Dann gibt es nur eins …

Notwendige Antworten auf mehr «Kriegsertüchtigung» und weniger Demokratie

von Karl-Jürgen Müller

Wenige Wochen vor seinem Tod im November 1947 dichtete Wolfgang Borchert seinen weltberühmt gewordenen Text «Dann gibt es nur eins!». In Form eines Manifestes appellierte er an seine Mitmenschen überall auf der Welt (und insbesondere in Deutschland), künftigen Kriegen ihre Teilnahme zu verweigern («Sag nein!»). Er wusste, dass der Politik und den Regierungen nicht zu trauen ist und die Bürger höchst wachsam sein müssen – und nicht vergessen dürfen.
   «Dann gibt es nur eins!» habe ich mit meinen Schülern im Deutschunterricht während meines aktiven Schuldienstes immer wieder gelesen und besprochen. Ein erneuter Krieg unter deutscher Beteiligung, das war für viele meiner Generation – im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg geboren – unvorstellbar. Aber wir wussten auch, dass der Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, auch nach 1945 nicht. Borchert war in diesen Jahrzehnten ein von vielen Lehrern gern besprochener deutscher Schriftsteller. Sein eigenständiges Denken, sein jugendliches Temperament, sein Widerstand gegen die Diktatur und den nationalsozialistischen Krieg, seine gut verständliche, herausfordernde Situationen des Alltags aufgreifende, einfühlsame und stets menschenfreundliche Dichtung, immer gegen den Krieg, luden gerade auch junge Menschen zur Identifikation ein.

Tempi passati?

Schaut man auf unsere Politik, dann ist die Antwort leider eindeutig. Ja, die Politik Deutschlands hat sich wie auch die Politik der meisten anderen europäischen Nato-Staaten weit vom Friedenskurs entfernt. Ja, und es ist besonders beschämend, dass sich die deutsche Politik, die nach 1945 eine besondere Verantwortung für den Frieden und die Völkerverständigung hätte haben sollen, an die Spitze der europäischen Kriegsertüchtiger stellen will. 
    Was mit den Vorgängerregierungen seinen Anlauf nahm, soll mit der sich im Mai bildenden neuen deutschen Regierung Höchstgeschwindigkeit erreichen. Deutschland will Grossmacht sein, die Gegner sind ausgemacht und sollen überall auf der Welt «entschlossen», «mit Selbstbewusstsein» und «Stärke» bekämpft werden. Die Passagen im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD zur Aussen- und Kriegspolitik sind eindeutig: Wir seien die Guten, bemüht um «die Bewahrung eines Friedens in Freiheit und Sicherheit». Wir «wollen uns verteidigen können, um uns nicht verteidigen zu müssen». Die Bösen, das seien vor allem die Russen. Sie seien für uns «die grösste und direkteste Bedrohung», führten schon jetzt einen «brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg», und der Präsident des Landes habe vor allem eins: ein «Machtstreben», das sich «gegen die regelbasierte internationale Ordnung» richtet. 
    Zum Krieg in der Ukraine heisst es: «Die Ukraine werden wir umfassend unterstützen, so dass sie sich gegen den russischen Aggressor effektiv verteidigen und sich in Verhandlungen behaupten kann […] aus einer Position der Stärke und auf Augenhöhe […].» Da stimmt das ganze Narrativ nicht. Was bleibt, ist die gegen Russland gerichtete Drohung mit Eskalation. Friedrich Merz hat erklärt, was er konkret damit meint. Die Kertsch-Brücke, die das russische Festland mit der Krim verbindet, soll mit deutschen Lenkwaffen («Taurus»), die von deutschen Soldaten gelenkt werden müssen, zerstört werden. Dass Russland sich das nicht einfach so bieten lassen wird, wird ausgeblendet. Ignoranz gegenüber der Realität und viele Phrasen, die wir aus unseren Medien kennen. Wir staunen darüber, mit wieviel Einfalt wir mobilisiert werden sollen.
    Zugleich muss es bei unseren Politikern aber auch Befürchtungen geben, dass die Bürger vielleicht doch nicht so einfältig sind wie die politischen Parolen. Kriegsertüchtigung geht einher mit Demokratieabbau. Demokratie kann nämlich gefährlich werden – für Politiker und Regierende. 
    Unverzichtbar für eine Demokratie ist die Meinungsfreiheit. Deshalb hat der Koalitionsvertrag einen speziellen Abschnitt mit der Überschrift «Umgang mit Desinformation» – übrigens kurz vor dem Kapitel über die Kriegs-ertüchtigung. «Desinformation» ist das Neusprechwort (George Orwell, «1984») der Politik für Meinungsäusserungen gegen die Einfalt. Im Neusprech des Koalitionsvertrages heisst das: «Gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie inzwischen alltägliche Desinformation und ‹fake news› sind ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.»
    Wer, so fragen wir, darf denn künftig noch auf Wahlen Einfluss nehmen? Wer entscheidet darüber, was Desinformation, «fake news» und falsche Tatsachenbehauptung sind? Was sind Hass und Hetze? Und wo in Artikel 5 Grundgesetz (Meinungsfreiheit) steht geschrieben, dass Meinungsäusserungen mit falschen Tatsachenbehauptungen verboten sind? Man könnte sie ja auch überzeugend richtigstellen! Und wer ist denn die staatsferne Medienaufsicht, und wieso und von wem bekommt diese staatsferne Medienaufsicht die Exekutiv-Ertüchtigung, vorgehen zu können? Und was hat das dann noch mit Meinungsfreiheit zu tun?

