Diese Woche hat uns der zehnte Jahrestag der Anschläge auf Charlie Hebdo eine Flut von Kommentaren und flammenden Erklärungen zur Verteidigung der Meinungsfreiheit beschert: keine Kompromisse mit Zensoren und Fundamentalisten aller Art, die versuchen, das Recht – zu tadeln, zu karikieren und sich lustig zu machen – zu beschneiden. Solche Glaubensbekenntnisse kann man nur begrüssen. Und doch! Dieses Programm kann diejenigen, die versucht haben, ihre Redefreiheit gegen die offiziellen Dogmen geltend zu machen, nur verbittert und skeptisch zurücklassen.
Es ist amüsant festzustellen, dass diejenigen, die sagen, sie seien bereit, ihr Blut bis zum letzten Tropfen für Charlie zu vergiessen, oft dieselben sind, die zu Zeiten von Covid mit grösster Gehässigkeit gegen Impfstoffskeptiker und Kritiker der Regierungspolitik vorgegangen sind. Was hat man damals nicht alles gegen diese gefährlichen Verschwörungstheoretiker gesagt, die allein durch ihre Fragen das Leben anderer Menschen gefährdeten! Die Medien liessen sie nicht zu Wort kommen und unterdrückten widerspenstige Stimmen gnadenlos. Einige von ihnen sind übrigens immer noch im Gefängnis, wie der deutsche Anwalt Reiner Fuellmich, der ohne Beweise beschuldigt wurde, Geld veruntreut zu haben.
Andere, wie der französische Komiker Dieudonné, wurden unter dem Vorwurf des Antisemitismus geächtet und von der Bühne verbannt. Es liegt mir fern, diesen öffentlichen Unterhaltungskünstler zu verteidigen oder irgendwelche Nachsicht bezüglich Antisemitismus zum Ausdruck zu bringen. Aber es besteht ein Paradoxon, ja, sogar ein enormer Widerspruch zwischen der hartnäckigen Verteidigung des Rechts von Zeichnern, Mohammed zu karikieren und Muslime zu verspotten, indem man sie als Idioten behandelt, und der Verurteilung und dem Auftrittsverbot eines Komikers, der seine Meinungsfreiheit nutzt, um sich über Juden lustig zu machen. Man kann sich übrigens den Aufschrei vorstellen, wenn Charlie Hebdo, anstatt sich über Mohammed, den Papst oder die Christen lustig zu machen – was er sich nicht nehmen lässt – das Judentum und die Juden karikiert und sie in gleicher Weise beleidigt hätte.
Was ist von der Empörung über die Äusserungen von Elon Musk zu halten, der die Briten angriff, die jahrelang Massenvergewaltigungen an jungen Mädchen durch Migranten verschwiegen, und was soll man über die Deutschen denken, die eine der grössten politischen Parteien des Landes, die AfD, verbieten wollen? Oder über die Aufrufe, das Netzwerk X zu zensieren, weil es Verschwörungstheorien, Hassreden und anderen antisemitischen Äusserungen gegenüber zu nachgiebig sei?
Diese tugendhaften Hüter der Meinungsfreiheit, die Musks Einmischung in europäische Angelegenheiten nicht ertragen, fanden jedoch nichts zu sagen, als sich von der Leyen in krasser Weise in die moldauischen, georgischen und rumänischen Wahlen im letzten Herbst einmischte, indem sie für die richtige Wahl Milliarden von Euro versprach und die zweite Runde der rumänischen Präsidentschaftswahlen annullieren liess, nachdem die erste Runde von einem euroskeptischen Kandidaten gewonnen worden war? Haben Sie von Meinungsfreiheit gesprochen?
Was ist mit denjenigen, die die «falschen» Parteien wählen und sofort als Rechtsextremisten oder Nazi-Sympathisanten abgestempelt, aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen und aus den vom Steuerzahler finanzierten öffentlichen Fernsehsendern verbannt werden? Und schliesslich: Was ist davon zu halten, dass politische Gegner wie der ehemalige polnische Parlamentsabgeordnete Mateusz Piskorski oder der Aktivist Janusz Niedzwiecki ohne Untersuchung oder Gerichtsverfahren inhaftiert werden, da sie des unsinnigen Delikts der «Beeinflussung der öffentlichen Meinung» beschuldigt werden, weil sie eine Meinung vertreten, die der offiziellen Doxa über die Ukraine widerspricht?
Wo ist das Recht auf freie Meinungsäusserung? Wo sind diejenigen, die – wie in der Voltaire zugeschriebenen Formulierung – bereit wären, dafür zu kämpfen, dass Meinungen, die sie nicht teilen, ausgesprochen werden dürfen?
Entweder gibt es Meinungsfreiheit, dann gibt es sie für alle; oder sie ist eingeschränkt, dann ist sie für alle eingeschränkt. Man kann sie nicht à la carte anwenden, indem man sie den einen erlaubt und den anderen verbietet. In einer ausgewogenen Gesellschaft kann es nicht Gemeinschaften geben, die man vorbehaltlos verspotten darf, und andere, die völlige Immunität gegen Pamphlete, Karikaturen oder Kritik geniessen.
Diese Ungleichbehandlungen schaffen gesellschaftliche Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft und führen zu Ressentiments bei denjenigen, die von der Meinungsäusserung ausgeschlossen sind. Sie erzeugen unerträgliche Spannungen, die in Hass und Gewalt münden können, wie es in Frankreich und auch in Deutschland und den USA der Fall war.
Da es zu viele Auslassungen, Tabus und Unausgesprochenes gibt, entsteht der Eindruck, dass sich einige Menschen freier äussern können als andere. •
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Guy Mettan ist Journalist und Abgeordneter im Grossen Rat des Kantons Genf, den er 2010 präsidierte. Er arbeitete für das «Journal de Genève», Le Temps stratégique, Bilan, «Le Nouveau Quotidien» und später als Direktor und Chefredaktor der «Tribune de Genève». 1996 gründete er den Swiss Presseclub, dessen Präsident und späterer Direktor er von 1998 bis 2019 war.
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