Künstliche Intelligenz wird weniger zu einem Instrument des Fortschritts als vielmehr zu einem Druckmittel, zu einem Mittel zur Umverteilung der Macht in der Welt.
Anfang Juli fand ein aussergewöhnliches Ereignis zu einem aussergewöhnlichen Thema statt – eine Sitzung des Kollegiums des Aussenministeriums zum Thema Informations- und Kommunikationstechnologien mit Schwerpunkt auf Fragen der Künstlichen Intelligenz. Und obwohl in der veröffentlichten Pressemitteilung eine Zusammenfassung der Ergebnisse zu finden ist, handelt es sich in Wirklichkeit nur um den Beginn einer grossen und intensiven Arbeit in diesem Bereich. Die stattgefundene Diskussion ist der Startschuss für eine ausführliche interministerielle Debatte und den Prozess der Anpassung des Ministeriums an die anstehenden Aufgaben im Bereich der KI in der internationalen Dimension dieses umfangreichen Themas.
Neue Abhängigkeitsmechanismen
In diesem für die breite Öffentlichkeit zugänglichen Ausschnitt dieser Diskussion möchte ich näher auf den politischen Hintergrund der digitalen Transformation und die Rolle eingehen, die neuronale Netztechnologien dabei spielen sollen. Es ist offensichtlich, dass unter dem Einfluss der KI als wichtigstem Treiber der vierten industriellen Revolution vor unseren Augen eine neue wirtschaftliche, soziokulturelle und gesellschaftliche Ordnung entsteht. Besonders deutlich sind die Veränderungen im industriellen und finanzwirtschaftlichen Bereich der Staaten, aber bereits jetzt gewinnt die explosive Entwicklung des maschinellen Lernens zunehmend an politischer Bedeutung. Um den Bedeutungsrahmen dieser «Kehrseite» der Digitalisierung richtig zu definieren, muss man das System ideologischer Koordinaten beschreiben, das sich einige geopolitische Akteure, die Künstliche Intelligenz fördern, zu eigen gemacht haben. Dieser Rahmen ist das neokoloniale Denken.
Gerade in Verbindung mit KI erhält der Neokolonialismus eine wahrhaft globale praktische Dimension und technologische Vollendung. Die Welt ausserhalb des Bereichs der «goldenen Milliarde» sieht sich mit der Entstehung neuer Abhängigkeitsmechanismen konfrontiert, die raffinierter sind als die «traditionellen» Formen der Unterwerfung von Kolonien unter Metropolen, aber gleichzeitig durchdringender und langfristiger. Es geht um die Abhängigkeit der Entwicklungsländer nicht nur von der Lieferung von Ausrüstung oder Software, sondern auch von der «Einstellung» der Algorithmen, die Schlüsselprozesse steuern – von der Logistik bis zur Bildung, von der Medizin bis zur Steuerung der öffentlichen Meinung. Es handelt sich um eine Ressourcenabhängigkeit auf einer anderen Ebene, bei der Informationen, Daten, deren Qualität sowie der Zugang zu Rechenkapazitäten zum wichtigsten Instrument des «Exports von Einfluss» werden.
Wer kann und will die
Bedingungen diktieren?
Die Kontrolle wird zunehmend von einer Art Agglomeration führender Staaten und Konzerne ausgeübt, die ein fast vollständiges Monopol auf Spitzentechnologien und die Infrastruktur für deren Anwendung besitzen. Wer über solche Ressourcen verfügt, hat die Möglichkeit, Bedingungen zu diktieren, Verhaltensmuster aufzuzwingen, Weltanschauungen zu formen, das Bewusstsein und letztlich die Entscheidungsfindung sowohl auf Regierungsebene als auch auf der Ebene einzelner Bürger zu beeinflussen. Und all dies geschieht, wie man heute zu sagen pflegt, «im Moment», also buchstäblich in Echtzeit.
In Verbindung mit KI erhält der Neokolonialismus eine wahrhaft globale praktische Dimension und technologische Vollendung.
KI-Technologien ermöglichen es bereits heute, die Realität in einem bisher unerreichbaren Ausmass zu lenken und zu ersetzen. Die Beeinflussung erfolgt sowohl über die üblichen Informationskanäle als auch über die digitale Umgebung, die unbemerkt in den Alltag eindringt. Neuronale Manipulationen gehen über die Grenzen der Logik und faktenbasierten Argumentation hinaus und dringen in die Ebene der automatischen Reaktionen vor – in Reflexe, moralisch-ethische Einstellungen, sogar ins Unterbewusstsein.
