Die Unterzeichner der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) erklären eingangs ihre «Entschlossenheit, die folgenden Prinzipien, die alle von grundlegender Bedeutung sind und ihre gegenseitigen Beziehungen leiten, ein jeder in seinen Beziehungen zu allen anderen Teilnehmerstaaten, ungeachtet ihrer politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systeme, als auch ihrer Grösse, geographischen Lage oder ihres wirtschaftlichen Entwicklungsstandes, zu achten und in die Praxis umzusetzen»:
«Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte; Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt; Unverletzlichkeit der Grenzen; territoriale Integrität der Staaten; friedliche Regelung von Streitfällen; Nichteinmischung in innere Angelegenheiten; Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschliesslich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit; Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker; Zusammenarbeit zwischen den Staaten; Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben».1
Die Teilnehmerstaaten verpflichteten sich, sich zur Überwindung des Misstrauens und zur Vergrösserung des Vertrauens zu vereinigen, die Probleme, die sie trennen, zu lösen und zum Wohl der Menschheit zusammenzuarbeiten.
Die Signatarmächte der Schlussakte von Helsinki verpflichteten sich im Interesse der Gewährleistung der Sicherheit in Europa weiterhin:
Die Schlussakte war das Ergebnis des Willens ihrer 35 Unterzeichnerstaaten am 1. August 1975, ihre Beziehungen zu entspannen, zu Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit und besserer Zusammenarbeit beizutragen. Zu den Unterzeichnerstaaten gehörten 15 Nato-Mitglieder, 7 Staaten des Warschauer Vertrags, 13 «Unabhängige» mit Beobachterstatus2 – die Mittelmeer-Anrainer Algerien, Ägypten, Israel, Marokko, Syrien und Tunesien.
Rückblick eines KSZE-Diplomaten3
Im Mittelpunkt der Helsinki Schlussakte und dem sich daraus entwickelnden Entspannungsprozess stand die Aufgabe, Begriffe wie Frieden und Sicherheit sowie die dafür erforderliche Zusammenarbeit in einen auch gegenwärtig unverändert notwendigen, ja, zwingenden Zusammenhang zu stellen. Es ging um ein noch immer gültiges Hauptanliegen einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur und -politik in der Komplexität ihrer Elemente.
Mit der KSZE, ihren Regelungen und Festlegungen nahm eine neue internationale Verhandlungsstruktur ihren Anfang. Das Prinzip der Gleichberechtigung aller Teilnehmerstaaten war eine Absage an jegliche Versuche, Blockstrukturen in den Prozess einzuführen. Zumindest galt das für dessen Beginn.
Letzteres geschah vornehmlich mit der Erklärung über einen Katalog für die Gestaltung der Beziehungen, von denen sich die Teilnehmerstaaten leiten lassen sollten, nämlich den Prinzipien über bestimmte Aspekte der Sicherheit und Abrüstung, über die Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik und der Umwelt sowie die Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen mit den später besonders kontrovers debattierten Themen wie menschliche Kontakte und Information.
Mit dem Text von Helsinki aus dem Jahre 1975 setzte letztlich jeder Teilnehmer im wesentlichen das durch, was er zur Sicherung seiner Interessen für erforderlich hielt: Der damals regierende Sozialismus in Gestalt des Warschauer Vertrages sah die seinerzeitigen politischen wie territorialen Realitäten durch die Prinzipien Gewaltverzicht, Achtung der territorialen Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen sowie Achtung der Souveränität und Nichteinmischung abgesichert. Dem westlichen System waren die Achtung der Menschenrechte im Prinzipienkatalog, die detaillierte Ausgestaltung des breiten Spektrums humanitärer Fragen sowie das enorm grosse Themenfeld der Information und die Problematik der ökonomischen Zusammenarbeit vor allem im Hinblick auf die Wahrung eigener kommerzieller Vorteile unverzichtbare Anliegen.
Hervorzuheben ist die Rolle der neutralen und nicht-paktgebundenen Staaten. Bis auf eine Ausnahme – die des ehemaligen Jugoslawiens – bewegten sie sich in der Regel systembedingt auf westlicher Seite. Dennoch war ihre Rolle als Vermittler und Koordinator in verschiedenen Arbeitsgruppen oder im Konferenzplenum gefragt. Das galt besonders in zahlreichen Fällen, wo es notwendig war, Kompromisse grösseren oder kleineren Ausmasses auszuhandeln.
Die Schlussakte und der aus ihr hervorgegangene, auch militärische und vertrauensbildende Entspannungsprozess gingen in die internationalen Angelegenheiten als praxiserprobtes Beispiel dafür ein, dass friedliche Koexistenz und Kooperation von Staaten mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Systemen möglich und gestaltbar sind.
Eine solche Konstruktion kann auch als konsequent demokratisches Staatenverhalten in ihren internationalen Beziehungen verstanden werden. Ohne dieses wird eine multipolare Welt nicht in Frieden leben können. Sie war und bleibt internationales Gebot ohne Verfallsdatum.
