«Vergiss nicht, Corina …»

Offener Brief des Friedensnobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel* an Corina Machado

Ich grüsse dich mit dem Wunsch nach Frieden und allem Guten, was die Menschheit und die Völker, die in Armut, Konflikten, Kriegen und Hunger leben, so dringend brauchen. Dieser offene Brief soll dir einige meiner Überlegungen mitteilen.
  Ich war überrascht über deine Ernennung zur Friedensnobelpreisträgerin durch das Nobelkomitee. Ich erinnerte mich an die Kämpfe gegen die Diktaturen auf dem Kontinent und in meinem Land, Militärdiktaturen, unter denen wir von 1976 bis 1983 zu leiden hatten. Wir hielten Gefängnissen, Folter und dem Exil stand – mit Tausenden von Verschwundenen, mit entführten und verschwundenen Kindern und den Todesflügen, deren Überlebender ich bin.
  1980 verlieh mir das Nobelkomitee den Friedensnobelpreis; seitdem sind 45 Jahre vergangen, und wir arbeiten weiterhin im Dienste der Ärmsten, gemeinsam mit den lateinamerikanischen Völkern. Im Namen aller dieser Menschen nahm ich diese hohe Auszeichnung entgegen, nicht wegen des Preises an sich, sondern wegen des gemeinsamen Engagements mit den Völkern, die Kämpfe und Hoffnungen für den Aufbau einer neuen Zukunft mit uns teilen. Frieden wird Tag für Tag aufgebaut, und wir müssen in unseren Worten und Taten konsequent sein.
  Mit meinen 94 Jahren bin ich immer noch ein Lernender des Lebens, und ich bin sehr beunruhigt über deine Haltung und deine gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen. Deshalb teile ich dir diese Überlegungen mit.
  Die venezolanische Regierung ist eine Demokratie mit Licht und Schatten. Hugo Chávez hat den Weg für die Freiheit und Souveränität des Volkes geebnet und für die Einheit des Kontinents gekämpft, es war ein Erwachen der Patria Grande. Die Vereinigten Staaten haben ihn ständig angegriffen: Sie können nicht zulassen, dass sich ein Land des Kontinents aus ihrem Einflussbereich und der kolonialen Abhängigkeit löst; sie behaupten weiterhin, Lateinamerika sei ihr «Hinterhof». Die Blockade Kubas durch die Vereinigten Staaten seit mehr als 60 Jahren ist ein Angriff auf die Freiheit und das Recht der Völker. Der Widerstand des kubanischen Volkes ist ein Beispiel an Würde und Stärke.
  Es erstaunt mich, wie sehr du dich an die Vereinigten Staaten klammerst: Du solltest wissen, dass sie keine Verbündeten und keine Freunde haben, sondern nur Interessen. Die in Lateinamerika errichteten Diktaturen wurden von ihren Herrschaftsinteressen gesteuert und zerstörten das Leben und die soziale, kulturelle und politische Organisation der Völker, die für ihre Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen. Wir Völker leisten Widerstand und kämpfen für das Recht, frei und souverän zu sein, und keine Kolonie der Vereinigten Staaten.
  Die Regierung von Nicolás Maduro lebt unter der Bedrohung durch die Vereinigten Staaten und der Blockade, es genügt, nur an die Seestreitkräfte in der Karibik und die Invasionsgefahr für dein Land zu denken. Du hast kein Wort dazu gesagt oder befürwortest sogar die Einmischung der Grossmacht in Venezuela. Das venezolanische Volk ist bereit, sich der Bedrohung zu stellen.

  Corina, ich frage dich: Warum hast du die Vereinigten Staaten aufgefordert, in Venezuela einzumarschieren? Als du die Nachricht erhieltest, dass dir der Friedensnobelpreis verliehen wurde, hast du ihn Trump gewidmet. Dem Aggressor gegen dein Land, der lügt und Venezuela des Drogenhandels bezichtigt, eine Lüge ähnlich der von George Bush, der Saddam Hussein vorwarf, «Massenvernichtungswaffen» zu besitzen. Ein Vorwand, um in den Irak einzumarschieren, ihn auszuplündern und Tausende von Opfern, Frauen und Kinder, zu verursachen. Am Ende des Krieges war ich in Bagdad im Kinderkrankenhaus und konnte die Zerstörung und den Tod durch diejenigen sehen, die sich als Verteidiger der Freiheit ausgeben. Die schlimmste Form der Gewalt ist die Lüge.
  Vergiss nicht, Corina, dass Panama von den Vereinigten Staaten überfallen wurde, was Tod und Zerstörung zur Folge hatte, um einen ehemaligen Verbündeten, General Noriega, zu fassen. Die Invasion kostete 1200 Menschen in Los Chorrillos das Leben. Heute versuchen die USA erneut, den Panamakanal unter ihre Kontrolle zu bringen. Es gibt eine lange Liste von Interventionen und Leid, das die USA in Lateinamerika und der Welt verursacht haben. Die Adern Lateinamerikas sind offen, wie Eduardo Galeano sagte, nach wie vor.
  Es beunruhigt mich, dass du den Nobelpreis nicht deinem Volk gewidmet hast, sondern dem Aggressor Venezuelas. Ich glaube, Corina, du musst genauer hinschauen und dir darüber klarwerden, wo du stehst, ob du nur ein weiteres Rädchen im Kolonialismus der Vereinigten Staaten bist, unterworfen ihren Herrschaftsinteressen, was niemals zum Wohl deines Volkes sein kann. Als Gegnerin der Regierung Maduro sorgen deine Positionen und Standpunkte für grosse Ungewissheit, und du greifst zum Schlimmsten, wenn du die USA aufforderst, in Venezuela einzumarschieren.
  Man muss sich bewusst machen, dass Friedensarbeit viel Kraft und Mut erfordert, zum Wohle deines Volkes, das ich gut kenne und sehr liebe. Wo früher auf den Hügeln Slums standen, in denen Menschen in Armut und Elend lebten, gibt es heute menschenwürdige Wohnungen, Gesundheitsversorgung, Bildung und Kultur. Die Würde des Volkes kann man weder kaufen noch verkaufen.
  Corina, wie der Dichter sagt: Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht beim Gehen. Jetzt hast du die Möglichkeit, für dein Volk zu arbeiten und Frieden zu schaffen, statt weitere Gewalt zu provozieren, denn ein Übel lässt sich nicht mit einem noch grösseren Übel lösen. Dann hätten wir nur zwei Übel und niemals eine Lösung für den Konflikt.
  Öffne deinen Geist und dein Herz für den Dialog, für die Begegnung mit deinem Volk, leere den Krug der Gewalt und schaffe Frieden und Einheit für dein Volk, damit das Licht der Freiheit und Gleichheit einziehen kann. •

Quelle: https://www.pagina12.com.ar/865256-de-nobel-a-nobel vom 13.10.2025

(Übersetzung Zeit-Fragen)



Adolfo Pérez Esquivel (*26. November 1931 in Buenos Aires) ist ein argentinischer Bildhauer, Architekt und Menschenrechtsaktivist. 1980 erhielt er den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz für Demokratie und Menschenrechte während der Militärdiktaturen in Lateinamerika. Er stand der Befreiungstheologie nahe und war 1967 Mitbegründer der Organisation Servicio Paz y Justicia. 1977 wurde er verhaftet und später unter Hausarrest gestellt. Seit 1980 setzt er sich für die Menschenrechte ein.

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