Es entsteht eine grundlegend andere Kontrollarchitektur, bei der externe Steuerung in das persönliche Gefüge der menschlichen Psychologie eingebettet werden kann, ohne dass bewusste Entscheidungen und Widerstand eine Rolle spielen.
Auf diese Weise wird KI nicht nur und nicht so sehr zu einem Instrument des Fortschritts, sondern vielmehr zu einem Druckmittel, zu einer treibenden Kraft des globalen Wettbewerbs, auch um die Köpfe und Herzen, um die Lebensweise des Menschen selbst, sowie zu einem Mittel zur Umverteilung der Macht in der Welt. Auf der Jagd nach dieser unangefochtenen Führungsrolle, dem Status als «Herrscher über das Schicksal der Menschheit», besteht die Gefahr, dass wir in einer Zukunft landen, die ganz anders aussieht als die, die uns die Befürworter des digitalen Wandels ausmalen. Dies ist ein Problem, das eine ausgewogene Betrachtung erfordert, die sowohl den aktuellen Fortschritt im Bereich der Hochtechnologien als auch die wirtschaftlichen Realitäten, einschliesslich ihrer ökologischen Aspekte, berücksichtigt.
Neues visionäres Projekt
eines globalen Tiefen Staates
Wie aus einer im Juli dieses Jahres veröffentlichten Erklärung des Betreibers des grössten US-amerikanischen Stromnetzes PJM Interconnection hervorgeht, «kommt es zu einer Überlastung, da Rechenzentren und Chatbots auf Basis Künstlicher Intelligenz schneller Strom verbrauchen, als neue Kraftwerke gebaut werden können». Es wird prognostiziert, dass die Stromrechnungen in diesem Sommer in einigen Teilen des Gebiets, das 13 Bundesstaaten umfasst – von Illinois bis Tennessee, von Virginia bis New Jersey – und 67 Millionen Kunden in der Region mit den meisten Rechenzentren weltweit versorgt, um mehr als 20% steigen werden. Angesichts der jahrhundertelangen kolonialen Gewohnheiten des Westens besteht kein Zweifel daran, dass die Hauptlast der komplexen Belastung der Systeme zur Gewinnung von Bodenschätzen, Strom und anderen Gütern, die für die «Versorgung» der unersättlichen KI erforderlich sind, in irgendeiner Form auf den Schultern der Entwicklungsländer lasten wird, die unvorsichtigerweise auf seine Versprechen hereinfallen, ihnen bei der «Überwindung der digitalen Ungleichheit» zu helfen. Die Briten hatten die Idee eines Imperiums, das von zahlreichen Kolonien versorgt wurde und über dem die Sonne niemals unterging. Die Franzosen hatten die Idee einer frankophonen Welt, die zu einem grossen Teil auf der faktischen Versklavung anderer Länder beruhte. Die Deutschen bauten in einer dunklen Periode ihrer Geschichte das Tausendjährige Reich auf. Das neue visionäre Projekt eines globalen Tiefen Staates ist die Künstliche Intelligenz.
Betrachten wir nun den sich herausbildenden globalen Kontrollpunkt genauer und stützen uns dabei auf Zahlen.
Schleichende Digitalisierung aller
Bereiche der Wirtschaftstätigkeit
Das erste Element ist die Weltwirtschaft selbst, die derzeit einen kontrollierten Übergang auf «digitale Schienen» vollzieht – es findet eine schleichende Digitalisierung aller Bereiche der Wirtschaftstätigkeit statt: Produktion, Verwaltung, Logistik, Vertrieb und andere. Die OECD-Länder (die sogenannten Industrieländer) haben Bedingungen geschaffen, unter denen gerade der digitale Sektor in den letzten 6–7 Jahren am schnellsten gewachsen ist. Derzeit macht er 3% des weltweiten BIP aus. Keine andere Branche in der Geschichte hat sich so schnell und in einem solchen Umfang entwickelt wie die Digitalisierung.
Digitale Standards werden zu einer notwendigen Voraussetzung für Investitionen und ziehen selbst bis zu 13% der ausländischen Investitionen an, wobei dieser Anteil immer schneller wächst. Heute generiert die Menschheit eine enorme Menge an Informationen: jede Woche mehr als im gesamten vergangenen Jahrtausend. Daher ist die Verarbeitung von Big data ein wichtiger Trend in der Entwicklung. Die Wirtschaft erkennt und versteht dies: Die Einführung von Technologien bringt ihr einen erheblichen Produktivitätszuwachs: mindestens 5–6% für Unternehmen.