Plädoyer für eine «friedliche
Koexistenz» in einer multipolaren Welt
Multipolarität wird sich monopolar nicht «domestizieren» lassen. Daran aber arbeitet sich der kollektive Westen gegenwärtig ab. Er steht dabei vor einem sich herausbildenden weltpolitischen Lager aufsteigender Kräfte und Mächte in Eurasien, Afrika und Lateinamerika. Vor diesem Hintergrund bildet sich eine neue internationale Kräfte- und Konfliktkonstellation heraus, in der vom Westen tradierte internationale Regeln, Mechanismen und Profite ihre bisherige Monopol- und Modellfunktion verlieren. Henry Kissinger verglich eine solche neue Situation mit einem Zustand, in dem die «traditionellen europäischen Grossmächte nicht wahrnehmen, dass die gegenwärtigen geostrategischen und geopolitischen Realtäten obsolet geworden» sind und «die Regeln und Normen, die eine paneuropäische Elite organisiert, sich ebenso wenig als ausreichendes Vehikel für eine globale Strategie erweisen, wenn die geopolitischen Realitäten dabei unberücksichtigt bleiben».4
Jene paneuropäische «Elite» trachtet heute danach, mit ihrer Doktrin von einer «regelbasierten internationalen Ordnung» die globale Kluft in der multipolaren Welt zu ihrem Vorteil zu schliessen. Anstatt die Interessen beider Seiten zu sondieren, zu definieren und auszugleichen. Zwar beruft sich der transatlantische Westen auf die Charta der Vereinten Nationen, meint jedoch etwas völlig anderes – seine internationale «Supermachtideologie, [sein] Vorherrschaftsmonopol und [seine] Kriterien der Machtausübung durchzusetzen».5
Besonders die USA kämpfen vermittels jener Doktrin um ihre globale Hegemonie. Dokumente des US-Kongresses lassen daran keinen Zweifel. Sie charakterisieren die «regelbasierte internationale Ordnung» als eine «um die USA zentrierte Welt, deren Alliierte sowie Partner, zur Durchsetzung deren gemeinsamer Werte und Interessen, freie, offene, demokratische, inklusive, regelbasierte, stabile sowie vielfältige Regionen zu erhalten und zu fördern.»6 [Hervorhebung A.S.]
Die konstitutiven Grundsätze der BRICS-Staaten auf der anderen Seite dieser «Kluft» stellen sich hingegen ungleich anders dar: «Engagement für Multilateralismus und Aufrechterhaltung des Völkerrechts, einschliesslich der in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Ziele sowie zentralen Rolle der Uno in einem internationalen System der Zusammenarbeit souveräner Staaten mit dem Ziel der Erhaltung von internationalem Frieden, Sicherheit sowie nachhaltiger Entwicklung; Förderung und Schutz der Menschenrechte; gegenseitiger Respekt, Gerechtigkeit und Gleichheit.»7 Hier findet sich, im Gegensatz zur Doktrin der westlichen «regelbasierten internationalen Ordnung» keinerlei Hegemonieanspruch des «Südens». Im Mittelpunkt steht dessen Anspruch auf Demokratisierung der internationalen Beziehungen, deren Instrumente, Institutionen und Regeln.
Der Anspruch der USA hingegen, zusammen mit ihren Verbündeten globale Hegemonie auch unter multipolaren Bedingungen zu behaupten, entwickelt sich gegenwärtig zum Brennpunkt internationaler Auseinandersetzungen. Für diese setzte noch US-Präsident Biden eine «Ära» als Oberbegriff für eine Doktrin «internationaler Beziehungen unter Bedingungen langfristiger strategischer Rivalität» nach dem Ende des Kalten Kriegs an – eine «Post-Cold War Era of International Relations».8 Was de facto auf «open end» hinausläuft. Der Beginn dieser Ära wurde verortet bei der «Einnahme und Annexion der Krim durch Russland im März 2014», dessen «Handlungen in der Ost-Ukraine» sowie «Chinas Vorgehen im Ost- und Süd-Chinesischen Meer». Diese bewertete die US-Administration als «Bedrohung von Kernelementen der von den USA geformten internationalen Ordnung».9 Anders gesagt: Die Ära «langfristiger strategischer Rivalität» ist bereits Realität und prägt die Positionierung der USA im Ukraine-Konflikt und weit darüber hinaus.
Abzuwarten bleibt, ob Amerikas jetziger Präsident Donald Trump dieser Doktrin folgen wird. Erste Gespräche über eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und der Russischen Föderation sowie eine politische Beendigung des Krieges um die Ukraine lassen auf Entspannung hoffen. Beides könnte, begrüssenswert, direkt oder indirekt, auf deren friedliche Koexistenz hinauslaufen. Interessengegensätze nicht ausgeschlossen.
«Keine Frage, die Grundlagen für eine neue Weltordnung sind längst gelegt. Während die überlebenden Architekten der alten Weltordnung, namentlich Nordamerikaner und Westeuropäer, seit 30 Jahren in dieser festsitzen, haben andere, allen voran die Chinesen, das Heft des Handelns in die Hand genommen und Fakten geschaffen. Diese Fakten mögen uns nicht gefallen, aber wir haben keine Wahl. Wir müssen sie als Elemente einer bislang ohne unser Zutun aufgebauten Ordnung akzeptieren. Tun wir das nicht, werden wir scheitern.»10
Friedliche Koexistenz von Staaten
ist mehr als Abwesenheit
von Krieg und Gewaltanwendung
Friedliche Koexistenz11 ist die Schaffung, Existenz und Erhaltung eines politischen Raums, in dem sich widerstreitende Gesellschafts-, Werte- und politische Systeme zueinander ins Verhältnis setzen und interagieren, ohne das Völkerrechtsprinzip souveräner Gleichheit der Staaten mit unterschiedlichen Gesellschafts- und politischen Systemen in Frage zu stellen. Allen drei Zielen zu entsprechen, verleiht friedlicher Koexistenz den Charakter von Dynamik und Beständigkeit zugleich. Voraussetzungen für ein Gelingen sind der Wille zum Frieden, zur Verständigung, zu gegenseitiger Sicherheit sowie zu Kompromissbereitschaft. Ärgste Feinde sind Vertrauensverlust und Antagonismen.
