Im April 2002 reiste ich mit einer Delegation nach Bagdad. Es war eine Delegation von etwa 100 Aktivisten, die gegen das Embargo der Vereinten Nationen gegen den Irak protestieren wollten.
Seit 12 Jahren waren damals die Sanktionen gegen den Irak in Kraft, mehr als 500000 Kinder waren infolge der Blockade von Medikamenten, von Milchpulver, von Mitteln zur Reinigung von Trinkwasser und Ersatzteilen krank geworden und gestorben.
Es sei den Preis wert, hatte die damalige US-Aussenministerin Madelaine Albright auf die Frage der Journalistin Lesley Stahl geantwortet, die Albright für das Programm 60 Minutes interviewte. Das war 1996, die Sanktionen waren fünf Jahre zuvor, 1991, verhängt worden.
Würde ein Journalist heute noch so eine Frage stellen?
An der Delegation nahmen politische Aktivisten, Archäologen, Ärzte, Krankenpfleger, Anti-AKW-Aktivisten und ehemalige britische, französische, italienische und US-amerikanische Soldaten teil, die in vorhergehenden Kriegen gegen den Irak gedient hatten. Einige waren mit abgereicherter Uranmunition – die sie in Panzer und Kampfflugzeuge laden mussten – verseucht und krank geworden.
Westliche Regierungen stritten gesundheitliche Folgen der Uranmunition ab. Als ich 2001 allein im Irak war, hatte der damalige Geschäftsträger an der deutschen Botschaft erklärt, alles, was dazu gesagt werde, sei Propaganda. Auf den Hinweis, dass die Informationen auch aus den Vereinten Nationen kämen, meinte er nur: Die UN sei korrupt. Als ich mich verabschiedete mit den Worten, ich werde nach Basra reisen, um mit der Ärztin einer Kinderklinik zu sprechen, meinte er nur: «Sie sollten vielleicht nicht auf einen der zerbombten Panzer steigen, die da rumstehen …»
Ziel der Delegationsreise war es, Informationen zu sammeln, um in den Ländern, aus denen die Aktivisten kamen, aufzuklären. Alle waren mit der Berichterstattung unzufrieden. Für Journalisten war es schwer, in den Irak zu kommen, d.h. ein Journalistenvisum zu bekommen. Da die Delegationsreise mit einer Abteilung des irakischen Aussenministeriums organisiert worden war, konnte eine Gruppe von Journalisten mitfliegen.
Ursprünglich sollte das Flugzeug von Brüssel direkt nach Bagdad fliegen. Doch die Route wurde verweigert, und so flogen wir nach Damaskus. Dort warteten wir mehrere Stunden am Flughafen, bevor wir in drei Busse einsteigen konnten, die uns auf dem Landweg nach Bagdad bringen sollten. Von Damaskus ging es über eine Wüstenstrasse in Richtung des Grenzübergangs Al Tanf/Al Walid.
Heute ist der Grenzübergang im Dreiländereck Irak, Jordanien, Syrien gesperrt. Die US-Armee hat in dem Gebiet eine illegale Militärbasis (Al Tanf) errichtet und eine Pufferzone, wo auch neue Kampfverbände lokaler Kräfte, einschliesslich vom ehemaligen Islamischen Staat, ausgebildet werden. Mitten in der Nacht wurde von den syrischen Begleitern ein Abendessen in einer Raststätte improvisiert. Die Grenze in den Irak überquerten wir in den frühen Morgenstunden. Als die Sonne aufging, waren wir im Irak. Rund 24 Stunden nach dem Abflug von Brüssel kamen wir in Bagdad an.
Als Gäste des Aussenministeriums wurde die Delegation im Palestine Hotel untergebracht, direkt am Tigris. Das umfassende Programm brachte uns nach Basra, wo wir in die Wüste zu einem militärischen Schrottplatz fuhren, in Basra gab es ein Treffen zwischen einem irakischen und einem britischen Veteranen. Beide waren an Krebs erkrankt auf Grund der Uranmunition. Wir hatten in Bagdad Gespräche mit Offiziellen wie dem irakischen Unterhändler mit den Vereinten Nationen, Amer al Saadi. Wir besuchten Krankenhäuser, sprachen mit der Bevölkerung. Weil ich zuvor schon im Irak gewesen war, erhielt ich mit zwei Kollegen die Sondergenehmigung, einen Tag nach Mossul, ins Jesidengebiet und zum Kloster Deir Mar Matti zu fahren. Als die Delegation abreiste, erhielt ich die Genehmigung, eine Woche länger zu bleiben. Dann wurde ich nach Damaskus gebracht, von wo ich zurückreiste.