Das zweite Element dieses Mechanismus’ ist die Künstliche Intelligenz selbst und ihr wachsender Einfluss auf das globale Wirtschaftssystem. In den Ländern der Europäischen Union sind nach Schätzungen der Europäischen Kommission zwei von fünf Grossunternehmen auf KI umgestiegen, wobei das Wachstum der KI-Verbreitung von 2023 bis 2024 hundert Prozent gegenüber dem Vorjahr betrug (d.h. sich verdoppelte). Analysten schätzen, dass der Markt für KI-Technologien allein in den USA in diesem Jahr ein Volumen von rund 75 Milliarden Dollar erreicht hat – ein Wachstum von mehr als einem Drittel innerhalb eines Jahres, und es geht weiter aufwärts. KI-Technologien haben jeden Haushalt auf der Erde erreicht, in dem moderne Smartphones verwendet werden. Derzeit wird KI in praktisch alle Telefone integriert, die mit modernen mobilen Betriebssystemen arbeiten – praktisch in jedes Smartphone jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes auf der Welt.
Die Zahlen für die Mittelzuweisungen für die Entwicklung von KI verdeutlichen die Aufmerksamkeit, die diesem Thema geschenkt wird. Die USA haben auf einen Schlag 500 Milliarden Dollar für Investitionen in das Projekt Stargate angekündigt. Die EU investiert, trotz nicht gerade optimistischer Einschätzungen der wirtschaftlichen Lage, 200 Milliarden Euro in ihr Projekt InvestAI. Grossbritannien investiert 14 Milliarden Pfund allein in Rechenzentren (RZ). Experten schätzen, dass die Kapitalausgaben Chinas für KI allein in einem Jahr (ab 2024) um 48 Prozent auf 84 bis 98 Milliarden Dollar steigen könnten.
Ein solches exponentielles Wachstum und eine solche digitale Transformation sind ohne direkte Auswirkungen auf das Ressourcen- und Energieversorgungssystem der entsprechenden Kapazitäten nicht möglich.
Seltene Erden und Kampf
um wirtschaftliche Umverteilung
Eine Schlüsselressource, die für die weitere Steigerung der Produktion und die immer dichtere Einführung von KI-Standards erforderlich ist, sind Seltene Erden – fossile Elemente, deren Vorkommen sehr begrenzt sind. Genau um diese Metalle werden derzeit Handelskriege zwischen den wichtigsten Anbietern von KI-Lösungen auf dem Markt geführt. Die politischen Eliten der westlichen Länder, die grösstenteils über keine Vorkommen dieser Stoffe verfügen, versuchen, sich unbegrenzten Zugang zu deren Lagerstätten in den Ländern der Weltmehrheit zu sichern, indem sie eine aggressive neokoloniale Politik betreiben, die manchmal an Raub und Plünderung grenzt.
Nach Schätzungen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und des Ausbildungs- und Forschungsinstituts der Vereinten Nationen (UNITAR) wird die Gewinnung von Rohstoffen für KI-Systeme zu einem Kampf um die wirtschaftliche Umverteilung auf globaler Ebene. Die Herstellung eines 100 Gramm schweren Smartphones erfordert etwa 70 kg Rohstoffe, die in Ländern der Dritten Welt abgebaut werden. Smartphones werden in Milliardenstückzahlen produziert. Da sich die Vorkommen an nützlichen Elementen und Mineralien in Entwicklungsländern befinden, beuten westliche Herstellerunternehmen deren Bodenschätze und Arbeitskräfte aus. Experten sprechen von «mineralischem Kolonialismus».
Es wird erwartet, dass die Förderung von Mineralien, die für den digitalen Wandel notwendig sind, wie Graphit, Lithium und Kobalt, bis 2050 um 500 Prozent steigen wird, was die ungleiche Verteilung der ökologischen Belastung und der wirtschaftlichen Vorteile verstärken wird. Die Länder des «kollektiven Westens» werden weiterhin Ressourcen aus den Entwicklungsländern abziehen, während die Staaten des Globalen Südens auf Grund der digitalen Ungleichheit verarmen werden.