Die Helsinki Schlussakte verkörpert in sich diese Prädikate. Von praktischem Wert erwies sich insbesondere deren Richtschnur, die KSZE-Staaten sollten bessere und engere Beziehungen untereinander entwickeln und damit zur Überwindung von aus dem Charakter früherer Beziehungen herrührender Konfrontation und zu besserem gegenseitigem Verständnis finden. Diese Prinzipien und Verpflichtungen waren bereits Schöpfungen realpolitischer, pragmatischer Kompromissfähigkeit von Staatsführungen der beiden antagonistischen Lager West und Ost sowie nicht-paktgebundener Staaten, um mit ihren gesellschaftspolitisch- und werteorientierten Widersprüchen nach gemeinsamen Regeln friedlicher Koexistenz zu verfahren. Ihr befriedendes oberstes Ziel war die Gewährleistung kollektiver Sicherheit in Europa. Ziel, Geist, Botschaft und Verfahren der Helsinki Schlussakte böten auch noch sich gegenwärtig rasant entfaltenden multipolaren Kräfte- und Konfliktkonstellationen unentbehrliche friedenspolitische Instrumentarien.
Sogar unter Bedingungen systemfeindlichen Charakters gelang es den Staatsführungen beider Lager, sozialistisch respektive kapitalistisch, ihren gesellschaftspolitischen Antagonismus samt jeweiligen weltpolitischen bzw. -revolutionären Vorherrschaftsambitionen zu beherrschen, zu «kultivieren».
«Friedliche Koexistenz auf Dauer bedarf der institutionellen Vorkehrungen und Rückversicherungen. Aber sie hat auch entsprechende Mentalitäten zur Voraussetzung.» [Hervorhebung A.S.] So formulierte Dieter Senghaas Erkenntnisse aus seiner Friedensforschung zu «Friedlicher Koexistenz» sowie zur Überwindung des Kalten Krieges und der Ost-West-Konfrontation zwischen 1945 und 1990. Ihm ging es in einem «Rückblick in die Zukunft»12 darum zu «verhindern, dass sich in Zukunft erneut eine Konfliktkonstellation vergleichbaren Zuschnitts oder auch in abgefederten Formen einer antagonistischen Konstellation zwischen Regionalmächten herausbildet». Das sei, so die historische Wahrnehmung von Senghaas, gar nicht abwegig, denn die Ost-West-Konfliktkonstellation war, weltgeschichtlich betrachtet, von beispielloser Zuspitzung sowohl hinsichtlich des ideologischen Systemantagonismus als auch der unvergleichlich monströsen einschneidenden Ereignisse» und «Zerstörungspotentiale». «Aus dieser vergangenen zugespitzten weltpolitischen Konstellation ist bleibend viel zu lernen.»
Was für Senghaas noch als «beispiellos» galt, überholt gerade die Gegenwart. Darin besteht die Tragödie unserer Zeit. Gegenwärtig befinden sich Mächte, welche die internationale Lage ausschlaggebend bestimmen, in kriegerisch ausartender Konfrontation. Gorbatschow hatte noch 1988 die europäische Sicherheitsperspektive in der «Schaffung einer Sicherheits- und Vertrauensstruktur gesehen, die über den Blöcken steht». Im Gegensatz dazu interpretierte 1991 US-Präsident George Bushsen. die friedliche Beendigung vom Kalten Krieg als Wegöffnung für einen Strategiewechsel zu einer unipolaren Weltordnung. Eine «Ordnung», «in welcher die USA den Rest der Welt gestalten, statt auf ihn zu reagieren».13
Summa summarum: Die Friedensfrage ist international nicht mehr die Frage aller Fragen. Das Narrativ «Friedliche Koexistenz» als europäisches Friedens- und Entspannungsmodell bleibt mehr als unentbehrlich. Auch das Modell Helsinki hatte sich im stürmischen politischen europäischen Umfeld des Kalten Kriegs erfolgreich bewährt. Die 35 europäischen Staaten und Staatsoberhäupter, einschliesslich bundesdeutscher Spitzenpolitiker, hielten dies selbst in schwierigen Zeiten für opportun.
Der «subjektive Faktor» rückte und rückt in Gestalt der «Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte» insofern folgenschwer auf eine kausale Primärposition, als er «Friedliche Koexistenz» und deren friedensschaffenden Inhalt aussenpolitisch weitgehend ausmerzt. Die gebräuchlichsten Argumente dafür lauten, deren Zeitwert sei angesichts vergleichsweise veränderter internationaler Bedingungen abgelaufen, sie seien folglich «obsolet».
Bundesrepublikanische Entspannungsvernunft –
das «gemeinsame Haus Europa»
«Ich habe mit Generalsekretär Gorbatschow Bausteine für ein gemeinsames Haus Europa vereinbart!» (Bundeskanzler Helmut Kohl)
Es gab folglich einmal eine Generation politischer Denker, vornehmlich westeuropäischer Führungen, auch sozialdemokratischer, die sich, unter atomarem Bedrohungsdruck, in der Helsinki-Periode auf gemeinsame Sicherheit und Entspannung konzentrierte. Auch Erwartungen von friedlichen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten in West und Ost hatten dabei ihren Platz. Sie handelte noch «unter der Voraussetzung von der persönlichen und kollektiven Erinnerung an Krieg», um den «Ausbruch des nächsten Krieges zu verhindern». «Das war in Deutschland noch die Generation von Willy Brandt, Helmut Kohl und Erich Honecker.»14
Die primäre, auch persönliche Motivation damaliger Staatsoberhäupter war, einer atomaren Eskalation zwischen den beiden antagonistischen gesellschaftspolitischen Systemen vorzubeugen. Eindeutigkeit und Totalität dieser Bedrohung, die Tatsache, dass es um friedliche Fortexistenz oder gemeinsamen Untergang der Menschheit in einem Nuklearkrieg ging, gebar die Einsicht, dass Konfliktpotentiale, welche die Tendenz zum Nuklearkrieg in sich bargen, nicht mehr auf die herkömmliche Weise, durch militärische Überlegenheit, militärischen Sieg, Niederlage oder Unterwerfung einer der beiden Seiten beherrschbar sein würden. Die Bedrohung müsse vielmehr so aus der Welt geschafft werden, dass die bewaffnete kriegerische Variante der Konfliktlösung ausgeschlossen wird.
