«Wir müssen uns entscheiden, ob Macht über Recht steht oder Recht über Macht. Wenn wir uns für den Rechtsstaat entscheiden, müssen wir uns bewusst sein, dass jede Macht – auch die unsere – dem Recht unterworfen ist.»
Nils Melzer1
Üblicherweise berichten unsere Medien ziemlich einäugig. So stehen die «syrischen Foltergefängnisse» unter Präsident Assad überall im Rampenlicht, während die weltweit schlimmsten Foltergefängnisse der USA in Vergessenheit zu geraten drohen. Nun ist aber Guantánamo wieder einmal in den Schlagzeilen, weil Joe Biden, wie andere US-Präsidenten vor ihm, vor seinem Abgang noch einige «Altlasten» loszuwerden versucht. So liess er am 6. Januar 2025 elf Insassen aus dem Gefangenenlager Guantánamo nach Oman ausfliegen. Die Männer stammen aus dem Jemen und waren laut Medien «mehr als 20 Jahre ohne Anklage inhaftiert»! Ausserdem soll der afghanische Gefangene Muhammad Rahim al-Afghani gegen drei in Afghanistan festgehaltene US-Amerikaner ausgetauscht werden. Er sitzt seit 17 Jahren als angeblicher hochrangiger al-Kaida-Mitarbeiter in Guantánamo. Laut seinem Anwalt habe man keinen einzigen Beweis für diese Vorwürfe erbringen können, er selbst bestritt sie stets.2
Kein Platz für rechtsstaatliche Prinzipien
In einem Rechtsstaat wäre die Sache klar: Wer eines Delikts bezichtigt wird, muss beim zuständigen Gericht angeklagt werden, und wenn die Anklagebehörde keine genügenden Beweise vorlegen kann, hat das Gericht ihn unverzüglich freizulassen. In der US-Führung und ihren Geheimdiensten ist wenig Platz für derlei rechtsstaatliche Prinzipien. Das Straflager Guantánamo Bay auf Kuba wurde von Präsident George W. Bush 2002 völkerrechtswidrig errichtet und seit da jedem Recht zum Hohn und trotz zahlreicher Proteste im In- und Ausland sowie von seiten der Uno aufrechterhalten.
Präsident Barack Obama kündigte bekanntlich 2009 die Schliessung von Guantánamo an – alles nur Schall und Rauch. Der Kongress verbot, Häftlinge auf das Festland der USA zu verlegen und verhinderte damit, dass sie rechtmässig durch ein Gericht in den USA angeklagt und bei fehlenden Beweisen freigelassen werden müssten. Statt dessen schob die US-Regierung schon früher möglichst viele der nicht verurteilten, also vor dem Recht unschuldigen, Gefangenen in verschiedenste Länder ab. Auch in der Schweiz wurden vor Jahren einige Insassen aufgenommen (Uiguren, die sich zu Beginn des Überfalls der USA auf Afghanistan zufällig in der Region aufgehalten hatten und in die Fänge der CIA geraten waren!) Nach der jüngsten Freilassung der elf Männer nach Oman sollen noch 15 bedauernswerte Menschen übrigbleiben.
Deal mit einem unter
jahrzehntelanger Folter «Geständigen»
Ebenfalls allen rechtsstaatlichen Grundsätzen spottet der Deal der US-Regierung mit Khalid Sheikh Mohammed, den sie laut aktuellen Medienberichten so weit gebracht haben, dass er sich schuldig bekennen soll, die Anschläge vom 11. September 2001 geplant zu haben. Als «Belohnung» soll sein drohendes Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt werden. «Der Hintergrund dieser aussergerichtlichen Einigung ist, dass seine früheren Geständnisse vermutlich unter Folter erfolgt sind und vor Gericht nicht gültig wären.»3 Im Klartext: Die Schuldeingeständnisse von Mohammed sind null und nichtig, denn er wurde seit über 20 Jahren gefoltert, beginnend im März 2003: «1. März 2003. Mohammed, der mutmassliche Drahtzieher der Anschläge vom 11. September, wird in Pakistan gefangengenommen. Im Laufe des nächsten Monats wird er 183mal mit Waterboarding verhört.»4 183mal in einem Monat! Mehr als sechsmal pro Tag! Nicht auszudenken, was er seit damals sonst noch alles erdulden musste, bevor er zurzeit dazu gebracht werden soll, die Planung des Anschlags auf die Türme in New York zu «gestehen».
