahr, dass aus dieser Propagandalüge und deren aggressiven Konsequenzen eine sich selbst bestätigende Prophezeiung wird, ist gross. Wer selbst immer aggressiver gegen ein anderes Land auftritt, darf sich nicht wundern, wenn sich das andere Land irgendwann tatsächlich wehrt. Die Folgen für Deutschland wären katastrophal. Vor dem Ende des Kalten Krieges war klar: Die Bundesrepublik Deutschland hat eine Armee, um einen Krieg zu verhindern. In einem heissen Krieg wären West- und Ostdeutschland das Schlachtfeld gewesen, das am Ende völlig zerstört und wahrscheinlich unbewohnbar geworden wäre. Krieg war für die meisten politisch Verantwortlichen in Deutschland damals keine Option.
Kriegstüchtigkeit ist aber auch noch aus einem anderen Grund nicht hinnehmbar: Nicht nur der Krieg selbst, sondern auch schon die Kriegsvorbereitung bedeuten Verrohung im Fühlen, Denken und Handeln der Soldaten, aber auch der Bevölkerung insgesamt. Im Krieg werden alle Werte auf den Kopf gestellt. Im Krieg wird gelogen, betrogen und gestohlen, zerstört und gemordet. Der «Bürger in Uniform» ist nicht mehr gefragt. Das Schicksal der schwer geschädigten Kriegsveteranen der US-Armee, aber auch der deutschen Bundeswehr heute legt beredt Zeugnis davon ab, was «Kriegstüchtigkeit» aus Menschen macht. «Täglich 20 Suizide von US-Veteranen»4 ist nur eine der vielen Schlagzeilen, die deutlich machen, worum es geht.
Ein Register für den Rechtsstaat
Drittens: Deutschland braucht ein öffentliches Register für staatliche Rechtsbrüche und verweigerten Rechtsschutz. Helmut Roewer, ehemaliger Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen (1994–2000), hat in einem Interview5 im Dezember 2024 ausführlich erläutert, warum Deutschland seiner Meinung nach kein Rechtsstaat mehr ist. Helmut Roewer wird seit vielen Jahren scharf attackiert. Diese Art von Kampagne gegen politisch missliebige Personen ist typisch für Deutschland geworden. Sollte nicht statt dessen gelten: Zuhören, was ein Mensch zu sagen hat, und eigenständig nachdenken?
Mitgefühl und Gemeinschaftsbildung
Viertens: Mitgefühl und echte Gemeinschaftsbildung wappnen gegen Unmenschlichkeit, Unrecht und Kriegstreiberei. Eine öffentliche Stimme der Menschlichkeit, des Rechts und des Friedens wird kräftiger, wenn sich an vielen Orten Menschen mit diesen Anliegen gleichwertig und gleichberechtigt zusammentun und öffentlich zu Wort melden.
Zwei Jahre nach der Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975 bildeten namhafte Bürger der Tschechoslowakei, unter ihnen der spätere Präsident des Landes, Václav Havel, eine Gruppe und veröffentlichten einen Text, den sie Charta 77 nannten. Diese Charta listete die Menschenrechte auf, die mit der Schlussakte von Helsinki auch allen Bürgern der Tschechoslowakei garantiert worden waren. Dem stellte die Charta gegenüber, wie die politische Realität im Land aussah – eine Realität, welche die Rechte der Menschen vielfach verletzte. Die Gruppe wurde vom Staat verfolgt, blieb aber bis zum Zusammenbruch des sozialistischen Regime aktiv – Zivilcourage.
40 Jahre später haben namhafte deutsche Persönlichkeiten, unter ihnen Bürgerrechtler aus der Endphase der DDR, daran anknüpfen wollen. Nach dem Ausschluss sogenannter rechter Verlage von der Frankfurter Buchmesse haben sie eine Petition mit dem Namen Charta 2017 formuliert und «für gelebte Meinungsfreiheit, für ein demokratisches Miteinander, für respektvolle Auseinandersetzungen» plädiert.6 Die Gruppe wurde heftig attackiert. Leider ist sie nicht mehr aktiv.
Sich heute wieder auf das berufen, was garantiertes Recht ist, in der politischen Realität aber immer wieder missachtet wird, wäre Ausdruck von Zivilcourage und könnte ein Fundament für eine öffentliche Stimme der Menschlichkeit, des Rechts und des Friedens im heutigen Deutschland werden. Es braucht nicht viel dafür, nur massvolles Handeln, Klugheit und ein wenig Mut. •
1 https://www.wahlrecht.de/umfragen/insa.htm
2 So liegt zum Beispiel die Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden heute bei rund 1,5 Prozent (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1412487/umfrage/bverfg-erfolgreiche-verfassungsbeschwerden/).
3 https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5761202/5101246ca9de726f78c4d988607532fc/oplan-data.pdf
4 https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/taeglich-20-suizide-von-us-veteraninnen
5 https://apolut.net/im-gespraech-helmut-roewer/
6 https://www.openpetition.de/petition/online/charta-2017-zu-den-vorkommnissen-auf-der-frankfurter-buchmesse-2017#petition-main
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.