Bemerkenswert ist, dass sich die Bundesregierung für die Konstruktion der äusseren Voraussetzungen und Bedingungen für den Zusammenschluss beider deutscher Staaten noch an einigen koexistentiellen Prinzipien orientierte.
Zunächst galt das für Gorbatschows Plan (1987) vom «gemeinsamen Haus Europa», in welchem, neben anderen europäischen Staaten, die Sowjetunion, die BRD und die DDR miteinander friedlich koexistieren sollten.
Von grundsätzlicherem Gewicht waren jedoch Überlegungen zur Gestaltung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, deren Institutionalisierung und Konsolidierung in und durch die KSZE. Darunter verstanden Bundeskanzler Helmut Kohl und Aussenminister Hans-Dietrich Genscher die kooperative Koexistenz der Staaten und deren regulative Prinzipien. So erklärte Kohl in seiner Rede vor dem Bundestag am 28. November 1990 ein «Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas» und dass er mit «Generalsekretär Gorbatschow Bausteine für ein gemeinsames Haus Europa» vereinbart habe. Er erwähnte dafür beispielhaft:
Er hob Punkt 8 hervor: «Der KSZE-Prozess ist ein Herzstück dieser gesamteuropäischen Architektur. Wir wollen ihn vorantreiben und die bevorstehenden Foren nutzen.»
Aussenminister Hans-Dietrich Genscher erklärte in der 226. Sitzung des Deutschen Bundestags am 20. September 1990: «Aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entwickelt sich mit unserer Mitwirkung Schritt für Schritt eine Struktur europäischer Zusammenarbeit, Sicherheit und Stabilität.»16
Auch führende Köpfe der SPD unterstützten den Helsinki-Weg. Egon Bahr insbesondere. Er entwickelte in dem von ihm geleiteten Hamburger Institut für Friedens- und Konfliktforschung alternative Erwägungen im Sinne eines kollektiven europäischen Sicherheitssystems. Er liess sich bei seiner Konzeption für die Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs von dem Anliegen eines gemeinsamen «Raums zwischen Lissabon und Wladiwostok als sicherheits-politische Einheit» leiten. Europa habe «die Chance, die Sicherheit seiner Staaten so zu organisieren, dass Kriege zwischen ihnen unmöglich werden.»17 In den «Grundzügen eines kollektiven Sicherheitssystems» ging es Egon Bahr darum, dass «auf dem Sektor der Sicherheit gesamteuropäische Organe geschaffen würden, die Russland einschliessen. Ob dieses Land in zehn oder fünfzehn Jahren Demokratie und Marktwirtschaft entwickelt, ob es das überhaupt will oder kann, an westeuropäischen Massstäben gemessen, ist offen, unausweichlich ungewiss; doch auf Russlands Stabilität zu warten, ehe Sicherheit organisiert wird, wäre ein Jahrhundertfehler.»18
Manfred Wörner, Nato-Generalsekretär, entwickelte 1990 das Konzept einer «zukünftigen Sicherheitsstruktur für Europa». Deren Aufgabe sei es, «für die europäischen Staaten eine Sicherheitspartnerschaft zu organisieren, um deren scharfe Gegnerschaft des Kalten Krieges zu überwinden und von Konfrontation zu Kooperation überzugehen.» Wörner formulierte als Nato-«Zukunftsprinzipien»: «A Changing Alliance: from confrontation to cooperation; from a military to a political Alliance; from deterrence to protection against risks and the guarantee of stability; from peace-keeping to peace-building; from a US-led Alliance to a genuin partnership with the Europeans now playing an equal leadership role.»19
Die USA konterten jene bundesdeutschen, auf souveräne, eigenständige Interessen ausgerichteten Konzepte unmittelbar. «Die Atlantische Allianz müsse sich, so wurde jetzt verkündet, weniger um Sicherheit als um ihre politische Reichweite kümmern. Die Erweiterung der Nato bis an die Grenzen Russlands […] in einem Umkreis von wenigen hundert Kilometern von Moskau entfernt, wurde als zweckmässige Methode ins Auge gefasst, um weiter Demokratie zu verankern», so Henry Kissinger.20
Dieser Konter kam sofort und folgte einer Orientierung des Pentagon, welche «zu einer Säule der US-Aussenpolitik wurde»: «Die US-Regierung müsse ‹die fortgeschrittenen Industrienationen davon abhalten, unsere Führerschaft in Frage zu stellen oder sogar eine grössere eigenständige regionale oder globale Rolle anzustreben›.»21
Robert L. Hutchings, 1989 «Mitglied des aussenpolitischen Teams der Bush Administration», hielt in «Als der Kalte Krieg zu Ende war» fest: «Unsere Diplomatie in dieser Zeit war vollständig darauf ausgerichtet, die amerikanischen – nicht die deutschen – Interessen zu verteidigen.»22 Eine «Institutionalisierung des KSZE-Prozesses empfanden so manche in Washington als Anathema, weil sie fürchteten, dass die Konferenz die Nato unterminieren könnte». «Die Rede Genschers machte uns die Gefahr deutlich, dass die Deutschen, sofern sie sich selbst überlassen blieben, durchaus bereit sein könnten, einen inakzeptablen und unnötigen Preis für sich – und andere – zu zahlen, um die Zustimmung der Sowjets zur Vereinigung zu bekommen.» Auch «beunruhigte uns, dass Genscher an anderer Stelle eine weitere Nato-Mitgliedschaft Deutschlands versicherte – allerdings in einer mehr politischen als militärischen Nato.»23
Der US-amerikanischen Orientierung Anti-KSZE entsprach auch folgerichtig, dass Aussenminister Baker bereits im Februar 1990 in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei deren Einverständnis mit einer Ost-Erweiterung der Nato sondierte. Robert L. Hutchings notierte dazu: «Während Polen und Ungarn sich als begeisterte Nato-Anhänger erwiesen, sei es in Prag schwieriger gewesen: Präsident Havel hatte aus seinen Dissidententagen die Überzeugung mit ins Amt übernommen, dass beide ‹militärischen Blöcke› – also Nato und Warschauer Pakt – gleichermassen aufgelöst und von einer neuen ‹paneuropäischen Friedensordnung› ersetzt werden sollten, vorzugsweise durch die KSZE als einem neuen kollektiven Sicherheitssystem. […] Wir hielten es für wichtig, ihm auseinanderzusetzen, weshalb die Vereinigten Staaten nicht der Meinung waren, dass die KSZE die Nato als Instrument der europäischen Sicherheit ersetzen könnte.»24 – Das ging bereits zu einer Zeit vor sich, als der Warschauer Vertrag noch bestand.