Bei der Delegation war auch ein befreundeter Fotograf, mit dem ich sehr viele Jahre später einen Film über die Folgen der Kriege und der abgereicherten Uranmunition machte. Während der Fahrt von Brüssel nach Bagdad redeten wir stundenlang über die Arbeit, die Probleme und Vorteile, freiberuflich zu arbeiten, wir sprachen über das Programm der Delegation und welche Punkte für uns besonders wichtig waren.
Irgendwann sagte der Kollege, für ihn als Fotograf und Filmemacher sei besonders wichtig, sich auf jede Reise gründlich vorzubereiten. Zu lesen über das Land, die Politik, die Kultur, sich so viel Wissen wie möglich schon im Vorfeld anzueignen, um die Arbeit in dem fremden Land – die nur begrenzt sein würde – so produktiv wie möglich zu gestalten. Er sagte, «man sieht doch nur, was man weiss» – und das hat mich seit damals in meiner Arbeit begleitet.
Während des Kriegsaufmarsches gegen den Irak – insbesondere ab Februar 2003 – kamen Hunderte internationaler Journalisten nach Bagdad. Mir fielen grosse Unterschiede auf. Die Zusammenarbeit mit einigen der arabischen Kollegen war einfach. Sie waren immer bereit, Fragen zu beantworten, mir Einzelheiten zu erklären, mich auf Ereignisse hinzuweisen oder anders zu helfen. Es wurde mir klar, dass sie auch Betroffene eines zukünftigen Krieges sein würden, ob man Saddam mochte oder nicht. Die USA und Verbündete bereiteten einen Krieg gegen ein arabisches Land vor. Das betraf auch die arabischen Journalisten.
Die deutschen Kollegen dagegen waren distanziert bis ablehnend – ich will hier nicht ins Detail gehen –, aber vor allem schienen sie mir am Geschehen gar nicht weiter interessiert. Sie schienen alles zu wissen, vor allem, dass «Saddam lügt», Arabern und Muslimen nicht zu trauen sei, das Saddam-Regime sei auf einen Krieg mit riesigen Bunkeranlagen unter Saddams Palästen bestens vorbereitet. Sie äusserten sich überzeugt, dass der Irak Massenvernichtungswaffen habe, wie ihm von den USA und anderen US-Verbündeten vorgeworfen wurde. Die Rolle Israels wurde nicht thematisiert, der Iran war das Böse im Hintergrund. Sie erhielten ihre Anweisungen von der Heimatredaktion (ZDF, ARD, Spiegel, «taz», «Süddeutsche Zeitung»). Die Stars wurden – je nach Ereignis – für einige Tage eingeflogen, ansonsten bediente man sich der «Stringer», der freiberuflichen Ortskräfte. Die wiederum arbeiteten mit den arabischen Kollegen intensiv zusammen.
Ich lernte, dass es eine Hierarchie zwischen Fernsehen und Printmedien gibt, auch bei den Vereinten Nationen – und nicht nur in Bagdad, auch später in Beirut, in Damaskus oder selbst bei den Vereinten Nationen in Genf.
Man sieht nur, was man weiss
Das Motto gilt für jede Art von Berichterstattung. Es ist besonders wichtig für die journalistische Arbeit im Ausland, im globalen Kontext, in Kriegs- und Krisengebieten. Diese sollte aus meiner Perspektive immer der Aufklärung dienen, der Vermittlung von Wissen und Argumentation.
Man sieht nur, was man weiss, gilt für Journalisten und Öffentlichkeit. Und was ich nicht weiss, werde ich auch nicht sehen, nicht erkennen können.
Wir müssen uns also auf die Arbeit vorbereiten.
Wir müssen uns über das Land, in das wir reisen, informieren.
Wir müssen die Berichterstattung des eigenen Landes, der eigenen Medien analysieren, um die Perspektive von Politik und Medien zu kennen, zu erkennen.
Wir müssen uns die jeweiligen Perspektiven bewusst machen, sie gleichzeitig aber ablegen, um offen und ohne Vorbehalte in dem neuen Land anzukommen.
Wir müssen Kontakte knüpfen, vor allem mit der Bevölkerung. Wir müssen zuhören.
Alles Vorwissen ist wichtig, damit wir wissen, welche Fragen wir wem stellen können und müssen. Und damit wir wissen, was wir sehen, wenn wir etwas sehen.
