Deutsche Bundestagswahlen – eine Nachlese

Die Wahlen haben erneut gezeigt, wie schwer erkrankt Deutschlands Demokratie ist

von Karl-Jürgen Müller

Als deutsch-schweizerischer Doppelstaatsbürger blicke ich mit Herzensnähe, aber auch Vernunftabstand auf die Bundestagswahlen vom 23. Februar. Ich wünsche mir sehr, dass die deutsche Politik besser wird – innenpolitisch mehr Freiheit und Gerechtigkeit für meine deutschen Mitbürger. Aussenpolitisch mehr deutsche Friedensanstrengungen mit allen Staaten der Welt. Ich habe mir allerdings auch nicht viel vom Wahlergebnis versprochen.

Die ungefähre Stimmenverteilung zeichnete sich schon in den Wochen zuvor ab. Sollten CDU/CSU und SPD die neue Koalitionsregierung bilden, wäre dies keine Überraschung. Aber auch kein Grund zur Erleichterung oder gar Freude.

Wahlergebnisse …

Trotzdem gibt es Ergebnisse, über die ein Nachdenken lohnt. Zum Beispiel: Die Wahlbeteiligung war so hoch wie schon fast 40 Jahre nicht mehr: 82,5 Prozent. Das letzte Mal höher lag sie 1987 mit 84,3 Prozent. Wahlforscher sagen, vor allem die Alternative für Deutschland (AfD) und Die Linke hätten davon profitiert. «Unzufriedene» seien vermehrt zur Wahl gegangen. Man kann es aber auch anders sagen: Immer mehr Bürger wollen nicht nur eine andere Politik, sie bringen dies auch zum Ausdruck – dieses Mal mit ihrer Wahlentscheidung.
  Oder die deutlich unterschiedlichen Wahlergebnisse in West- und Ostdeutschland: Die AfD erzielte im Westen 18 Prozent, im Osten 32 Prozent der Stimmen – und ist dort mit Abstand nun die stärkste politische Kraft; Die Linke im Westen erzielte 7,6 und im Osten 13,4 Prozent; das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im Westen 3,9 und im Osten 9,3 Prozent. Diese drei Parteien, die vom Grossteil der westdeutschen Machteliten und Medien vielfach ausgegrenzt werden, haben in Ostdeutschland zusammen die absolute Mehrheit der Wählerstimmen erzielt: 54,7 Prozent.
 Oder: Sehr viele Jungwähler im Alter von 18–24 Jahren haben die Partei Die Linke oder die AfD gewählt: 25 Prozent Die Linke und 22 Prozent die AfD. Das ist zusammen fast die Hälfte aller Jungwähler.
  Oder: 23 in ihren Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete können nicht in den Bundestag einziehen, weil ihre Partei im Wahlkreis nicht ausreichend viele Zweitstimmen (für die Partei) gewonnen hat. Das ist das Resultat einer Wahlrechtsänderung, die den Parteien mehr Gewicht gibt als den Persönlichkeiten.

… und Demoskopie

Die Demoskopie versucht, Wahlergebnisse zu erklären. Am Wahltag werden die Wähler ausgiebig befragt.1 Die Fragestellungen sind zum Teil manipulativ. Trotzdem sind die Ergebnisse interessant. Sie geben Wahrnehmungen der Wähler wieder – ohne auf die Ursachen dieser Wahrnehmungen einzugehen.
  Manches ist gut nachvollziehbar. Zum Beispiel, dass 82 Prozent der Befragten unzufrieden mit der nun abtretenden Bundesregierung sind – ein Ausmass an Unzufriedenheit wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Oder: dass es in Deutschland eher ungerecht zugeht. Das finden 54 Prozent im Westen und sogar 67 Prozent im Osten des Landes. Oder die Sorgen, dass «wir nach der Bundestagswahl keine stabile Regierung bekommen» (mit 68 Prozent an der Spitze der Sorgen) und dass «Demokratie und Rechtsstaat in Gefahr sind» (mit 65 Prozent an zweiter Stelle der Sorgen). Oder dass «man bei bestimmten Themen ausgegrenzt wird, wenn man seine Meinung sagt» (53 Prozent). Oder: dass «die Preise so stark steigen, dass ich meine Rechnungen nicht bezahlen kann» (ebenfalls 53 Prozent).