Auch der Leiter der DDR-Delegation bei den KSZE-Verhandlungen in Helsinki und Genf, Siegfried Bock, erinnerte sich in «Die DDR im KSZE-Prozess» daran, dass es «hier nur die USA [waren], die die Konferenz mehr als ein Entgegenkommen gegenüber der Sowjetunion betrachteten, für das sie von Moskau ein Äquivalent erwarteten. Kissinger hat immer sehr distanziert von dieser Konferenz gesprochen, von deren Nutzen er nicht überzeugt war.»25
Aus heutiger Perspektive gilt es in Betracht zu ziehen, dass die Absicht der damaligen Bundesregierung nach «deutscher Einheit» und Liquidierung des sozialistischen deutschen «Fremdkörpers» DDR weitgehendes Entgegenkommen gegenüber Gorbatschow motivierte. Intern dürfte es Konsens gewesen sein, dass, wenn schon «gemeinsames Haus», dann nur ein «deutsch» vereintes. Genauso wenig kam es in den Folgejahren zu einer «Neugestaltung der europäischen Sicherheitslandschaft». Auch Wörners Besonnenheit, die politischen Funktionen der Nato zu erweitern, wurde nicht realisiert. Die Hoffnungen auf russischer Seite, die Nato würde ihr Wesen verändern, blieben Gorbatschows Illusion. Als nachgerade friedensgefährdend wirkt heute, dass auch der am 12. September 1990 in Moskau unterschriebene «Vertrag über die abschliessende Regelung in bezug auf Deutschland» (Zwei-plus-Vier-Vertrag) als nichtexistent verletzt wird, insbesondere dessen Artikel 2, der verfügt, dass «von deutschem Boden nur Frieden ausgeht».
Zusammenfassung und Erfahrungen
«Friedenspolitik bedarf der Fähigkeit zu friedlicher Koexistenz. Die wiederum fusst auf dem Vermögen, die andere Gesellschaft und den anderen Staat als andere zu akzeptieren und zu achten.» (Erhard Crome, S. 151)
Die Schlussakte von Helsinki (1975) und die Charta von Paris für ein neues Europa (1990) gelten dauerhaft als konstitutive Grundlagen einer europäischen Friedensordnung. Zugleich bilden deren Prinzipien den Kern einer internationalen Politik «friedlicher Koexistenz» zwischen den Staaten.
Der Helsinki-Prozess war keineswegs eine theoretische «Papierveranstaltung», sondern international von höchst praktischer und erfolgreicher Natur. Die KSZE sowie ihre umgewandelte Nachfolgerin Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) spielten in den frühen neunziger Jahren eine unverzichtbare Vermittlerrolle in Sachen Sicherheitspolitik und militärischer Vertrauensbildung.
Zum gemeinsamen Sicherheitskodex gehörten: militärische Zurückhaltung, allseitige Transparenz und die Versicherung, sich nicht mehr gegenseitig nuklear zu bedrohen. Berechenbarkeit der Seiten kam vor allem dem Frieden in Zentraleuropa zugute. Ihn trug ein militärischer Status quo, eine «Modus-vivendi-Konstruktion».
Von jener Modus-vivendi-Konstruktion und deren KSZE/OSZE-Säulen rückten die Staaten der transatlantischen Allianz Schritt für Schritt ab. Das lief in der Wahrnehmung der russischen Führungen auf ein Verdrängen Russlands aus der Mitbestimmung gesamteuropäischer Sicherheitsfragen auf dem gemeinsamen Kontinent hinaus.
Rückblickend erweist sich die Gesamtkonstruktion vom Modus vivendi als General-schlüssel zu friedlicher Koexistenz. Der KSZE-Prozess bietet dafür eine Blaupause.
Die Beziehungen zwischen den europäischen und eurasischen Staaten von ihren Spannungen zu befreien erfordert, einen gegenwärtigen Zustand zu überwinden, in welchem der Kalte Krieg Staatenbeziehungen als seine Waffe missbraucht. Erfahrungen des KSZE-Prozesses bieten dafür eine Blaupause.
Erstens: Der KSZE-Prozess funktionierte parallel zum ersten Kalten Krieg und bot somit Räume zu gleichberechtigtem Problemabgleich. (Ein ultimatives Gegenteil bietet die Nato-2030-Strategie mit einem «Ausgleichsangebot an Russland zu ihren Bedingungen». Im Klartext: Ausgleich nicht gewollt.)