Enorme Kosten für Energie und Wasser
Was für Ressourcen gilt, ist noch relevanter in bezug auf die Kosten für Energie und Wasser, die für die Kühlung von Rechenkapazitäten verwendet werden. Nach Schätzungen der UNCTAD hat sich der Stromverbrauch der 13 grössten Rechenzentrumsbetreiber zwischen 2018 und 2022 mehr als verdoppelt. Im Jahr 2022 verbrauchten Rechenzentren weltweit genauso viel Energie wie ganz Frankreich – 460 Terawattstunden (TWh) –, und dieser Wert wird sich in den nächsten drei Jahren verdoppeln. Dabei verbrauchte allein das amerikanische Unternehmen Google im Jahr 2022 mehr als 21 Millionen Kubikmeter Trinkwasser für die Kühlung seiner Server. Microsoft verwendete 700000 Liter sauberes Trinkwasser, um seine generative KI GPT-3 zu trainieren. Ich möchte daran erinnern, dass die Uno schätzt, dass weltweit zwei Milliarden Menschen keinen stabilen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Nach Ansicht des Westens ist Wasser für Träger Künstlicher Intelligenz wichtiger als für natürliche.
Noch will der «kollektive Westen»
die Standards bestimmen
Ein weiteres Element des entstehenden neokolonialen Systems ist die ökologische ideologische Plattform, die von neoliberalen Kräften in den Ländern des «kollektiven Westens» weiter vorangetrieben wird. Für sich selbst haben sie ein universelles System der wirtschaftlichen Allzulässigkeit in den schlimmsten Traditionen der räuberischen Natur des unregulierten Kapitalismus entwickelt. Dabei muss jede wirtschaftliche Entwicklung der «nicht ausgewählten» Staaten ihrer Meinung nach den «grünen» Standards des Westens entsprechen. Nachdem sie eine Phase intensiver wirtschaftlicher Entwicklung durchlaufen haben, schränken die OECD-Staaten nun mit politischen Mitteln das Wirtschaftswachstum der Länder der Weltmehrheit ein. Sie selbst schrecken nicht vor «schmutzigen Praktiken» zurück, wenn die Erschliessung und Förderung von Bodenschätzen sowie die Produktion weit entfernt von den Städten der USA und Europas stattfinden. Die steigende Nachfrage nach Datenübertragung, -verarbeitung und -speicherung für neue Technologien wie Blockchain, KI, Mobilfunknetze der fünften Generation (5G) und das «Internet der Dinge» verringert die CO2-Emissionen nicht, sondern erhöht sie. Der gesamte Sektor verursacht bereits mehr als 3 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen – bis zu 1,6 Gigatonnen CO2-Äquivalente im Jahr 2020. Die Kohlendioxidemissionen steigen logarithmisch an.
Eine solche bewusste «Steuerung»
a) durch Digitalisierung,
b) durch die Einführung von KI,
c) durch die «grüne Agenda»
hat dazu geführt, dass der Bereich der KI eine Phase revolutionärer Entwicklung, einen «Quantensprung» durchläuft. Ende des letzten Jahrzehnts wurde eine qualitativ neue Architektur tiefer neuronaler Netze, der sogenannten Transformer, vorgestellt, und zu Beginn dieses Jahrzehnts wurde sie in wirklich massentauglichen Produkten wie ChatGPT umgesetzt, die sich praktisch an jeden Bereich menschlicher Tätigkeit anpassen lassen. Heute ist klar, dass alle Prozesse der weiteren nachhaltigen Entwicklung, der digitalen Transformation, des Verteidigungsaufbaus, des politischen Engineerings, der Massenkommunikation, der Bildung, des Gesundheitswesens und sogar der Kreativität im weitesten Sinne des Wortes unweigerlich mit ihrer flächendeckenden Einführung verbunden sein werden. Der weitere Evolutionsvektor der Menschheit ist offensichtlich geworden. Die von Russlands Präsident Wladimir Putin geäusserten Thesen, dass der Marktführer in der Produktion dieser Technologie zum Herrscher der Welt werden wird und dass die Menschheit mit ihrer Einführung ein neues Kapitel ihrer Exi-stenz beginnt, haben an Bedeutung gewonnen. Aus den oben genannten Gründen ist dies bereits jetzt ein Raum geopolitischer Konkurrenz, gigantischer Investitionen und neuer Formen der technologischen Expansion.
