von Guy Mettan, freier Journalist*
Die ersten Entscheidungen von Donald Trump haben einen grossen Nagel in den Sarg der Vereinten Nationen und des Wilsonschen Idealismus geschlagen. Sie verankern die Rückkehr der internationalen Beziehungen nicht ins 20. oder gar 19. Jahrhundert, sondern ins 18. Jahrhundert, als die Mächte unaufhörliche Eroberungskriege in einer Welt führten, die weder durch das im 19. Jahrhundert geliebte «Konzert der Nationen» noch durch den Völkerbund und die Vereinten Nationen, die von den amerikanischen Präsidenten nach dem Ersten Weltkrieg angestrebt wurden, reguliert wurde.
Mit seinem Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation, vor allem aber mit seiner Forderung, Kanada, Panama und Grönland den USA anzugliedern, stellt Trump nicht nur dem seit dem Wiener Kongress von 1815 mühsam errichteten Menschen- und Völkerrecht, sondern auch der von seinem Vorgänger Woodrow Wilson 1918 geschaffenen internationalen Ordnung den Totenschein aus. Neben diesen Ambitionen spielen Putin mit seinem Grenzkrieg in der Ukraine und Netanjahu mit seiner Annexion der Golanhöhen und seinen Massakern in Palästina, in Libanon und in Syrien nur eine untergeordnete Rolle.
Es ist vorbei mit dem Idealismus, dem Kampf für Demokratie, den «Werten», den Menschenrechten und anderen moralischen Ansprüchen, die hundert Jahre lang die Grundlage der internationalen Beziehungen bildeten. Das liberale, moralistische und universalistische 20. Jahrhundert westlicher Prägung ist gerade zu Ende gegangen. Die neoliberale, globalistische Expansion unter amerikanischer Ägide nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war sein Schwanengesang. Nach anfänglichen Erfolgen wurde die Operation zu einem Fiasko, und Trump versucht, die Konsequenzen daraus zu ziehen.
Das wahre 21. Jahrhundert hat also gerade erst begonnen: Es wird protektionistisch sein, sich um regionale Mächte drehen, um zivilisatorische Pole, wie Samuel Huntington sagen würde, und multipolar sein, wie Wladimir Putin, Xi Jinping und die BRICS+ sagen würden. Diese Pole werden um die Kontrolle von Ressourcen und Märkten konkurrieren und manchmal auch miteinander in Konflikt stehen. Ihre Beziehungen werden interessengeleitet und transaktionsorientiert sein. Das ist nicht unbedingt schlecht für den Weltfrieden, denn die moralische Ordnung, die der Westen angeblich verteidigt, ist für andere Nationen nach und nach toxisch und unerträglich geworden, die sich von deren schamloser Instrumentalisierung angewidert abwenden.
Doch lassen Sie uns den Film zurückspulen, um die einzelnen Sequenzen besser unterscheiden zu können.
Vom Ancien Régime über Französisch
Revolution und Wiener Kongress …
Henry Kissinger hat in seinem Buch «Diplomatie» sehr gut beschrieben, wie die Monarchien des Ancien Régime nach den schrecklichen Religionskriegen, obwohl sie sich auf die Steigerung ihrer Macht konzentrierten, Kriege führten, die durch aristokratische Ehrenkodizes («Meine Herren aus England, schiessen Sie zuerst …») und Ehen zwischen Prinzen begrenzt waren.
Darauf folgten unvermittelt die Französische Revolution und Napoleon, welche die Idee des ideologischen Krieges einführten, geführt im Namen des Rechts der Völker auf die Segnungen der Revolution und die Befreiung von monarchischer Unterdrückung, und die des totalen Krieges, der Hunderttausende von bewaffneten Bürgern und alle verfügbaren wirtschaftlichen Mittel mobilisierte.
Mit dem Wiener Kongress wurde versucht, eine neue, stabilere Ordnung zu schaffen. Die vier Siegermächte und das wieder zur Monarchie gewordene Frankreich einigten sich auf ein sogenanntes «Gleichgewicht der Mächte», das konservativ ausgerichtet war, und einen Konfliktlösungsmechanismus, der auf der Einberufung grosser Konferenzen im Falle eines schweren Konflikts beruhte – das berühmte «Konzert der Nationen». Das System garantierte ein Jahrhundert lang einen relativen Frieden, bis der Aufstieg Deutschlands, seine unklugen Ambitionen und die allmähliche Bildung von zwingenden Bündnissen und Gegenbündnissen beim ersten Funken – der Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand – gleichsam mechanisch zur Katastrophe führten.