Zweitens: Prioritäres Verständnis von «Konfliktzivilisierung» (Senghaas) war die Prävention von Krieg zwischen den Staaten. Das beruhte auf einer Perzeption, der zufolge nicht Systemunterschiede per se eine primäre Bedrohungsursache darstellen, sondern die Militarisierung des Umgangs mit diesen. Daraus entwickelte sich im Laufe des Helsinki-Prozesses folgendes Verhaltenssystem:
Diese Gesamtkonstruktion eines Modus vivendi als Stabilität von Staatenbeziehungen, Arbeitsverhältnis auf Führungsebenen, militärischem Status quo erwies sich als eine Art Generalschlüssel zur friedlichen Koexistenz. Er ermöglichte konsequent demokratisches Verhalten der Staaten zu- und miteinander, vor allem der grossen internationalen, aber auch regionalen.
Kalter Wertekrieg – welche Konfliktaspekte
wären pragmatisch und überbrückbar?
Erstens: Europäisch-eurasische Staatenverhältnisse und -Beziehungen entspannen. Ein erster wesentlicher Schritt dahin wäre, sie von den Gefechten um die Werteproblematik zu entlasten. Damit wären erhebliche atmosphärische Verbesserungen zeitnah erreichbar. Es ist kein objektiver Grund dafür zu erkennen, den «Wertekrieg» nicht umgehend einzustellen. Weder sind die Werte- noch die politische Ordnungsidentität westlicher Gesellschaften aus dem Osten oder Süden gefährdet. Das Durchsetzen der Menschenrechte sollte seinen Schwerpunkt auf die Bewahrung physischer Unversehrtheit des Menschen als elementarste Voraussetzung jeden demokratischen Fortschritts legen. Die physische Unversehrtheit des Menschen einfordernde und schützende Konventionen sind durchzusetzen.
Zweitens: Ein diplomatischer Ansatz sollte Stellenwert und Platz der Werteproblematik unter zeitgenössischen multipolaren sowie soziokulturell pluralen Bedingungen reali-stisch bewerten. Konkret sollte das für Russland und den gemeinsamen eurasischen Raum beginnen. Für den Umgang mit dem Wertekonflikt sollten Modalitäten entwickelt werden, die kooperative Staatenverhältnisse ermöglichen. Die Werteproblematik ist aus jedem militärpolitischen Kontext, so der Nato, zu entfernen.
Drittens: Einhaltung der Prinzipien der «Helsinki Schlussakte» sowie der «Charta von Paris». Im Rahmen der OSZE sollten deren Signatarstaaten sich erneut dazu verpflichten, deren Prinzipien und Grundregeln einzuhalten. Diese Staaten haben die Schlussakte unterschrieben, kennen deren Inhalt und stimmten deren Gültigkeit auch nach dem Ende des ersten Kalten Kriegs als Bestandteil einer europäischen Friedensordnung zu. Realiter wurde diese Ordnung von den neuen Staatenkonflikten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und ersten Kalten Kriegs zerrieben. Die Schlussakte sollte ihre Gültigkeit als normativer Bezugsrahmen behalten.
Viertens: Die OSZE sollte eine Leitfunktion bei der Modernisierung friedlicher Koexistenz im euroasiatischen Raum ihrer Mitgliedsstaaten übernehmen. Sie ist dafür die am effektivsten ausgestattete regionale Organisation mit bewährten Staatenbeziehungen und Mechanismen, gegenseitiger Kenntnis politischer Positionen und von allen Mitgliedsstaaten anerkannten konstitutiven Prinzipien und Regeln. Jedoch erfuhr auch dieser Raum seit der Charta von Paris eine bemerkenswerte Pluralisierung von Interessen, Werten und politischen Systemen, deren Dynamik das dogmatisierte Werteparadigma als Beziehungspunkt ihrer westlichen Mitglieder nicht folgte. Noch verfügt die OSZE über Voraussetzungen, «Laboratorium» für das Konstruieren eines eurasischen modernen dynamischen Verständnisses friedlicher Koexistenz zu sein.
Friedliche Koexistenz bleibt letztmöglich der einzige realistische bahnbrechende Ausweg aus jener ruinösen Krise, in welcher sich das Verhältnis zwischen EU-Europa und seinem eurasischen kontinentalen Kontext befindet. •
1 https://www.osce.org/files/f/documents/6/e/39503_1.pdf
2 Diese Begrenzung bezog sich lediglich auf das Unterzeichnungsrecht.
3 Dieser Textabschnitt stammt aus der Feder von Peter Steglich, Botschafter a.D. Beginnend mit Vorbereitungen zur Konferenz von Helsinki sowie der Erarbeitung der Schlussakte begleitete P. Steglich den nachfolgenden Helsinkiprozess durchgängig: 1977–1990 als Stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Grundsatzfragen und Planung im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR. In diesem Zeitraum leitete er die DDR-Delegation auf den KSZE-Folgetreffen in Madrid (1980–1983) und Wien (1986–1989) sowie anderen KSZE-Konferenzen in Bonn, Hamburg und Paris.
4 Henry Kissinger. Weltordnung, C. Bertelsmann, 2014, S. 111
5 Hans Köchler. Demokratie und Neue Weltordnung, Universität Innsbruck, VIII, 1992, S. 10
6 The United States global leadership role, Congressional Bills 117 the Congress 2021/2022, [From the U.S. Government Publishing Office], [S. 1169 Reported in Senate (RS)], STATEMENT OF POLICY, BILLS-117hr3524ih.pdf (congress.gov) (1)
7 Gemeinsame Erklärung der BRICS-Minister für Auswärtige Angelegenheiten/Internationale Beziehungen, https://www.mea.gov.in/bilateral-documents.htm?dtl/37860/joint+statement+of+the+brics+ministers+of+foreign+affairsinternational+relations . (Übersetzung A.S.)
