von Lars Hirsekorn
labournet.tv. Lars Hirsekorn, Mitglied des Betriebsrates von VW in Braunschweig, rief auf der Betriebsversammlung am 2. September 2025 Tausende Kolleginnen und Kollegen auf, «schnell zu lernen» und den Kriegsvorbereitungen im Land etwas entgegenzusetzen. Hier seine Rede im Wortlaut:
«Samstag gehört Papi mir», über diese Forderung von 1956 reden wir eigentlich fast gar nicht mehr.
Als die realsozialistischen Staaten in Osteuropa zusammengebrochen sind, haben die Aktionäre sehr schnell ein Erpressungspotential erkannt. «Entweder ihr arbeitet wieder regelmässig am Wochenende, oder wir verlagern die Produktion nach Osteuropa.» Mit dieser erhöhten Flexibilität unserer Arbeitskraft und der Verlängerung der Maschinenlaufzeiten sollten die satten Profite von Piech, Porsche und Co. nicht nur gesichert, sondern auch vermehrt werden.
Und wir? – Wir haben nachgegeben. Spätestens nach dieser Erpressung hätten wir doch eigentlich anfangen müssen, zweimal im Jahr mit einem Bus voll Kolleginnen und Kollegen nach Polen, Tschechien und Ungarn zu fahren und die gemeinsame Debatte zu suchen. Nur so können wir doch gemeinsame Forderungen formulieren und uns nicht mehr gegenseitig unterbieten.
Was haben wir gemacht? – Wir haben der Samstagsarbeit zugestimmt und auf den Standort gesetzt. Und das ging nicht nur bei VW so. Egal, ob BMW, Daimler oder Opel, in der ganzen deutschen Automobilindustrie haben wir Anfang der neunziger Jahre das Wochenende verkauft.
Anfang der 2000er war dann wieder einmal der Gewinn nicht hoch genug. «Wir wollen die Logistik, die Küche und Montage ausgliedern», riefen die Aktionäre. «Entweder ihr stimmt zu, oder wir verlagern alles nach Osteuropa.»
Und wir? Wir haben auf den Standort gesetzt und einem ganzen Teil der Ausgliederungen in niedrige Tarife zugesehen.
Natürlich haben wir einen Europa- und Weltbetriebsrat, aber das ersetzt doch keinen Austausch zwischen den arbeitenden Menschen. Die Kolleginnen und Kollegen müssen sich kennenlernen und miteinander reden und feiern. Erst dann wird aus dem Konkurrenten doch ernsthaft der Kollege.
Haben wir daraus gelernt? Nein, wir haben nicht daraus gelernt! Wir haben den Zustand als gegeben hingenommen. Jahr für Jahr schreien wir uns als Gewerkschafter gegenseitig an, weil die Kolleginnen und Kollegen der Group Services zu Recht nicht mehr von ihren Löhnen leben können und wollen und wir nicht wissen, wie wir es ändern sollen.
Und 2024? Wieder war den Damen und Herren Aktionären ihr Profit zu schmal. Und wieder kam die alte Leier: «Entweder ihr verlängert die Arbeitszeit und verzichtet auf Lohn, oder wir schliessen die Werke und verlagern die Arbeit nach Osteuropa.»
Und jetzt? Wir haben auf Lohn verzichtet, haben die Arbeitszeit verlängert und unser Antrag auf Bildungsurlaub wird jetzt in Polen bearbeitet.
Wir müssen lernen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen verdammt noch einmal lernen.
Die Weltmärkte der Automobilindustrie sind gesättigt. Egal, ob in China, Europa oder den USA, überall stehen Hunderttausende Autos unverkauft rum und bedrohen die Dividenden der Aktionäre. Schon seit Jahren wissen die Familien Piech, Porsche, Quandt und Musk nicht mehr, wie sie ihre Milliarden noch gewinnbringend anlegen sollen. Der letzte Anker war so ein Unsinn wie der Bitcoin: Das muss man sich einmal genau überlegen. Ich lasse meinen Computer 10000 Stunden sinnlos rechnen und verkaufe dir das Ergebnis für 10000 Euro. In so einer elenden Situation stecken wir, dass die Milliardäre in so einen Schwachsinn investieren.