Multipolarität und internationale
Beziehungen im KI-Zeitalter
Wenn man sich mit dem Thema KI auskennt, kann man mit Sicherheit sagen, dass es, der Logik seiner Anhänger folgend, spontan zu einem eigenständigen Cluster der internationalen Beziehungen geworden ist. Das Thema der neuronalen Netze drängt mit rasanten Schritten auf die Agenda internationaler und regionaler Strukturen.
Zu den auffälligsten Entwicklungen gehört beispielsweise die Plattform der Vereinten Nationen, auf der zwischenstaatliche Konsultationen zum Start eines globalen Dialogs über Fragen der KI-Steuerung und einer internationalen wissenschaftlichen Gruppe zum Thema KI stattfinden. Derzeit wird die Einrichtung eines speziellen Fonds zur Unterstützung von Programmen zur technischen Zusammenarbeit in diesem Bereich bei den Vereinten Nationen geprüft. Seit Anfang des Jahres ist ein digitales Büro innerhalb des Sekretariats der Organisation in Betrieb. Bei der UNESCO finden intensive Diskussionen über die Festlegung ethischer Normen und Standards für KI statt, die sich unter anderem aus der 2021 verabschiedeten Empfehlung zur Ethik der Künstlichen Intelligenz ergeben. Unter der Schirmherrschaft der UNIDO ist die Globale Allianz für KI in Industrie und Produktion tätig. Jährlich findet der ITU-Gipfel «KI zum Wohle aller» statt. Sogar die OSZE hat versucht, sich in diesem Thema zu positionieren. All diese Prozesse, die sich auf verschiedenen multilateralen Plattformen und Foren rasant entwickeln, sind ein deutliches Symptom für den zunehmenden globalen Wettbewerb um die Führungsrolle in diesem Bereich. Und sie alle erfordern die unermüdliche Aufmerksamkeit und eine proaktive Haltung des Staates, einschliesslich des Aussenministeriums. Letztlich hängt der Aufbau einer gerechten multipolaren Welt direkt von unserer Fähigkeit ab, Versuche zu verhindern, neokoloniale Unterdrückung und Ungleichheit «digital» wiederherzustellen. •
Quelle: Rossiyskaya Gazeta/Russische Zeitung vom 17.7.2025;
https://rg.ru/2025/07/17/neokoloniializm.html
(Übersetzung Zeit-Fragen)
mw. «Der KI-Hype basiert auf drei Typen von Firmen, die vernetzt sind und voneinander abhängen.» Erstens Software-Unternehmen wie OpenAI, die laut der «Neuen Zürcher Zeitung» den ganzen Hype ausgelöst haben, zweitens Cloud-Provider (Oracle, Microsoft, Core Weave), welche riesige Mengen an Rechenleistung bereitstellen, und drittens Chip-Hersteller wie Nvidia oder AMD. Das ganze Modell kostet unwahrscheinlich viel Geld und verbraucht Unmengen an Energie und Wasser, die anderswo in der Welt für die Grundbedürfnisse der Menschen dringend benötigt würden. Einige Blitzlichter.
Eine Billion Dollar
für die Infrastruktur von Open AI
«Eine Billion Dollar. So viel Geld will Open AI, die Erfinderfirma von ChatGPT, in den kommenden Jahren insgesamt in Infrastruktur für generative Künstliche Intelligenz (KI) investieren. Damit könnte man 75mal den Schweizer Gotthardtunnel bauen, die Summe übersteigt das jährliche BIP der Schweiz.»
Strombedarf der ganzen Schweiz –
allein für die benötigten Chips
Damit Open AIChatGPT und andere Software entwickeln und betreiben kann, bauen Cloud-Provider wie Core Weave oder Microsoft riesige Rechenzentren, «die mit viel Strom und Wasser versorgt und gekühlt werden müssen».
Die Chip-Produzentin Nvidia will in den kommenden Jahren bis zu 100 Milliarden Dollar in Open AI investieren und erhält dafür Anteile an Open AI. Im Gegenzug plant Open AI, «Nvidia-Chips im Umfang von 10 Gigawatt zu beziehen – das entspricht etwa so viel wie dem Strombedarf der gesamten Schweiz».
Unvorstellbare Profite
Die Chip-Firma Nvidia ist «die grosse Profiteurin der Investitionen in KI. Nvidia ist mit 4,4 Billionen Dollar das wertvollste Unternehmen der Welt. Im vergangenen Quartal hat es 26 Milliarden Dollar Gewinn erzielt.»