8 https://crsreports.congress.gov
9 ebenda
10 Gregor Schöllgen, Gerhard Schröder. Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen, Deutsche Verlags-Anstalt, 2021, S. 219
11 Diese kommt der internationalen Kategorie von «Kollektiver Sicherheit» nahe, welche die Ablehnung jeglichen aggressiven Verhaltes im Einflussbereich teilnehmender Staaten ablehnt. (Kissinger, S. 289)
12 Dieter Senghaas. Weltordnung in einer zerklüfteten Welt, Suhrkamp, Berlin 2012, S. 75
13 Uri Friedman: The «attraction of American society … is today less clear», Centre for Strategic and International Studies, CSIS, Washington, September 13, 2018, https://www.defenseone.com/ideas/2018/09/america-losing-power-and-influence-and-must-adapt-warns-un-secretary-general/151242/
14 Erhard Crome. Die ungeliebte Alternative – Rückbesinnung auf friedliche Koexistenz für eine zeitgemäße internationale Politik, VSA: Verlag Hamburg, 2021, S.145
15Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas, Rede des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 28. November 1990, https://webarchiv.bundestag.de/archive/2006/0706/geschichte/parlhist/dokumente/dok09.html
16Bulletin der Bundesregierung Nr. 113/S. 1187 vom 21. September 1990
17 Egon Bahr. Zu meiner Zeit, Karl Blessing Verlag, München, 1996, S. 166
18 ebenda, S. 566
19The Atlantic Alliance and European Security in the 1990s, Address by Secretary General
20 Kissinger a.a.O. S. 106
21 Jeremy Rifkin. Der Europäische Traum – Die Vision einer leisen Supermacht, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M., 2006, S. 314
22 Robert L. Hutchings. Als der Kalte Krieg zu Ende war – ein Bericht aus dem Inneren der Macht, Alexander Fest Verlag, 1999, S. 132
23 ebenda
24 ebenda, S. 176
25 Siegfried Bock. Die DDR im KSZE-Prozess; In: Siegfried Bock, Ingrid Muth, Hermann Schwiesau. DDR-Aussenpolitik im Rückspiegel, LIT Verlag, Münster, 2004, S. 105
* Dr. Dr. h.c. Arne Clemens Seifert, (geboren 1937 in Berlin), Botschafter a.D., Senior Research Fellow WeltTrends-Institut für Internationale Politik, Potsdam. Studium am Institut für Internationale Beziehungen, Moskau, Spezialisierung für Türkei, Iran, Afghanistan, Diplom 1963. Promotion am Institut für Internationale Arbeiterbewegung, Berlin, 1977. Dr. h.c. am Orient-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften 2017. Funktionen im Aussenministerium der DDR 1964–1990: Bereich arabische Staaten, vor Ort tätig in Ägypten, Jordanien; Sektorleiter Irak, Iran, Afghanistan; Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Stellvertretenden Ministers für Asien, Afrika; Botschafter in Kuwait 1982–1987; Abteilungsleiter 1987–1990. Nach 1990: OSZE-Mission in Tadschikistan; Zentralasienberater am Zentrum für OSZE-Forschung (CORE), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg mit Schwerpunkt OSZE- und Zentralasienforschung – zivile Konfliktprävention, Transformation, politischer Islam, säkular-islamisches Verhältnis, politische Prozesse. Jüngere Publikationen u.a.: Dialog und Transformation – 25 Jahre OSZE- und Zentralasienforschung, Nomos; Islamischer Aufbruch in Zentralasien – Spezifika religiöser Radikalisierungsprävention, OSZE-Jahrbuch Bd. 24, 2018; Friedliche Koexistenz in unserer Zeit – Der neue Kalte Krieg und die Friedensfrage, WeltTrends 2021; Regelbasierte internationale Ordnung» versus post-koloniale Emanzipation – Grenzen und Sackgassen eines globalen Hegemonieprojekts, WeltTrends 2022
von Arne C. Seifert
«Die vornehmste Aufgabe der führenden Politiker des Westens ist nicht, andere Kulturen nach dem Bild des Westens umformen zu wollen.»
(Samuel Huntington)
Welche Konfliktaspekte wären pragmatisch und überbrückbar? Der Autor dieses Artikels greift aus der Vielfalt entspannungsbedürftiger Konfliktherde und -gegenstände einen bewusst heraus: Wertekonflikt und Wertekrieg.
Ein arabischer Golf-Politiker warnte: «Es ist an der Zeit, konkret miteinander zu reden. Das betrifft vor allem die Problematik ‹Werte›. Bitte unterschätzen Sie unsere Werte, Religion und Kultur nicht. Wir erwarten von Ihnen Respekt und Wertschätzung unserer Kultur. Das ist der Kern unseres Verhältnisses. Regierungen kommen und gehen. Kultur, Religion und Werte bleiben. Ohne deren Verständnis wird es zwischen uns keine tragfähige, belastbare Partnerschaft geben. Ich empfehle Ihnen, nicht zu vergessen: Wir haben auch andere Partner. Die Welt ist für uns offen. Wir sind auf Sie nicht angewiesen. Sollte es uns nicht gelingen, uns über annehmbare Prinzipien für ein gemeinsames respektvolles Verhältnis zu Werten und Kulturen zu verständigen, dann werden wir für unsere Beziehungen und gegenseitiges Vertrauen keine Grundlage haben.»1
Die Inrechnungstellung der Pluralität gesellschafts-, ordnungspolitischer und wertemässiger Systeme in unserer Welt gibt Auskunft darüber, in welcher Art und Weise sowie mit welchen politischen Intentionen Unterschiedlichkeit von Herrschaftssystemen wahrgenommen wird. Schlussendlich auch darüber, welchen internationalen Steuerungsinstrumenten sich Staaten zuwenden – hegemonial und konfrontativ oder koexistentiell, konfliktpräventiv und friedensorientiert.
Insbesondere die Absicht des Westens, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sein normatives und institutionelles Weltbild zum international dominierenden auszuweiten, befördert den Umgang mit der Vielfalt gesellschafts-, ordnungspolitischer und wertemässiger Systeme zu einem der kompliziertesten Konfliktfelder der Weltpolitik. Seine Militarisierung durch Kriege und Interventionen zum Zweck von «Regime change» machte es zu einer Frage von «Krieg oder Frieden».