Und wie steht es mit uns Bürgern?

Es gibt wohl keine Generalformel. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Sheldon Wolin hat 2008 mit Blick auf die US-Politik nach dem 11. September 2001 ein Buch mit dem Titel «Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism» veröffentlicht, das 2022 in deutscher Übersetzung erschienen ist: «Umgekehrter Totalitarismus: Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie». Die These dieses Buches ist, aus den USA sei nach dem 11. September eine «gemanagte» und von Grosskonzernen dominierte illiberale Scheindemokratie geworden. Dieser «invertierte Totalitarismus» trage totalitäre Züge, aber nicht offen, sondern mittels mentaler Steuerung der Menschen und politischen Akteure mit subtilen Methoden der Manipulation. Beabsichtigt sei eine aggressive imperiale Aussenpolitik.
    Wie sieht es in Europa, wie sieht es in Deutschland aus? Wissenschaftler wie Rainer Mausfeld diagnostizieren ähnliche Entwicklungen wie in den USA. Ich würde aus heutiger Sicht ergänzen: Die Methoden werden immer weniger subtil und immer offener autoritär. Gemäss Meinungsumfragen in Deutschland sagt eine Mehrheit der Befragten, man könne bei bestimmten Themen in Deutschland nicht mehr offen seine Meinung sagen. Und viele schweigen dann auch tatsächlich. Oder: Sie zeigen sich als folgsame Untertanen, die sogar folgsam auf Demonstrationen gehen, folgsam «Zivilcourage» zeigen und folgsam protestieren.
    Indes: Es gibt sie nach wie vor – Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen: engagierte Bürger und sogar verantwortliche Politiker – dies allerdings mehr im europäischen Ausland. Zwei aktuelle Beispiele dafür:
    Am 14. April drohte die Aussenbeauftragte und Vizepräsidentin der EU-Kommission Kaja Kallas Regierungen und Beitrittskandidaten der EU, es werde harte Konsequenzen haben, sollten sie an den Moskauer Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland teilnehmen. Die Drohung zielte vor allem auf den serbischen Präsidenten Vučić, der eine solche Teilnahme angekündigt hatte. Zwei Tage später meldete sich der slowakische Ministerpräsident Robert Ficozu Wort und kritisierte Kallas mit deutlichen Worten (siehe Kasten oben). Er selbst werde selbstverständlich nach Moskau reisen.
    Seit ein paar Wochen bereitet ein Kreis um die deutsche Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot eine europaweite Friedensaktion für den 9. Mai 2025 vor. Mehr Informationen dazu findet man auf der Internetseite https://europeanpeaceproject.eu/ . Bürger aus allen europäischen Staaten sind dazu eingeladen und aufgerufen, sich mit der öffentlichen Verlesung eines Manifestes (aus dem Fenster der Wohnung oder des Hauses heraus bzw. allein oder gemeinsam mit anderen auf einem öffentlichen Platz) für eine europäische Friedenspolitik und gegen die bislang herrschende Kriegspolitik auszusprechen (siehe Kasten unten).
    Zurück zum Anfang. Dass wir Lehrer mit unseren Schülern Texte von Wolfgang Borchert lasen und besprachen, war auch Ausdruck unseres Verfassungsauftrages: dabei mitzuwirken, dass aus unseren Schülern friedensfähige und demokratietüchtige Mitbürger werden … und nicht kriegstüchtige Söldner und folgsame Untertanen. Als Lehrer hatten wir einen Eid auf unsere Verfassung abgelegt, nicht auf die gerade herrschende Politik … und auch nicht auf Verfassungsänderungen wie die im März 2025, die den Kern der ursprünglichen Verfassung auszuhöhlen drohen. Deshalb die Frage: Was tun wir, wenn sich die herrschende Politik immer mehr vom Verfassungsauftrag entfernt?    •