's Tüpfli uf em i: Es sind
nicht die produktiven Unternehmen,
die von KI profitieren
Eine neue Studie belegt: Die meisten Unternehmen werden durch KI nicht produktiver. «Bis jetzt profitieren vor allem die Techfirmen selbst. Sie sichern sich Milliarden, investieren ineinander und vermitteln so den Eindruck vom grossen Geschäft. Die kreislaufartige Dynamik befeuert den Hype – der jedoch gefährlich enden könnte. Finanzexperten warnen vor einer Spekulationsblase.»
Quelle: Hunziker, Malin. «Die Kreislaufwirtschaft der KI». In: Neue Zürcher Zeitung vom 13.10.2025
Künstliche Intelligenz verschärft digitalen Kolonialismus
von Sven Hilbig*
Was der Mensch nicht schafft, gelingt vielleicht der Künstlichen Intelligenz: die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Doch diese Hoffnung ist naiv – und gefährlich. ChatGPT und Co. drohen bestehende globale Ungleichheiten eher noch zu vertiefen.
[…] Ein neuer Bericht der UN-Konferenz für Handel- und Entwicklung (UNCTAD) zeigt: Der gegenwärtige Hype um KI ist nur ein Vorgeschmack auf den bevorstehenden Boom. Im Vergleich zum Jahr 2023 soll laut UNCTAD der globale KI-Markt bis zum Jahr 2033 um den Faktor 25 auf 4,8 Billionen US-Dollar wachsen.
Dieses Wachstum verteilt sich nicht gleichmässig über den Globus. 40 Prozent der Investitionen für die Erforschung und Weiterentwicklung von KI stammen von lediglich 100 Unternehmen. Drei von vier dieser Unternehmen haben ihren Sitz in den USA, China oder Deutschland. Ursächlich für diese Dominanz sind drei Faktoren: die in den Ländern vorhandene digitale Infrastruktur, die Qualifikation ihrer Arbeitskräfte und der Stand der lokalen KI-Forschung. Ein UNCTAD-Index zu den KI-Potentialen verschiedener Länder zeigt, dass selbst ökonomische Schwergewichte des Globalen Südens nur auf mittleren Plätzen rangieren: Indien auf Platz 36, Brasilien auf Platz 38 und Südafrika auf Platz 52.
[…] Gut zwei Drittel der Menschheit haben zwar inzwischen Internetzugang, doch die für KI entscheidende Qualität der Verbindungen ist nach wie vor sehr unterschiedlich. So haben auf dem afrikanischen Kontinent fast drei Viertel der Internet-Nutzer lediglich einen mobilen Zugang. Da für datenintensivere Anwendungen wie KI Festnetz-Breitbandanschlüsse benötigt werden, müsste stark in ihren Ausbau investiert werden. […]
Der Hype um generative KI für Sprach- oder Bildmodelle wie ChatGPT treibt den Datenhunger, den Bedarf an Rechenkapazität und damit auch den Energiebedarf weiter in die Höhe. Wurde ChatGPT 2 noch mit 40 Gigabyte Text und 1,5 Milliarden Parametern trainiert, basiert die vierte Version dieser KI auf 25000mal so viel Text und 700mal so vielen Parametern. Das Wettrennen um die schnellste und klügste KI hat dazu geführt, dass in den Jahren 2015 bis 2022 weltweit 25 Millionen neue Server in Betrieb genommen wurden. Nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur verbrauchen die Rechenzentren weltweit fast so viel Strom pro Jahr wie Frankreich, die siebtgrösste Volkswirtschaft der Erde.
In den USA wurde die Schliessung eines Kohlekraftwerks verschoben, da der Strombedarf neuer Rechenzentren von Google sonst nicht mehr hätte gedeckt werden können. Google musste zudem einräumen, dass noch gut ein Drittel seiner Energie aus kohlenstoffhaltigen Quellen stammt. Den Preis zahlen insbesondere die Menschen im Globalen Süden, die am stärksten von den Folgen des Klimawandels betroffen sind. Was kommt erst auf sie zu, wenn der globale KI-Markt in den kommenden acht Jahren um mehr als das Zwanzigfache steigt?