Als «demokratischer Frieden» apostrophiert, machte die westliche Seite aus ihren Absichten schon unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts kein Geheimnis. Bereits 1990 stand für sie fest, dass sie mit Hilfe der KSZE-Mechanismen deren östliche Mitgliedsstaaten in den Verfassungsrahmen ihrer politischen Systeme einbezieht. Sie verpflichtete folgerichtig alle östlichen KSZE-Staaten in der Charta von Paris, «die Demokratie als die einzige Regierungsform […] aufzubauen, zu festigen und zu stärken».2 In seinen «Erinnerungen» schrieb Hans-Dietrich Genscher dazu: «Die Charta von Paris [schuf] ein Fundament für alle Grundwerte und Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung.»3[Hervorhebung A.S.]
Es war auch Genscher, der auf der Moskauer KSZE-Konferenz im September 1991 darauf bestand, dass für das Durchsetzen der «menschlichen Dimension, dem Synonym für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte», [Hervorhebung A.S.] äussere Interventionen zulässig seien. In seinen «Erinnerungen» hält er dazu fest: «Bei dieser Moskauer Konferenz, wenige Wochen nach dem Moskauer Putsch im Sommer 1991, schloss sich die Sowjetunion [der damalige Präsident Jelzin. – A.S.] meiner Initiative an, im KSZE-Rahmen die Nichtanerkennung von verfassungswidrigem Machtwechsel festzuschreiben und ausserdem zu beschliessen, dass die Forderung nach Achtung der Menschenrechte nicht dem Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten unterliegt.» (Genscher, S. 321)
Vor diesem Hintergrund schuf sich der «Westen» im Kontext von «War on Terror», «demokratischem Frieden», «demokratischer Intervention», «menschlicher Dimension» mit «Responsibility to Protect» einen völkerrechtlichen Rahmen, der seine Interventionspolitik abstützte und zentrale Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen zur Gewährleistung von internationaler Sicherheit und Frieden unterwanderte, so die der souveränen Gleichheit der Staaten.
Völlig verworfen wurde (bis in die Gegenwart) das Prinzip der Helsinki Schlussakte, dem zufolge «Kraft des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker […] alle Völker jederzeit das Recht [haben], in voller Freiheit, wann und wie sie es wünschen, ihren inneren und äusseren politischen Status ohne äussere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen».4
Jenes westliche Verlangen nach globaler Wertedominanz ging, menschenrechtsverkleidet, in die transatlantische Doktrin der «regelbasierten internationalen Ordnung» ein. Womit diese nicht nur integraler Bestandteil jeweiliger Staatspolitik wurde, sondern auch der Nato. «Wir bleiben Bollwerk der regelbasierten internationalen Ordnung» [Hervorhebung A.S.], heisst es in «NATO 2022 STRATEGIC CONCEPT». Weiterhin beschlossen die Staatsoberhäupter und Regierungschefs der Nato-Staaten: «We will strengthen our ties with partners that share the Alliance’s values and interest in upholding the rules-based international order. We will enhance dialogue and cooperation to defend that order, uphold our values and protect the systems, standards and technologies on which they depend.»5 Dafür steckt die Nato einen Aktionsraum von 360 Grad ab. Also global.
Das ist eine globale Androhung ohne jegliche Sicherheitsbedrohung für die Nato und/oder deren Mitgliedsstaaten. «Transatlantika» führt einen «Kalten Wertekrieg». Welch eine historische Bedrohung für die globale friedliche Koexistenz.
Global – dazu zählten im Jahr 2021 auch etwa 3,2 Milliarden Menschen in den Ländern der BRICS-Staaten. 41% der Weltbevölkerung mit ihren gesellschaftlichen Werten und Normen, Kulturen, Religionen usw. Die Werteprovokation des Westens und der Nato nahmen die BRICS-Staaten sehr wohl zur Kenntnis. Sie reagierten auf deren Gipfeltreffen 2024 im russischen Kasan dezent, aber unmissverständlich: «Sie einigten sich darauf, die Zusammenarbeit in Fragen gemeinsamer Interessen sowohl innerhalb der BRICS als auch in multilateralen Foren, einschliesslich der Generalversammlung der Vereinten Nationen und des Menschenrechtsrates, zu stärken, wobei sie die Notwendigkeit berücksichtigten, die Menschenrechte auf nicht-selektive, nicht-politisierte und konstruktive Weise und ohne Doppelmoral zu fördern, zu schützen und zu erfüllen.»6[Hervorhebung A.S.]
BRICS’ unmissverständliche Warnung sowie Entschlossenheit zu Widerstand und internationalem Gegenwind gleichen jenen des eingangs zitierten arabischen Politikers.
1 Archiv des Autors. Zitat von 2024
2 Charta von Paris für ein neues Europa. Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs, Paris, 21. November 1990, in: Ulrich Fastenrath (Hrsg.). KSZE/OSZE. Dokumente der Konferenz und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Köln 2008, Kap. A.2, S. 2
3 Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Siedler Verlag, Berlin, 1995, S. 319
4 Schlussakte von Helsinki, Kap. VIII. Gleichberechtigung und Selbstbestimmungsrecht der Völker
5 NATO, Adopted by Heads of State and Government at the NATO Summit in Madrid, 29 June 2022, S.1;10
6 Gemeinsame Erklärung der BRICS-Minister für auswärtige Angelegenheiten/Internationale Beziehungen, Punkt 49, 10. Juni 2024, https://www.mea.gov.in/bilateral-documents.htm?dtl/37860/joint+statement+of+the+brics+ministers+of+foreign+affairsinternational+relations
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