Der Guantánamo-Gefangene Abu Zubaydah beschrieb die Folterpraktiken, die er und andere in ihrer mehr als 20jährigen Leidenszeit erdulden mussten, in 40 brutal realistischen Zeichnungen mit dazugehörigem Text. Allein schon einige wenige dieser Zeichnungen anzuschauen ist kaum auszuhalten! Im Mai 2023 wurden sie in einem Buch veröffentlicht.5
USA setzen Genfer Konvention
ausser Kraft – Nils Melzer hält dagegen
Von diesen unmenschlichen Abgründen findet man nur mit Mühe zurück zum Thema Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit. Einer, der sich trotz all dem Unrecht, das er im Laufe seines Einsatzes für eine menschlichere Welt miterleben musste, nicht von seiner aufrechten Haltung abbringen liess, ist Nils Melzer. Über Jahrzehnte trug er als IKRK-Delegierter, als Uno-Sonderberichterstatter für Folter (vor allem im unermüdlichen Kampf für die Freilassung von Julian Assange) und als Direktor für Völkerrecht, Politik und humanitäre Diplomatie beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) dazu bei, unsere Welt ein bisschen menschlicher und hoffnungsvoller zu machen. Im Gespräch mit der Weltwoche betont Nils Melzer die Unverzichtbarkeit und die grosse Bedeutung der Grundsätze des Humanitären Völkerrechts gerade in der heutigen Welt:
«Die Genfer Konventionen stellen klar, dass gegnerische Kämpfer nicht Monster oder Tiere sind. Sondern Menschen, die man nur dann angreifen kann, wenn und solange sie durch ihre Funktion oder Aktivität unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt sind. Aber sobald sie nicht mehr kampftüchtig oder kampfwillig sind, haben sie Anspruch auf Schutz, menschliche Behandlung und bei Straftaten auf einen fairen Prozess.»
Die US-Regierung dagegen macht keinen Hehl daraus, dass sie sich nicht an die Grundsätze des zwingenden Völkerrechts gebunden fühlt. Nachdem sie nach den Anschlägen des 11. September 2001 ohne faktischen Zusammenhang einen Krieg gegen Afghanistan vom Zaun gebrochen hatte, gab Präsident George W. Bush am 7. Februar 2002 einen Erlass heraus, der «Mitglieder der al-Kaida, der Taliban und mit ihnen verbundener Kräfte [als] ungesetzliche feindliche Kämpfer erklärt, die keinen Anspruch auf den Schutz haben, den die Dritte Genfer Konvention Kriegsgefangenen gewährt».7
Offenbar war es den US-Eliten entfallen, dass sie selbst al-Kaida, und wie sie alle heissen, geschaffen hatten und gross werden liessen, dort, wo sie ihnen nützlich waren.
Tatsächlich ist es gerade der Sinn und Zweck der Genfer Konventionen, dass sie zwingend für alle Parteien in allen Kriegen gelten, besonders auch für die Grossmächte (siehe Kasten).
CIA-Folterkeller seit 2001
und bis heute in Guantánamo
Ausserdem unterzeichnete Präsident Bush gemäss dem CIA-Folterbericht von 2014 am 17. September 2001 «ein geheimes Memo, das die CIA ermächtigt, mutmassliche Terroristen zu inhaftieren». Es folgten die ungeheuerlichen Aktivitäten der CIA, die von 2002 bis 2008 in verschiedenen Staaten wahllos Menschen einsammelte – was sind «mutmassliche Terroristen»? – und in ihre geheimen Folterkeller steckte, um mit brutalsten Methoden «Geständnisse» aus ihnen herauszupressen. Die meisten der überlebenden Gefolterten landeten anschliessend in Guantánamo, wo bis zu 700 entrechtete Menschen über Jahrzehnte unter schlimmsten Lebensbedingungen und schwerer Folter dahinvegetierten, ohne Anklage und damit ohne die Möglichkeit, sich vor einem ordentlichen Gericht verteidigen zu können.
Zu erinnern ist an die gefolterten Häftlinge in Abu Ghraib im Irak. Drei Überlebende erhielten kürzlich gemäss einem Gerichtsurteil in den USA vom November 2024 (nach 20 Jahren!) eine Entschädigung zugesprochen, allerdings nicht vom US-amerikanischen Staat zu bezahlen, sondern von der «Sicherheitsfirma», welche von der US-Army eingesetzt worden war.8 Zu erinnern ist auch an den mutigen Schweizer Dick Marty, der 2007 als Sonderermittler des Europarates den Betrieb von CIA-Geheimgefängnissen in mehreren EU-Staaten aufdeckte, so in Polen und Rumänien, deren Regierungen dies umgehend bestritten. Auch Deutschland und Italien waren gemäss Martys Bericht in die Folter- und Verschleppungsprogramme der CIA involviert. Während die Regierung Schröder jede Beteiligung zurückwies, eröffnete die italienische Justiz immerhin ein Gerichtsverfahren in Abwesenheit gegen 26 US-Bürger.9 Wie der «Tages-Anzeiger» am 14. Januar 2025 festhält, sollten neben den USA auch die europäischen Staaten, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen ihrer Komplizenschaft verurteilt worden waren, heute endlich die Lehre daraus ziehen: «Wer ‹bewusst und willentlich ermöglicht›, dass ein verbündeter Staat Menschenrechte verletzt, der macht sich mitschuldig.»10