Auch in bezug auf die Folgen des KI-Booms für die Menschenrechte [gibt es] gravierende Lücken. Der Einsatz von KI in Kriegen und militärischen Konflikten wird [fast nie] erwähnt – etwa die verheerenden Auswirkungen von Drohnenangriffen, bei denen das Ziel, sprich: die zu tötende Person, auf der Grundlage von Daten ermittelt wird, die Geheimdienste und Militär vorab gesammelt haben. Mit «We kill people based on metadata» bringt der ehemalige US-Geheimdienstchef Michael Hayden diese neue Kriegsführung auf den Punkt. Die KI stellt dabei Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf Grund von Verhaltens- oder Bewegungsmustern von Gruppen oder Einzelpersonen an. Wenn die Muster den Kriterien des Typs «Terrorist» entsprechen, wird ein Angriff wahrscheinlich. Die Drohne kann also auch «Unschuldige» treffen, die keine Terroristen sind. Solche Gefahren, die von KI als Waffe in Kriegen und Bürgerkriegen im Globalen Süden ausgehen, sind immens.
Aus menschenrechtlicher Sicht problematisch ist ausserdem, dass Millionen Datenarbeiterinnen und -arbeiter vor allem in Ländern des Globalen Südens wie Kenia und Indien sich täglich traumatisierende Bilder und Texte von Kindesmissbrauch, Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen anschauen oder lesen und dann aussortieren müssen, damit wir KI-Anwendungen wie ChatGPT sorgenfrei nutzen können. Die Auftraggeber, KI-Firmen wie Google und OpenAI, sitzen in den USA, Kanada, Europa und Australien. Diese neuen Formen der Ausbeutung sind ein Grund dafür, dass eine zunehmende Zahl von Wissenschaftlern, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen sowie sozialen Bewegungen die gegenwärtige globale Ordnung als digitalen Kolonialismus kritisiert. […]
Quelle: https://www.welt-sichten.org/artikel/44020/kuenstliche-intelligenz-verschaerft-digitalen-kolonialismus vom 28.5.2025
* Sven Hilbig ist Digitalexperte bei «Brot für die Welt» und Co-Autor des Buches «Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Grossmächte die Welt unter sich aufteilen», erschienen im Februar 2025 bei C.H. Beck.
Die UN-Handels- und Entwicklungsorganisation UNCTAD hat am Donnerstag den «Technologie- und Innovationsbericht 2025» veröffentlicht. Künstliche Intelligenz (KI) ist laut UNCTAD auf dem besten Weg, bis 2033 ein globaler Markt mit einem Volumen von 4,8 Billionen Dollar zu werden – das entspricht in etwa der Grösse der deutschen Wirtschaft.
Der Technologie- und Innovationsbericht 2025 warnt vor der zunehmenden Ungleichheit in der KI-Landschaft und zeigt Wege für Länder auf, um das Potential von KI zu nutzen.
Der Bericht zeigt, dass nur 100 Unternehmen, überwiegend aus den Vereinigten Staaten und China, hinter 40 rozent der weltweiten privaten Investitionen in Forschung und Entwicklung stehen, was auf eine erhebliche Machtkonzentration hinweist.
Gleichzeitig seien 118 Länder – zumeist aus dem Globalen Süden – von den globalen KI-Governance-Diskussionen gänzlich ausgeschlossen.
UNCTAD-Generalsekretärin Rebeca Grynspan unterstrich die Bedeutung, «gemeinsam einen globalen Rahmen für Künstliche Intelligenz zu schaffen».
Um nicht abgehängt zu werden, sollten insbesondere Entwicklungsländer laut UNCTAD drei zentrale Hebel stärken: Infrastruktur, Daten und Kompetenzen.
Neben nationalen Massnahmen ruft UNCTAD zu einer stärkeren internationalen Zusammenarbeit auf, um die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz zu steuern.
Der Bericht schlägt die Einrichtung einer gemeinsamen globalen Infrastruktur vor, die allen Ländern gleichberechtigten Zugang zu Rechenleistung und KI-Werkzeugen ermögliche.
Zudem empfiehlt UNCTAD die Einführung eines öffentlich einsehbaren Offenlegungsrahmens für KI, ähnlich den bestehenden ESG-Standards (Umwelt, Soziales, Unternehmensführung), um Transparenz und Rechenschaftspflicht zu stärken.
«Die Geschichte zeigt: Technologischer Fortschritt treibt das Wirtschaftswachstum an, sorgt aber nicht automatisch für gerechte Einkommensverteilung oder inklusive menschliche Entwicklung», betonte Grynspan und forderte, Menschen in den Mittelpunkt der KI-Revolution zu stellen.
Quelle: https://unric.org/de/un-bericht-ki-zukunft-droht-digitale-kluft-zu-vertiefen/
von Urs Graf
Wenn ich für diesen Text mein Schreibsystem einschalte, bietet es schon an, mir die Arbeit abzunehmen. Aber ich verzichte auf das Angebot, weil ich selber denken und formulieren will.
