von Stefan Kraft, Publizist und Verleger, Wien
An historischen Referenzen mangelte es nicht. In jener Stadt, in der der Wiener Journalist Theodor Herzl 1896 seine Schrift «Der Judenstaat» veröffentlichte und damit der zionistischen Bewegung ihr Gründungsdokument gab, fand vom 13. bis 15. Juni 2025 der «erste jüdische antizionistische Kongress» statt. Initiiert unter anderem von der in Wien lebenden Jüdin Dalia Sarig, der Initiative «Judeobolschewiener:innen» und der «Palästina Solidarität Österreich», getragen von einer grossen Anzahl jüdischer Aktivisten und Intellektuellen aus der ganzen Welt. Beeindruckend waren nicht nur die Namen der internationalen Teilnehmer, sondern auch die Anzahl der Besucher an allen drei Kongresstagen, jeweils mehrere Hundert hörten den simultan übersetzten Diskussionen zu.
Bund versus Zionismus
Der Name Herzl, dessen nach ihm benannter Wiener Platz vor kurzem von Aktivisten in «Gaza Platz» umgewandelt wurde, geisterte auch in den Statements der ersten Podiumsdiskussion, die sich dem historischen Anti-zionismus unter Juden widmete. Yakov Rabkin von der Universität Montreal rief den Zuhörern ins Gedächtnis, dass Herzl als Ort des ersten Zionistenkongresses 1897 Basel statt München wählen musste: «Der Widerstand gegen den Zionismus kam aus drei Hauptquellen: einer religiösen, einer sozialen und schliesslich einer politischen. Warum also fand er in Basel und nicht in München statt? Weil deutsche jüdische Organisationen gegen die Abhaltung des Zionistischen Kongresses in Deutschland protestierten. Sie wollten sich nicht der zionistischen Bewegung anschliessen, weil die Botschaft der Zionisten jener der Antisemiten sehr ähnlich war, die sagten: ‹Ihr gehört nicht hierher, ihr gehört woanders hin, nämlich nach Palästina.›» Im selben Jahr des Kongresses von Basel entstand der «Allgemeine Jüdische Arbeiterbund». Der britische Historiker Donny Gluckstein ergänzte: «Der Bund hasste den Zionismus. Es war alles, wofür der Bund nicht stand.»
Ähnlich sah dies Ronnie Barkan, Teilnehmer der Konferenz und israelischer Aktivist der Gruppe «Boycott from Within», der in einer Vorankündigung zur Veranstaltung in Wien meinte: «Der Antizionismus ist so alt wie der politische Zionismus. […] Während der Bund in mehreren osteuropäischen Ländern zu einer grossen Bewegung wurde, repräsentierte der Zionismus weniger als 1 % der jüdischen Bevölkerung in Europa. […] Ohne Hitler wäre der Zionismus aller Wahrscheinlichkeit nach eine kleine und unbedeutende jüdische Kolonie in Palästina geblieben.»
Innereuropäisch, nicht innerjüdisch
Im Sinne dieser Analyse formulierte der in Grossbritannien lehrende israelische Historiker Ilan Pappe seine Interpretation der dreitägigen Zusammenkunft: Dieses «geschichtliche Ereignis» sei nicht etwa eine «innerjüdische Debatte», statt dessen solle man den Kongress als Beginn einer «innereuropäischen» Diskussion verstehen. Pappe: «Man kann die europäische Geschichte, den europäischen Rassismus gegenüber Juden und Europas Mitschuld an der Erfindung der Idee eines jüdischen Staates in Palästina nicht voneinander trennen.» Und als Auftrag an die Teilnehmer sagte er in seiner einleitenden Rede: «Als Jüdinnen und Juden in Europa haben wir die Aufgabe, unseren politischen Eliten und den Mainstream-Medien zu erklären, dass sie an den Ursprüngen jenes Projekts mitschuldig sind, das zum Genozid in Gaza geführt hat.»