Und jetzt haben sie eine neue Anlagemöglichkeit entdeckt, eine Ware, die ständig neu produziert werden muss und deren Markt im Falle eines Falles unersättlich ist. Die Familie Porsche möchte wieder Waffen produzieren, weil sich das lohnt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Nicht weil sie die Demokratie in ihren Betrieben verteidigen wollen oder weil sie sich um das Wohl ihrer Arbeiter sorgen, nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, es soll sich lohnen, es soll Profit dabei herausspringen.
Deshalb wollen sie in Osnabrück und anderswo Waffen produzieren.
Wir müssen lernen – liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen lernen.
1914 war die Welt aufgeteilt, die Kolonien vergeben, Stahl gab es in Hülle und Fülle, und die grossen Kapitalisten dieser Welt wussten nicht mehr, wie sie ihr Geld vermehren sollten. Egal, ob in Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland, England, Frankreich oder Australien, überall wurde in Rüstung investiert, um die aufgeteilte Welt neu zu verteilen und neue Profite zu ermöglichen.
Und wir? Die deutsche Sozialdemokratie hat den Kriegskrediten zugestimmt, die Gewerkschaften haben im sogenannten «Burgfrieden» auf Lohnforderungen und Streiks verzichtet. Die Arbeitszeit wurde der Kriegsnotwendigkeit unterstellt. Die arbeitenden Menschen begleiten ihre Kinder mit Hurra in den Krieg, sie investieren ihr Erspartes und gar ihre Eheringe in Kriegskredite, und die wenigen, die laut gegen den Krieg eintreten, werden als vaterlandslose Gesellen beschimpft. Sie werden beschimpft, ins Gefängnis geworfen oder an die Front geschickt.
Die Menschen mussten erst lernen!
Im Sommer 1916 gab es in Braunschweig die ersten sogenannten Hungerstreiks. Doch sie hatten noch keine grosse Wirkung. Im Januar 1918 kam es dann im ganzen Deutschen Reich zum Streik in der Rüstungsproduktion. Rund eine Million Kolleginnen und Kollegen legten für gut zehn Tage die Arbeit nieder und forderten Frieden und Brot. Die Streiks wurden jedoch niedergeschlagen, und viele tausend der streikenden Rüstungsarbeiter wurden zur Strafe an die Front geschickt. Sie bezahlten ihren Kampf für den Frieden mit dem Leben. Aber sie waren auch der Zündfunke für ein Umdenken grosser Teile der Menschheit. Sie säten die Erkenntnis, dass die arbeitenden Menschen im Krieg nichts gewinnen ausser Elend und Tod.
Ich stelle uns voller Optimismus in ihre Reihen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einer Gesellschaft, die zielstrebig auf einen neuen grossen Krieg zusteuert. Viele werden sagen, das lässt sich nicht vergleichen, aber ich glaube doch. Es geht auch heute nicht um Menschenwürde oder Demokratie. Weder in der Ukraine, dem Kongo oder in Palästina! Es geht um Rohstoffe, Profit und Macht.
Eigentlich hätte man ja schon nach dem Ersten Weltkrieg der Meinung sein können, dass die Menschheit daraus gelernt hat, aber leider ist das Gedächtnis doch oft sehr kurz.
Ich erkenne in diesen Kriegen keinen Freund oder Feind.
Welcher Arbeiter ist aus dem Ersten Weltkrieg als Sieger hervorgegangen?
Was sagen uns die Millionen Gräber auf der ganzen Welt?
Die Aktionäre werden ihre Kinder nicht auf dem Schlachtfeld opfern. Sie führen kriegswichtige Betriebe und sind bestimmt unabkömmlich.
Und das Sondervermögen Rüstung, so heissen heute die Kriegskredite, werden wir bezahlen, nicht Musk, nicht Porsche, nicht Thyssen-Krupp.
Auch heute gibt es leider wieder Stimmen in unseren Gewerkschaften, aber auch in der Belegschaft, die die Kriegskredite unterstützen und sich über die gut bezahlten Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie freuen.
Wir müssen lernen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen schnell lernen.
Denn bezahlen werden wir sonst wieder mit dem Blut unserer Kinder, und die Friedhöfe werden wachsen. •
Quelle: https://www.labournet.tv/de/aktuelles/redeVW vom 8.9.2025
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