Warum journalistische
Arbeit Aufklärung ist
In einer Krisen- und Kriegszeit – in der wir aktuell leben – ist die Öffentlichkeit und sind auch die Medien massiver Propaganda ausgesetzt. Die Regeln nach Ponsonby sind bekannt:
Reaktion auf die Propaganda ist nicht Gegenpropaganda oder emotionales Zurückweisen, sondern Analyse und Aufklärung. Für Medien oder auch als persönliche Aufgabe empfiehlt sich, täglich ein Beispiel von Propaganda zu analysieren, zu erläutern, Quellen zu benennen und aufzuklären. Das schärft den Blick.
Die Regeln
Zu den Regelwerken, an denen die Arbeit sich orientieren sollte, gehören u.a. die UN-Charta, die Menschenrechtskonvention, ein Pressekodex und ein Bewusstsein darüber, aus welchem Teil der Welt wir kommen. Unsere Herkunftsländer sind die Nachfahren der imperialen europäischen Kolonialmächte, die nach wie vor gegenüber anderen Teilen der Welt – insbesondere gegenüber Russland, China, Asien, dem Iran, Westasien, Afrika, Latein- und Südamerika – die gleichen alten Pläne schmieden. Sie wollen sich «die Erde untertan machen», nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war das nie so deutlich wie heute.
Die Schweiz mit ihrem politischen Sonderstatus der Neutralität und direkten Demokratie ist aktuell besonders unter Druck, ja, geradezu unter Beschuss.
Medien vernetzen
Es gibt eine Vielzahl von internetbasierten, teilweise auch gedruckten Medien im deutsch- sprachigen Raum. Darüber werden täglich Berichte verbreitet, die sich häufig ähneln oder auch gleichen. Die meisten basieren auf internationalen Medienberichten, die von Autoren recherchiert und online veröffentlicht werden. Manche haben explizit eigene Autoren, was gut ist.
Das führt dazu, dass die interessierte Öffentlichkeit zahlreiche Texte im Original oder in einer anderweitig veröffentlichten Darstellung oft mehrmals liest. Das kostet Zeit und gegebenenfalls auch Geld. Die Frage ist, ob das nicht eher der Überhäufung und Verwirrung dient und vermieden werden sollte. Hinzu kommt, dass auch Autoren die gleichen Texte lesen und als Grundlage für eigene Artikel nehmen. Auch das sollte vermieden werden. Die Frage ist, wie können die unterschiedlichen Medien kooperieren und korrespondieren?
Finanzierung
Allgemein ist bekannt, dass es für die Arbeit, vor allem für die Korrespondenz aus dem Ausland, zu wenig Geld gibt. Die Autorin regt an, dieses Thema bei einer zukünftigen Begegnung – möglichst mit vorbereiteten Papieren – ausführlich zu bearbeiten. Herausgeber bestehender Medien sind hier gefragt.
Kategorie, Ausbildung, Vernetzung
Eine aufgeklärte Öffentlichkeit benötigt jenseits von Medien auch Institutionen, über die Entwicklungen analysiert, diskutiert und zuverlässig verbreitet werden. Dafür empfiehlt sich internationale Vernetzung. Es kann auch innerhalb der Medien in gesonderten Rubriken geschehen.
Junge Journalisten sollten ausgebildet werden, dafür empfehlen sich koordinierte Seminare, in Form eines Bildungsangebots.
Journalistische Arbeit als Aufklärung sollte Kategorien einhalten und deutlich unterscheiden zwischen Meinung, Analyse, Bericht usw. Zu diskutieren wäre, ob «Bürgerjournalisten» Journalisten sind oder nicht eher Aktivisten oder engagierte Autoren.
Vorläufiges Fazit
Im internationalen und deutschsprachigen Raum besteht eine Art offene, meist aber unausgesprochene Konkurrenz zwischen alternativen Medien. Dadurch entstehen «Blasen», in denen sich verschiedene Öffentlichkeit versammelt und zumeist auch gegeneinander abgrenzt. Dafür habe ich keine Lösung, vielmehr sollte es offengelegt und nach einer Lösung gesucht werden, wie man sich medial ergänzen kann. •
* Karin Leukefeld, Jahrgang 1954, ist Ethnologin, Islam- und Politikwissenschaftlerin sowie Historikerin. Seit 2000 arbeitet sie als freie Korrespondentin. Ihre Schwerpunkte sind der Nahe und Mittlere Osten. Ihr neuestes Buch hat den Titel «Krieg in Nahost. Geopolitik, Verwüstung und Aufbruch einer Region» (Hintergrund-Verlag 2025). Karin Leukefeld hatte den hier abgedruckten Text als Einführungsvortrag zur Journalistenrunde im Vorfeld des Kongresses «Mut zur Ethik» geplant, konnte ihn aber nicht halten, weil sie krankheitshalber verhindert war. Sie hat uns ihren Vortrag als Text überlassen, und wir veröffentlichen ihn sehr gerne.
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.