Der Einfluss der Medien …

Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die Sorgen nicht bei allen die gleichen sind, sondern je nach Wahlentscheidung sehr unterschiedlich ausfallen. Auch bei den «Sorgen», die – realistisch betrachtet – unbegründet und eher auf die von den politischen Machteliten und den Medien erzeugte Stimmung im Land zurückzuführen sind. Zum Beispiel, dass «wir Trump und Putin schutzlos ausgeliefert sind» (insgesamt 65 Prozent mit starken Schwankungen je nach Wahlentscheidung). Oder dass «der Einfluss Russlands auf Europa weiter zunimmt» (insgesamt 64 Prozent, auch hier mit starken Schwankungen je nach Wahlentscheidung).
  Die Russophobie, das hat sich erneut gezeigt, ist aber in Ostdeutschland nicht so stark ausgeprägt wie in Westdeutschland. Dazu passt folgendes Umfrageergebnis: Während es in Westdeutschland nur 28 Prozent gut finden, «dass es mit dem BSW eine Partei gibt, die ein gutes Verhältnis zu Russland erreichen will», sind es in Ostdeutschland 45 Prozent. Aber selbst im Osten gibt es keine Mehrheit, die sich für ein gutes Verhältnis zu Russland ausspricht. Nimmt man noch hinzu, dass 47 Prozent der Befragten in ganz Deutschland – mit grossem Abstand zu allen anderen Kandidaten – den SPD-Politiker Boris Pistorius für einen guten Bundeskanzler halten würden, dann fragt man sich, wie so etwas zu erklären ist; denn Pistorius will Deutschland massiv aufrüsten, die Deutschen und Deutschland kriegstüchtig machen und schlägt seit seinem Amtsantritt als Bundesminister einen scharfen Ton gegen Russland an. 
  In solchen Umfrageergebnissen zeigen sich meiner Meinung nach die fatalen Folgen einer tagtäglichen und gleichgeschalteten Eliten-und Medienkampagne gegen ein anderes Land und seine politische Führung.

… Propaganda und Irritationen

Das leitet zu meiner wichtigsten Frage über: Wo stehen wir heute in Deutschland (wie auch sonst in unseren westlichen Staaten), wenn die Frage nach der Rationalität heutiger Wahlentscheidungen gestellt wird? Können wir noch vom mündigen Bürger ausgehen, der – gut informiert und ausreichend gebildet – die für ihn selbst, aber auch für das Gemeinwohl beste Wahlentscheidung trifft? 
  Dies bedeutet nicht, dass nur eine Partei wählbar ist. In der Politik gibt es meistens nicht nur eine «richtige» Entscheidung. Sondern immer auch gleichwertige Alternativen. Aber es gibt auch politische Entscheidungen, die sich ganz offensichtlich nicht nur gegen das Gemeinwohl, sondern auch gegen die eigenen Interessen richten. Selbst Ernst Fraenkel und seine nach 1945 formulierte deutsche Pluralismus-Theorie – die entscheidenden Einfluss auf das politikwissenschaftliche Denken der deutschen Nachkriegsjahrzehnte hatte, sich mit dem klassischen Gemeinwohlbegriff schwertat und von der Notwendigkeit verschiedener, gegensätzlicher Parteien und Interessenverbände auf Grund verschiedener Interessen ausgeht – ging davon aus, dass sich die Vielfalt möglicher politischer Entscheidungen innerhalb eines naturrechtlich begründeten Rahmens bewegen muss. Ein frenetisches Ja einer «Mehrheit» auf die Frage «Wollt Ihr den totalen Krieg?» zum Beispiel kann doch nicht einfach so akzeptiert werden. Das kann nur mit einer vorausgehenden massiven Propaganda und totalen seelischen und geistigen Irritationen erklärt werden.

Wie Demokratie untergraben wird

Das Wahlrecht ist ein grundlegendes politisches Recht. Die Bürger haben es sich, auch in Deutschland, hart erkämpft. Welch eine Bewegung ging durch den damaligen Deutschen Bund, als die erwachsenen Männer 1848 das erste Mal in der deutschen Geschichte ein Parlament, die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, wählen konnten!
  Aus den USA und anderen Ländern wissen wir aber auch, wie seit dem Ersten Weltkrieg einflussreiche Personen wie Edward Bernays und Walter Lippmann nicht nur Überlegungen dazu anstellten, sondern die Machteliten auch konkret berieten und beeinflussten, wie man der Demokratie ein Schnippchen schlagen kann. Mittels des Missbrauchs psychologischer Erkenntnisse und der Manipulation der «Massen» sollte die Elitenherrschaft gesichert werden – obwohl es der Form nach noch Demokratien sind.
  Wenn es, wie zum Beispiel beim Thema Russland, fast nur noch eine Eliten- und Medienmeinung gibt, dann ist damit zu rechnen, dass eine Mehrheit der Bürger diese Meinung ungeprüft übernimmt – zumal, wenn sie ausgerichtet auf «die da oben» ist.