Die sogenannte KI ist eine Innovation. Der Mensch (nicht als Mann, sondern als Gattungswesen) hat sich zu allen Zeiten Hilfsmittel zugelegt, die ihm das Leben erleichtern sollten. Er entdeckt Materialien, Werkstoffe und Wirkstoffe, und er entwickelt Verfahren und Arbeitsweisen, die ihm immer weitere Möglichkeiten eröffnen, sich seine Umgebung zu gestalten. Der Umgang beispielsweise mit vernetzten Computern bildet darin keine Ausnahme, sondern eine Steigerung.
Diese Errungenschaften hat er nie ohne Lehrgeld erreicht. Immer muss ein sinnvoller, lebensdienlicher Umgang mit Innovationen erlernt werden. Dies geschieht durch Erziehung und Bildung. Vernünftiges Lernen ist personales Lernen, wie schon Wilhelm Busch es ausdrückte: «Nicht allein das Abc bringt den Menschen in die Höh, nicht allein im Schreiben, Lesen übt sich ein vernünftig Wesen; nicht allein in Rechnungssachen soll der Mensch sich Mühe machen; sondern auch der Weisheit Lehren muss man mit Vergnügen hören. Dass dies mit Verstand geschah, war Herr Lehrer Lämpel da.» Bildung ist mehr als das Einüben von Fertigkeiten und Ansammeln von Wissensbeständen – es braucht auch Ethik. Nicht alles, was möglich ist, soll man unbedacht tun.
Was geschehen kann, wenn Lernende sich vorzeitig «emanzipieren», kann man nachlesen in Goethes «Zauberlehrling». Allgemein sollte sich die Bezeichnung «Lernende» nicht auf eine bestimmte Altersstufe und auch nicht auf fehlende Schul- und Hochschulzertifikate beschränken.
Wir stehen vor einer Menschheitsaufgabe. Jede Generation muss sich ihr stellen – unabhängig vom Niveau einer Zivilisation und ihrer technischen Möglichkeiten.
Die Globalisierung bescherte uns die Marktgesellschaft und drängte uns als Bürger demokratischer Staatswesen in die Position von «Kunden», und der Staat wurde zum «Geschäftsmodell» herabgestuft. Politische Entscheidungen werden heute deshalb immer mehr von wirtschaftlichen Interessen übersteuert, wobei die Träger solcher Interessen sich keiner demokratischen Diskussion stellen müssen und wollen. Es zählt der Erfolg auf dem Kapitalmarkt, der längst alle realwirtschaftlichen Bereiche um das Mehrfache übertrifft – und dominiert. Die Erwartung von schnellem Erfolg von Investitionen in die schon weitgehend privatisierte wissenschaftliche Forschung steht einem echten Fortschritt der Menschheit entgegen. Ohne Ethik läuft auch KI Gefahr, von solchen Interessen gesteuert und missbraucht zu werden. Es kann an vielen Beispielen gezeigt werden, dass gesellschaftspolitische Folgen von überstürzt verbreiteten Innovationen zu wenig bedacht wurden. Sie haben dem Leben der Menschen gar nicht nur gedient, sondern auch Schaden zugefügt, der spät bemerkt wurde.
In der öffentlichen Debatte um die KI hört man finanzpolitische Einwände nebst Bedenken aus rechtlicher Sicht, die klar begründet sind. Eltern und Erzieher machen sich berechtigte Sorgen, ihre Kinder an unübersichtliche Chat-Communities zu verlieren, und müssen durch gesetzliche Regelungen darin unterstützt werden, den Schutz ihrer Kinder gewährleisten zu können.
Letztlich geht es doch immer darum, wie der Mensch sich selbst versteht. Wie bei früheren Innovationen neigen wir dazu, menschliche Eigenschaften auf unsere Produkte zu projizieren. Die verwendeten Begriffe wie «Elektronenhirn», «Künstliche Intelligenz» usw. verraten, bei Lichte betrachtet, übersteigerte Erwartungen an diese Erzeugnisse. Das Leben können wir damit nicht nachbilden – und schon gar nicht optimieren, wie manche glauben.
Die grösste Gefahr liegt doch darin, dass wir die Verantwortung für unser Leben an diese Maschinen übertragen wollen. Das würde uns zu Sklaven der Technologien machen – oder von denen, die sie betreiben.
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