In Erinnerung rufen, wer wir Menschen sind

von Moritz Nestor

Vor 35 Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, verkündete die «einzige Weltmacht» USA, mit dem Sieg der Weltanschauung der US-Demokratie über das «Reich des Bösen», die UdSSR, sei das «Ende der Geschichte» gekommen. Nun beginne ein neues Zeitalter, in dem die US-Demokratie und die angelsächsische, neoliberale Variante der Marktwirtschaft quasi ewig und überall herrschten.
  Doch die bittere Bilanz der letzten 35 Jahre sieht anders aus. Die neoliberale Variante der Marktwirtschaft erwies sich als Raubtierkapitalismus. Und die «Demokratisierung» der Welt und das damit verbundene «nation building» bedeuteten 35 Jahre Krieg gegen andere Völker und Staaten und haben nichts als Tod, Zerstörung und menschliches Leiden gebracht: in Somalia, in Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak, in Nordafrika … und auch in der Ukraine.
  Wolodimir Selenski versprach im März 2022: Wir werden neutral sein! Ein Friedensabkommen mit Russland wurde paraphiert. Europa hätte damals Frieden haben können. Doch Amerika schickte den «Briefträger» Johnson und stoppte den Friedensvertrag und die greifbar in die Nähe gerückte Neutralität. Hunderttausende sind seither sinnlos gestorben, Millionen fliehen.
  Leider nicht ganz «sinnlos». Sinnlos zwar für die Menschen in der Ukraine; denn das ukrainische Volk bekommt für die Milliarden für Waffenlieferungen an ihr Land nur den Tod und unermesslich hohe Schulden. – Aber diese Milliarden füllen die Kassen der US-Rüstungsfirmen.
  Daher kommentierte der Briefträger seine mörderische Tat später sehr «richtig»: «Wir» konnten es nicht unterschreiben, weil es um die Aufrechterhaltung der westlichen Hegemonie ging.
  Diese Haltung kennt kein Mitleid und kein Mitgefühl. Sie macht Mitmenschlichkeit als Gefühlsduselei und Nachgiebigkeit gegen «das Böse» lächerlich. Ethik als vorstaatliches, übergeordnetes und unabänderliches Prinzip, wie es im Völkerrecht niedergelegt ist, wird durch nackte machtpolitische Zweckmässigkeit ersetzt. Boris Johnson verkörpert einen westlichen nihilistischen Menschentypus: geleitet von brutaler Rücksichtslosigkeit, hemmungslosem Egoismus, grenzenloser Gier, die – nach wie vor – die US-Herrschaft auf alle Länder ausdehnen will – koste es, was es wolle.
  Diese absolutistische Staatspraxis ist Nihilismus, der sich den Namen «Demokratie» leiht.
  Dieser Nihilismus ist Gier nach Macht und Geld: mit der weltweiten Dollarmacht die Völker ausplündern und den nicht selbst erarbeiteten und verdienten Reichtum einstreichen. Den Völkern, um ihre souveräne Kraft zu verwirren und niederzuhalten, mittels ökonomischer, militärischer und kultureller Aggressionen die totale Entsouveränisierung und Entstaatlichung aufzwingen. Die Staaten verlieren ihren eigentlichen Sinn, Mittel des Volkes zu sein, und werden zu Büros internationaler Macht- und Finanzzentren. Mit der Entstaatlichung einher geht der Kulturkampf gegen traditionelle Werte und Kulturen. Die Nihilisten züchten und kaufen Generationen von Intellektuellen, die beliebig viele Theorien und «Studien» liefern, in denen der Mensch entmenschlicht und zum Verschwinden gebracht wird, und speisen sie in die Kulturen ein. Sie wollen uns zu «Trieben», «Instinkten», «Gehirnen», «Nervenregungen», «Hormonspiegeln», «Genen», «Algorithmen», «Maschinen», «bösen Egoisten» – und weiss der Teufel was – erniedrigen. Seit den siebziger Jahren haben die westlichen intellektuellen Eliten so viele derartige materialistische «Theorien» produziert, wie sie in tausend Jahren zuvor nicht entstanden sind.
  Doch es sind nur 5–10 % der Menschheit, die das tun. Alle anderen Milliarden lieben ihre Kinder, führen sie ins Leben ein, pflegen ihre alten Eltern und arbeiten ein Leben lang ehrlich und hart, damit die kommende Generation eine Zukunft hat. So sind wir Menschen. Der US-Machtwahn hat uns vergessen machen wollen, wer wir sind! Und im Nebel des westlichen Nihilismus verlieren selbst wir oft aus den Augen, wer wir wirklich sind, was die zum Verschwinden gebrachte reiche humanistische Tradition Europas in zweieinhalbtausend Jahren geschaffen hat.
  Die Beschäftigung mit dem täglichen Wahnsinn der Kriege braucht auch ein inneres Gegengewicht: einen täglichen inneren Widerstand – nämlich: Der Mensch ist anders! Wir sind anders! In uns ist diese freie Sphäre des Mitfühlens und Mitdenkens, aus der heraus ein Erwachen und Widerstand beginnen kann.
  Die Zahl der Humanisten, die der europäische Kulturraum seit der griechischen Antike hervorgebracht hat, ist von so erstaunlich grossem Umfang, ihre Beiträge zu einem humanistischen Menschenbild sind derart tiefgreifend, dass man tief erschüttert ist, wenn man bedenkt, wo wir heute stehen würden, wenn diese kulturelle Substanz Europas nach dem Zweiten Weltkrieg politisch zum Tragen hätte kommen können – oder vielleicht besser gesagt: politisch zum Tragen hätte kommen dürfen.
  Das Band, das die Humanisten der Jahrhunderte bis heute einigend umschliesst, ist die mitmenschliche Grundhaltung, die Annemarie Kaiser 1977 in ihrer Dissertation beschrieb:
  «Dass die Menschheit einmal ihre eigene Natur verstehen lernt und beginnt, deren Erfordernissen gemäss zu leben – das ist das Bemühen, mit dem Adler einen Platz unter den Humanisten aller Zeiten einnimmt.»1
  Diese Tradition, für die Alfred Adler, der Schöpfer der Individualpsychologie, hier stellvertretend genannt ist, soll Leitstern sein für eine Reihe von in loser Folge erscheinenden Beiträgen, die das Wertvollste, was unsere europäische Kultur zum Wohle der Menschen geschaffen hat, den Händen einer ideologischen Amnesie wieder entwinden will. Sie setzt die beiden Artikel «Verteidigung des Menschen» (Zeit-Fragen Nr. 8 vom 18.4.2024 und Nr. 12 vom 11.6.2024) fort. Heute lesen Sie den Beitrag «Die Schule von Salamanca – die vergessene Geburt des modernen Völkerrechts», der 2024 an der Pädagogischen Schulungswoche des Instituts für Personale Humanwissenschaften und Gesellschaftsfragen gehalten wurde. •



1 Kaiser, Annemarie. Das Gemeinschaftsgefühl – Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Eine Darstellung wichtiger Befunde aus der modernen Psychologie, Verlag Psychologische Menschenkenntnis Zürich, 1981, Seite 31f.

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