Asoziale Medien

Und was die Wahlentscheidung der Jungwähler betrifft: Jungwähler zeigen grossmehrheitlich ein fast ganz auf die Sozialen Medien beschränktes Informations- und Kommunikationsverhalten. Da kommen Gründlichkeit, sorgfältiges Abwägen und Argumentationstiefe zu kurz. Stolz erklärten Vertreter der Partei Die Linke am Wahlabend, der recht erfolgreiche, aber noch vor ein paar Wochen für unmöglich gehaltene Wiedereinzug ihrer Partei in den Bundestag sei ganz wesentlich auf den sehr gelungenen Einsatz Sozialer Medien zurückzuführen.

Friedenskraft fehlt im neuen Parlament

Dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hätte ich den Einzug in den Bundestag gewünscht. In ihm engagieren sich überdurchschnittlich viele Persönlichkeiten mit einem echten Friedensanliegen. Noch vor ein paar Wochen lag diese neue Partei in den Umfragen bei fast 10 Prozent der Stimmen. Das BSW und die Persönlichkeiten, die für das Bündnis öffentlich auftraten, haben sich in diesen wenigen Wochen nicht geändert. Aber die Medienschlagzeilen über das BSW: Nun folgte eine Negativschlagzeile der anderen. Das war nicht der einzige Grund für das schlechte Abschneiden des BSW. Aber auch hier bleibt der Eindruck, dass Medien Wählerverhalten unsachgemäss beeinflusst haben – vor allem in Westdeutschland. Die ostdeutschen Mitbürger zeigten auch hier mehr Wachsamkeit gegenüber Manipulationsversuchen.
  Dies und vieles Weitere legt die Überlegung nahe, dass sich Deutschland nicht einfach durch noch mehr neue Parteien und weitere Wahlen zum Besseren hin verändern wird. Es braucht mehr! Wäre es nicht sinnvoll, die politische Kultur des Landes auf ein anderes Niveau zu heben? Eine politische Kultur, die sich an dem orientiert, was eine Demokratie erst möglich macht: angefangen in der Familie als der «Keimzelle der Gesellschaft», über Erziehung und Bildung unserer Kinder und Jugendlichen und mehr mitmenschlichen Umgang bis hin zur Wiederbelebung einer an der Sozialnatur und der Würde des Menschen orientierten politischen Ethik.

Menschenbild und politische Kultur

In als Buch2 veröffentlichten, 2005 erfolgten Gesprächen des japanischen Gelehrten Daisaku Ikeda mit dem ehemaligen sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow ist sehr viel Nachdenkenswertes zu lesen. Zwei Zitate sollen am Ende dieses Textes stehen:
  Das erste ist von Gorbatschow:
  «Wir mögen zwar unsere Illusionen verlieren, doch wir dürfen es auf keinen Fall zulassen, dass das Vertrauen in die Vernunft und das Gewissen des Volkes untergraben wird, aus dem wir stammen. Ein Politiker, der nicht an die kreativen Kräfte seines Volkes glaubt, hat meiner Meinung nach keine Zukunft, denn er selbst verliert dadurch jede Fähigkeit, etwas Grosses zu gestalten oder zu erreichen.»
  Und unter Bezug auf den grossen russischen Schriftseller Leo Tolstoi sagte Daisaku Ikeda:
  «Tolstoi war der Auffassung, dass der Gedanke der Freiheit sich durch alle Kulturen der Menschheit zieht und ohne ihn keine Moralität, keine Religion und keine schöpferische Arbeit denkbar ist. Den anderen als seinesgleichen zu betrachten ist meiner festen Überzeugung nach überaus wichtig dafür, dass sich die geistigen und seelischen Kräfte der Menschen in einer gesunden Weise entfalten können, ganz abgesehen davon, dass es auch in einem praktischen Sinne konstruktiv ist. Nichts ist destruktiver als immer nur zu predigen, zu massregeln und zu belehren. Aber wer dem anderen als einem gleichberechtigten Gegenüber begegnet, wird dessen beste Seiten zum Vorschein bringen, ihn zur Offenheit und Aufrichtigkeit ermuntern und damit auch seine schöpferischen Kräfte freisetzen.»  •



1  https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/index-content.shtml
2  Gorbatschow, Michail; Ikeda, Daisaku. Triumph der moralischen Revolution. Herder 2015; ISBN 978-3-451-33279-1

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