Warnungen und Drohungen von Frau Kallas sind respektlos, und ich lehne sie entschieden ab

von Robert Fico

Die Hohe Vertreterin der EU für Aussenpolitik, Kaja Kallas, warnt die Staats- und Regierungschefs der EU vor einer Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges in Moskau im Mai. Sie behauptet, dass eine solche Teilnahme nicht auf die leichte Schulter genommen werde.
  Ich werde am 9. Mai nach Moskau reisen. Ist die Warnung von Frau Kallas eine Form von Erpressung oder ein Signal, dass ich nach meiner Rückkehr aus Moskau bestraft werde? Ich weiss es nicht. Aber ich weiss, dass wir das Jahr 2025 und nicht 1939 haben.
  Die Warnung von Frau Kallas bestätigt, dass wir innerhalb der EU eine Diskussion über das Wesen der Demokratie brauchen. Darüber, was in Rumänien und Frankreich im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen passiert ist, über die vom Westen organisierten «Maidans» in Georgien und Serbien und wie der Missbrauch des Strafrechts gegen die Opposition in der Slowakei ignoriert wurde.
  Frau Kallas, ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich der rechtmässige Premierminister der Slowakei bin – eines souveränen Landes. Niemand kann mir vorschreiben, wohin ich reisen darf oder nicht. Ich werde nach Moskau reisen, um den Tausenden von Rotarmisten, die bei der Befreiung der Slowakei starben, sowie den Millionen anderer Opfer des Naziterrors die Ehre zu erweisen. Genauso wie ich die Opfer der Landung in der Normandie oder im Pazifik geehrt habe oder wie ich die Piloten der Royal Air Force ehren werde. Und lassen Sie mich daran erinnern, dass ich einer der wenigen in der EU bin, der sich konsequent für den Frieden in der Ukraine einsetzt und die Fortsetzung dieses sinnlosen Krieges nicht unterstützt.

Quelle: https://x.com/RobertFicoSVK/status/1912168829272142161  (Übersetzung Zeit-Fragen)

Das Manifest – European Peace Project

Heute, am 9. Mai 2025 – genau 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der 60 Millionen Menschen das Leben kostete, darunter 27 Millionen Sowjetbürgern, erheben wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas, unsere Stimmen! Wir schämen uns für unsere Regierungen und die EU, die die Lehren des 20. Jahrhunderts nicht gelernt haben. Die EU, einst als Friedensprojekt gedacht, wurde pervertiert und hat damit den Wesenskern Europas verraten! Wir, die Bürger Europas, nehmen darum heute, am 9. Mai, unsere Geschicke und unsere Geschichte selbst in die Hand. Wir erklären die EU für gescheitert. Wir beginnen mit Bürger-Diplomatie und verweigern uns dem geplanten Krieg gegen Russland! Wir erkennen die Mitverantwortung des «Westens», der europäischen Regierungen und der EU an diesem Konflikt an.
  Wir, die Bürger Europas, treten mit dem European Peace Project der schamlosen Heuchlerei und den Lügen entgegen, die heute – am Europatag – auf offiziellen Festakten und in öffentlichen Sendern verbreitet werden.
  Wir strecken den Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine und Russlands die Hand aus. Ihr gehört zur europäischen Familie, und wir sind überzeugt, dass wir gemeinsam ein friedliches Zusammenleben auf unserem Kontinent organisieren können.
  Wir haben die Bilder der Soldatenfriedhöfe vor Augen – von Wolgograd über Riga bis Lothringen. Wir sehen die frischen Gräber, die dieser sinnlose Krieg in der Ukraine und in Russland hinterlassen hat. Während die meisten EU-Regierungen und Verantwortlichen für den Krieg hetzen und verdrängen, was Krieg für die Bevölkerung bedeutet, haben wir die Lektion des letzten Jahrhunderts gelernt: Europa heisst «Nie wieder Krieg!»
  Wir erinnern uns an die europäischen Aufbauleistungen des letzten Jahrhunderts und an die Versprechen von 1989 nach der friedlichen Revolution. Wir fordern ein europäisch-russisches Jugendwerk nach dem Vorbild des deutsch-französischen Jugendwerks von 1963, das die «Erbfeindschaft» zwischen Deutschland und Frankreich beendet hat. Wir fordern ein Ende der Sanktionen und den Wiederaufbau der Nord-Stream-2-Pipeline. Wir weigern uns, unsere Steuergelder für Rüstung und Militarisierung zu verschwenden, auf Kosten von Sozialstandards und Infrastruktur. Im Rahmen einer OSZE-Friedenskonferenz fordern wir die Schaffung einer europäischen Sicherheitsarchitektur mit und nicht gegen Russland, wie in der Charta von Paris von 1990 festgelegt. Wir fordern ein neutrales, von den USA emanzipiertes Europa, das eine vermittelnde Rolle in einer multipolaren Welt einnimmt. Unser Europa ist post-kolonial und post-imperial.
  Wir, die Bürger Europas, erklären diesen Krieg hiermit für beendet! Wir machen bei den Kriegsspielen nicht mit. Wir machen aus unseren Männern und Söhnen keine Soldaten, aus unseren Töchtern keine Schwestern im Lazarett und aus unseren Ländern keine Schlachtfelder.
  Wir bieten an, sofort eine Abordnung europäischer Bürgerinnen und Bürger nach Kiew und Moskau zu entsenden, um den Dialog zu beginnen. Wir werden nicht länger zusehen, wie unsere Zukunft und die unserer Kinder auf dem Altar der Machtpolitik geopfert wird.
  Es lebe Europa, es lebe der Friede, es lebe die Freiheit!

Quelle: https://europeanpeaceproject.eu/manifest-deutsch/  

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