… zu Völkerbund und Uno
Um diese Rückkehr zum Chaos zu verhindern, schlug Wilson seine Idee der kollektiven Sicherheit vor, die durch einen Völkerbund verkörpert werden sollte. Er hätte die Aufgabe, die Kriegstreiber zu bestrafen und an ihrem Tun zu hindern, indem er insbesondere auf Demokratie, Transparenz, Rüstungskontrolle, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Sanktionen bei Regelverstössen setzte.
Ein moralisch einwandfreies Projekt, das jedoch nie wirklich umgesetzt wurde. Einerseits war es für die USA ein Leichtes, diese neuen Normen vorzuschlagen, hatten sie doch gerade ihre indianische Bevölkerung genozidiert, Mexiko Texas und seine südlichen Provinzen entrissen, Alaska gekauft und Hawaii und Puerto Rico ohne die geringsten moralischen Skrupel annektiert. Dies, während sie sich gleichzeitig weigerten, Verantwortung zu übernehmen, indem sie auf die Teilnahme am Völkerbund verzichteten. Die Europäer ihrerseits, deren vier Reiche – das russische, österreichische, deutsche und osmanische – in Myriaden von Einheiten und Ethnien zerfallen waren, die sich nur schwer in Nationalstaaten ohne historische Konsistenz integrieren liessen, sahen sich mit einer unmöglichen Aufgabe konfrontiert.
Das Experiment des Völkerbundes geriet daher schnell ins Trudeln und führte zur Katastrophe von 1939 – und 1945 zur Gründung einer neuen Struktur, der Uno, die das Prinzip der kollektiven Sicherheit ohne die Mängel ihres Vorgängers übernehmen sollte. Das System funktionierte anfangs nicht allzu schlecht. Es gelang damit, die Brücken während des Kalten Krieges offen zu halten und die neuen Staaten, die aus der Entkolonialisierung hervorgegangen waren, aufzunehmen. Genausowenig wie das Konzert der Nationen im 19. Jahrhundert dem Druck Deutschlands zu widerstehen vermochte, genausowenig war die Uno in der Lage, dem amerikanischen Hegemonismus zu widerstehen, der auf das Verschwinden der sowjetischen Gegenmacht folgte. Heute zeigt es sich unfähig, den aufstrebenden Mächten der Gegenwart – China, Russland, aber auch Indien, Brasilien, Afrika und anderen Nationen, die ihren Platz am Tisch der Macht beanspruchen – einen angemessenen Platz einzuräumen. Mit seiner Mehrheit von drei von fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat hat der Westen nach wie vor ein unverhältnismässig grosses Gewicht auf die Weltordnungspolitik.
Fügt man hinzu, dass der Westen die Werte, auf die er seine Politik angeblich stützt – Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit usw. – systematisch verraten hat –, während er sich unter dem Vorwand, mit dem Teufel spreche man nicht, selbst daran hinderte, mit seinen Gegnern zu verhandeln, so versteht man noch besser, warum diese angeblich «regelbasierte» Weltordnung überholt und für den Grossteil der Menschheit sogar beleidigend geworden ist.
Rückkehr zu einer
brutalen Form der Realpolitik
Indem er zu einer brutalen Form der Realpolitik zurückkehrt, der Nato misstraut (erinnern wir uns an Kissinger, der sagte, dass jedes Bündnis zwangsläufig gegen jemanden gerichtet ist und auf Dauer Krieg bringt), indem er mit dem Moralismus und der Ohnmacht des Wilsonschen und Uno-Multilateralismus abschliesst, versucht Trump, die USA wieder ins Zentrum des Spiels zu rücken, indem er sie von den kollektiven Fesseln befreit, die sie selbst mit aufgebaut hat.
Die Europäer, die sich mit Wilsons Prinzipien und Idealismus schwer getan hatten, sind nun die letzten, die daran glauben. Sie halten sogar eisern daran fest, indem sie sich weigern, mit den bösen Russen in der Ukraine zu verhandeln, und scheinheilig die Augen vor den Übergriffen ihrer israelischen Schützlinge in Palästina verschliessen.
Es ist nicht sicher, ob die Geschichte ihnen Recht geben wird. •
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Guy Mettan ist Journalist und Abgeordneter im Grossen Rat des Kantons Genf, den er 2010 präsi- dierte. Er arbeitete für das «Journal de Genève», Le Temps stratégique, Bilan, «Le Nouveau Quotidien» und später als Direktor und Chefredaktor der «Tribune de Genève». 1996 gründete er den Swiss Presseclub, dessen Präsident und späterer Direktor er von 1998 bis 2019 war.
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