Nachdem die Fakten nicht mehr übergangen werden konnten, begann der Geheimdienstausschuss des US-Senats endlich, die ungeheuerlichen Taten von CIA-Exponenten und anderen Verbrechern in einem umfangreichen Bericht zu erfassen. Dieser hielt auch fest, dass ein grosser Teil der Gefolterten «zu Unrecht festgehalten» wurde. Am 9.12.2014 wurde er schliesslich veröffentlicht.11 Postwendend erklärte das US-Justizministerium, es werde «keine neuen strafrechtlichen Ermittlungen [gegen die Folterer] auf Grund des Folterberichts einleiten».12
* * *
Andere Staatschefs als menschenverachtende Ungeheuer verunglimpfen und ihren Völkern Sanktionen auferlegen, die jedes menschenwürdige Leben und Wirtschaften strangulieren – das können sie! •
1 Ryser, Daniel. «Wir befinden uns am Abgrund zu einem neuen Mittelalter.» In: Weltwoche Nr. 51/52.24 vom 19.12.2024
2 Signer, David. «Biden senkt die Zahl der Guantánamo-Insassen». In: Neue Zürcher Zeitung vom 9.1.2025
3 Signer, David. «Biden senkt die Zahl der Guantánamo-Insassen». In: Neue Zürcher Zeitung vom 9.1.2025
4 CNN. CIA Folterbericht. Kurzinformationen. Aktualisiert am 19.9.2024. https://edition.cnn.com/2015/01/29/us/cia-torture-report-fast-facts/index.html
5 Pilkington, Ed. «‹Der ewige Gefangene›: Abu Zubaydahs Zeichnungen entlarven die verwerfliche Folterpolitik der USA». In: The Guardian vom 11.5.2023 https://www.theguardian.com/law/2023/may/11/abu-zubaydah-drawings-guantanamo-bay-us-torture-policy
6 Ryser, Daniel. «Wir befinden uns am Abgrund zu einem neuen Mittelalter.» In: Weltwoche Nr. 51/52.24 vom 19.12.2024
7 CNN. CIA Folterbericht. Kurzinformationen. Aktualisiert am 19.9.2024; https://edition.cnn.com/2015/01/29/us/cia-torture-report-fast-facts/index.html
8 «Rolle der USA im Irak-Krieg. Folteropfer von Abu Ghraib erhalten Entschädigung». In: ARD Tagesschau vom 12.11.2024
9 «CIA-Gefängnisse: Dick Marty klagt an.» In: Swissinfo vom 8.6.2007
10 Steinke, Ronen. «Die USA müssen Guantánamo endlich schliessen – und die Lehren daraus bewahren». In: Tages-Anzeiger vom 14.1.2025
11 Report of the Senate Select Committee on Intelligence Committee Study of the Central Intelligence Agency’s Detention and Interrogation Program vom 9.12.2014
12 CNN. CIA Folterbericht. Kurzinformationen. Aktualisiert am 19.9.2024.
Art. 4 A. Kriegsgefangene im Sinne des vorliegenden Abkommens sind die in die Gewalt des Feindes gefallenen Personen, die einer der nachstehenden Kategorien angehören:
1. Angehörige von bewaffneten Kräften einer am Konflikt beteiligten Partei, ebenso Angehörige von Milizen und Freiwilligenkorps, die zu diesen bewaffneten Kräften gehören;
2. Angehörige anderer Milizen und Freiwilligenkorps, einschliesslich solcher von organisierten Widerstandsbewegungen, die zu einer am Konflikt beteiligten Partei gehören […] [und viele weitere Kategorien von Personen]
Art. 13 Abs. 1 Die Kriegsgefangenen sind jederzeit mit Menschlichkeit zu behandeln. Jede unerlaubte Handlung oder Unterlassung seitens des Gewahrsamsstaates, die den Tod oder eine schwere Gefährdung der Gesundheit eines in ihrem Gewahrsam befindlichen Kriegsgefangenen zur Folge hat, ist verboten und als schwere Verletzung des vorliegenden Abkommens zu betrachten.
Art. 14 Abs. 1 Die Kriegsgefangenen haben unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Person und ihrer Ehre.
Art. 87 Abs. 3 Sämtliche Kollektivstrafen für Vergehen Einzelner, sämtliche Körperstrafen, jedes Einsperren in Räume ohne Tageslicht und ganz allgemein jede Art von Folter und Grausamkeit sind verboten.
III. Gerichtliche Verfolgung
Art. 99 […] Abs. 2 Es dürfen weder moralische noch physische Druckmittel angewandt werden, um einen Kriegsgefangenen dazu zu bringen, sich der Handlungen, deren er angeklagt ist, schuldig zu bekennen.
Abs. 3 Kein Kriegsgefangener darf verurteilt werden, ohne die Möglichkeit zu seiner Verteidigung und den Beistand eines geeigneten Verteidigers gehabt zu haben.
Art. 118 Abs. 1 Die Kriegsgefangenen sind nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten ohne Verzug freizulassen und heimzuschaffen.
Quelle: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1951/228_230_226/de
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