Raub von Kinderzeichnungen

Die Zukunft Palästinas stehlen

von Cara Marianna*

Ramallah, 6. Dezember – In der ersten Novemberwoche traf ich Saed im Flüchtlingslager Aida, als er mich durch die überfüllte Gemeinde führte, in der er aufgewachsen ist. Saed ist ein junger Mann in den Zwanzigern und arbeitet in einem von mehreren Kulturzentren im Lager Aida. Er hat einen Abschluss in Psychologie der Universität Bethlehem, wo er als Teilzeitdozent für Arabisch tätig ist.
  Aida ist das kleinste der Flüchtlingslager im Westjordanland. Es ist dicht bevölkert, und in den engen Strassen drängen sich die Häuser aneinander wie Menschen, die Schutz vor einem Sturm suchen. Aida ist auf zwei Seiten von der Apartheidsmauer umgeben und ist auch das Lager, das am häufigsten überfallen wird.
  In einer schmalen Strasse in der Nähe des Lagereingangs ist ein grosses blaues Tor in die Betonwand eingelassen. Von diesem Tor aus startet die israelische Armee ihre Angriffe auf das Lager. Ein Stück weiter in der gleichen Strasse stehen ein Wachturm und ein Geschützturm, die das Lager bewachen. Von dort aus schiessen Scharfschützen häufig auf die Strassen und Wohnhäuser unter ihnen.
  Nach der Besichtigung verbrachte ich eine weitere Stunde in Saeds Büro. Zu den vielen Dingen, die wir besprachen, gehörte auch das Kunsttherapieprogramm, das das Zentrum für Kinder anbietet. Während wir uns unterhielten, holte er einen Stapel Zeichnungen hervor, die die Kinder angefertigt hatten – alle vor dem 7. Oktober des vergangenen Jahres.
  Jedes Kind hatte eine Reihe von grossen Storyboards gezeichnet und ausgemalt, die eine für sie schwierige Situation darstellten und zeigten, wie sie schliesslich mit Hilfe anderer – Lehrer, Therapeuten, Familie, Freunde – gelöst werden konnte. Die Storyboards wurden mit Bindfaden zu einfachen Büchern gebunden.
  Saed zog drei oder vier davon aus dem Stapel heraus und erklärte mir die Zeichnungen. Sie waren bemerkenswert wegen ihrer emotionalen Wirkung. Viele von ihnen waren ebenso bemerkenswert wegen ihrer Kunstfertigkeit. Diese Zeichnungen waren frisch und kraftvoll, Kunstobjekte, die es wert waren, in einer Galerie ausgestellt zu werden. Das dachte ich damals und denke es immer noch.
  Heute Nachmittag, als ich meine Arbeit über diesen Aufenthalt im Westjordanland beendete, schrieb ich Saed eine SMS. «Hallo, wie geht es dir?»
  Seine Antwort kam zwei Stunden später. «Hallo. Alhamdulillah, mir geht es gut.»
  Ich lächelte, als ich seine Antwort las. Ich kenne das Wort alhamdulillah gut und habe bereits darüber geschrieben. Es ist eine arabische Redewendung, die unter Muslimen und Christen im Westjordanland häufig verwendet wird und mit der man Gott für alles Gute – und alles Schwierige – im Leben eines Menschen dankt. Jede gute Nachricht im Westjordanland muss immer gefeiert werden.
  Und dann kam seine nächste Nachricht – mit einem Foto. Mir stockte der Atem, als ich die Militäruniformen sah. «Die israelische Armee ist in das Zentrum eingedrungen», schrieb er. «Sie haben die Kunstwerke der Kinder gestohlen, die ich dir gezeigt habe.»
  Bei meinem ersten Besuch im Westjordanland war ich bei solchen Nachrichten in Tränen aufgelöst. Jetzt bin ich fast heiser vom Weinen. Viele schöne Tage im Westjordanland gehen plötzlich und schrecklich vorbei, weil die Soldaten und Siedler, die dieses Land illegal besetzen, soziopathisch sind. Sie haben Freude daran, Palästinenser zu terrorisieren. Sie erfreuen sich am Sadismus.
  Jetzt, in meiner letzten Woche in Palästina, vergehen Trauer und Wut schneller, und ich beginne tatsächlich zu lachen. Es ist allerdings schwarzer Humor. Kinderzeichnungen zu stehlen?! Wirklich?! Verzeihen Sie mir die Ausdrucksweise: Wie verkorkst muss man sein, um die Werke von Kindern zu stehlen?
  Denken Sie einmal darüber nach: Sie sind kampfbereit ausgestattet, bis an die Zähne bewaffnet und stehlen die Zeichnungen von Kindern! Das hat irgendwie etwas von schwarzem Humor. Vielleicht, weil es so irrational ist.
  Aber diese Irrationalität hat ihre Wurzeln in der Angst und ist auch tödlich. Sie haben tatsächlich Angst vor Kinderzeichnungen. Denn sie haben Angst vor Kindern. Sie haben Angst vor dem, was diese Kinder repräsentieren: die Zukunft von Palästina. Deshalb erschiessen sie Jungen, die im Westjordanland mit Steinen werfen. Und das ist der Grund, warum sie so viele Kinder in Gaza töten. •

Quelle: The Floutist vom 10. Dezember 2024.
Zuvor veröffentlicht auf West Bank Alerts, der zugehörigen Publikation von The Floutist.

(Übersetzung Zeit-Fragen)

* Cara Marianna ist Autorin und Mitherausgeberin von The Floutist, einem Online-Newsletter, den sie zusammen mit ihrem Mann Patrick Lawrence herausgibt (thefloutist.substack.com). Cara Marianna gibt auch ihren eigenen Newsletter namens Winter Wheat (winterwheat.substack.com) heraus. Sie ist Künstlerin und hat in Amerikanistik promoviert. Im Frühjahr und Herbst 2024 bereiste sie Palästina und begann ihre Serie «Stimmen aus Palästina». Unterstützen Sie ihre Arbeit mit einem Abonnement von Winter Wheat oder mit einer Spende (paypal). Kontakt: winterwheat7@gmail.com.

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