Pappe war einer der bekanntesten Redner auf dem Wiener Kongress, auf dem auch eine Video-Grussbotschaft von Roger Waters (Pink Floyd) zu sehen war und Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für die Besetzten Gebiete Palästinas, via Internet zugeschaltet wurde. Aus dem deutschsprachigen Raum nahm unter anderem Iris Hefets teil, eine aus Israel emigrierte Psychoanalytikerin, die für ihren Protest gegen die israelische Politik auf den Strassen von Berlin festgenommen worden war.
Über Antisemitismus
Ebenso aus Deutschland stammt der Übersetzer Wieland Hoban, Vorsitzender der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden, der am zweiten Tag bei der Debatte über die «Instrumentalisierung des Antisemitismus» das Wort ergriff. Neben ihm Platz nahm der aus London angereiste Stephen Kapos, der wohl den intensivsten Applaus aller Teilnehmer erhielt. Geboren in Budapest 1937, wurde er als Kind mit falschen Papieren vor der drohenden Deportation ins KZ bewahrt, wo die Nazis 15 seiner Familienmitglieder ermordeten. Weil er im Januar dieses Jahres Blumen für die getöteten Palästinenser am Trafalgar Square niedergelegt hatte, lud ihn die britische Polizei zum Verhör vor. Kapos berichtete von den antisemitischen Grausamkeiten seiner Kindheit, der auch einer seiner Schulfreunde zum Opfer fiel, um dann auf die Kampagne gegen seinen Parteifreund Jeremy Corbyn zu sprechen zu kommen. Ebenso wie gegen Corbyn würde auch in der aktuellen Situation der Begriff Antisemitismus pervertiert: «Antisemitismus wurde zur Waffe der Wahl bei der Unterdrückung der Kritik am Völkermord in Gaza.» Ähnlich missbrauche Israel das Gedenken an die Judenvernichtung: «Ich möchte nur eine kleine Sache erwähnen: Ich habe im Fernsehen eine Sitzung der Vereinten Nationen gesehen, in der der israelische Vertreter einen Redebeitrag leistete und sich sehr theatralisch einen gelben Stern ansteckte. Ich fand das absolut widerlich, als jemand, der selbst mit sieben Jahren einen gelben Stern tragen musste. Und ich denke, das war ein Beispiel für den völligen Missbrauch der Erinnerung und der Symbolik.»
Ein weniger präsentes Thema beleuchtete die Diskussion «Vom Stolz zur Verleugnung: Arabische Juden und Jüdinnen», die sich wiederum durch ihre Redner auszeichnete. Zum einen war dies der 81jährige Reuven Abergel, Begründer der israelischen «Black Panthers» in den 1970er Jahren, die sich einst gegen die Ausgrenzung als Immigranten aus Nordafrika zur Wehr setzten, und die junge Kunstkuratorin Camille Levy Sarfati aus Tunesien, die über das «Rückkehrrecht» der Jüdinnen und Juden in die arabischen Länder referierte.
Wenn sie noch leben
Ausgehend von der «Wiener jüdischen anti-zionistischen Erklärung» aus dem Dezember 2024 manifestierte der Kongress sowohl hinsichtlich der Themenbreite als auch der internationalen, prominenten Beteiligung ein deutliches Signal der innerjüdischen Opposition gegen den Zionismus – als Teil der weltweiten Solidaritätsbewegung mit Palästina. llan Pappe war in seiner Rede an die Kongressteilnehmer um Optimismus bemüht: Er sei überzeugt, dass der Wandel in der Geschichte «bereits stattfindet» und ein Regime, das auf Rassismus, Apartheid und Enteignung basiert, letztlich zusammenbrechen wird. Einschränkend fügte er hinzu: Die Frage sei nicht, ob es passiert, sondern wann, und das «Wann» sei für die Palästinenser vor Ort, die noch leben und leiden, «entscheidend». •
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