Manchmal sind es Kleinigkeiten oder Begebenheiten im Alltag, die zum Überlegen anregen, und das braucht es gerade heute, wo eine wirre Sturmflut von Nachrichten über Veränderungen in der aktuellen Weltlage und Krieg und Frieden ein vertieftes, ruhiges Reflektieren erschwert. Es lohnt sich, in solchen Momenten darüber nachzudenken, auf welchen Grundlagen ein Zusammenleben überhaupt gedeihen kann. Zum Glück haben das gerade Kinder- und Jugendbücher oft zum Inhalt. Sie geben ihren jungen Lesern oft einen vertieften Einblick ins Zusammenleben der Menschen, sprechen sie gefühlsmässig an und ermutigen sie, darüber nachzudenken, welchen Beitrag sie (altersgemäss) zu einem Zusammenleben in Frieden und Freiheit leisten können. Diese Autorinnen (und natürlich auch die Autoren …) sind einer Ethik verpflichtet, die jeden Menschen bereits mit seiner Geburt als wertvollen Teil der Menschheitsfamilie sieht. Gerade in den ersten Lebens- und Schuljahren können (Bilder-)Bücher unterstützend und richtungsgebend sein für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes und sein Lebensgefühl im Erwachsenenleben.
Befremdliche Modeströmungen
und modische Verführungen
Leider sind solche Bücher seltener geworden, und oft muss man auf vergriffene, ältere Bücher zurückgreifen (viele werden glücklicherweise von einer Generation zur nächsten weitergegeben). Es stimmt im übrigen nachdenklich und ist ein Zeichen der Zeit, des Zeitgeistes und falscher Theorien, dass heute in vielen Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern unrealistische Fantasy-Geschichten angeboten oder Ideologien vertreten werden, mit denen sie ihre jungen Leser zu einer Lebensgestaltung verleiten, die sie weg von ihren Mitmenschen auf einen einsamen und unglücklichen Lebensweg führen.
Ich hatte wieder einmal Glück. In der «Fundgrube» der aussortierten Bilderbücher einer kleinstädtischen Bibliothek stach mir die Illustration eines Buchdeckels ins Auge, zu dem der Titel «Die Geschichte vom traurigen Nilpferd»1 so gar nicht zu passen schien – und deshalb meine Neugier weckte. Doch in der Tat – das Nilpferd war tatsächlich traurig, wie ich auf den ersten Seiten des Buches feststellen musste, denn es stand in stetem Vergleich mit den Kollegen in seiner Umgebung und beurteilte sich selbst erbarmungslos als das bedeutungsloseste und überflüssigste Tier der Welt. Es wollte auch (vermeintlich) aufregende Dinge tun wie seine Freunde: so weit wandern wie das Zebra, so laut brüllen wie der Löwe, beissen wie das Krokodil, Wasser spritzen wie der Elefant, leise schleichen wie der Leopard und von den Baumwipfeln fressen wie die Giraffe. Aber all das konnte das Nilpferd nicht, es war zum Verzweifeln. Ich bin – so denkt es traurig – einfach ein langweiliges Nilpferd, das in seinem langweiligen Wasserloch liegt und langweiliges Schilfgras frisst. Damit sollte es ein Ende haben: «Ich habe nichts von der Welt gesehen, nur dieses öde, alte Wasserloch.» Es steigt aus dem Wasser und macht sich auf den Weg. Die mit ihm befreundeten Tiere stellen sich ihm in ihrer je eigenen Art beherzt entgegen. Aber vergeblich – und nun?
Sich identifizieren und einfühlen
Eine solche Geschichte regt kleine (und grosse!) Kinder zum Denken an, und gerade die vermenschlichten Tierfiguren erleichtern es ihnen, sich mit den Protagonisten der Geschichte zu identifizieren, sich in deren Lebenssituationen einzufühlen und eine Verbindung zu ihrem menschlichen Umfeld zu erkennen. Für uns Erwachsene sind solche Geschichten ein herzerwärmendes Angebot und die Brücke zum Vergnügen, mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und mit ihnen zu «philosophieren», wie sie selbst gerne sagen: Was beschäftigt das Nilpferd? Wie könnte man ihm helfen? Was gefällt mir an ihm und was kann es besonders gut? Und ich? Was würde auch ich gerne können, wissen und auch lernen? Wer bringt es mir bei? Und wer bin ich eigentlich?
Einfach und zugleich anspruchsvoll
Mich freute es natürlich, ein weiteres Bilderbuch gefunden zu haben, das sich spielerisch und einfühlsam mit drängenden Fragen von Kindern und Jugendlichen befasst und dabei grundlegende Fragen des menschlichen Zusammenlebens anspricht. Viele Kinder und vor allem Jugendliche haben – oft versteckt hinter coolem Gehabe – grosse Zweifel, wenn es um ihre Person und ihr Leben geht, und sie fragen sich: Wer bin ich, was kann ich, welche Bedeutung habe ich in meinem sozialen Umfeld, und was soll aus mir werden? Solche Überlegungen stellen sich Kindern und Jugendlichen in der Persönlichkeitsentwicklung immer wieder neu, individuell bedingt durch die familiäre Situation und die kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, in denen jeder junge Mensch seinen Weg ins Leben sucht. Dazu können oder müssen sich aber auch die Erwachsenen Gedanken machen. Sie haben eine wichtige Aufgabe in diesem Entwicklungsprozess, die einfach erscheinen mag und zugleich sehr anspruchsvoll ist. Einfach, weil sie sich aus der menschlichen Natur ergibt, anspruchsvoll, weil es einen klaren Blick braucht, gerade heute, wo viele Erziehungsideologien herumgeistern.
Meine Freunde brauchen mich
Das Nilpferd hatte vieles versucht, aber das Land war eigentlich nicht sein Element. Wer konnte, würde ihm helfen? Seine befreundeten Tiere erkannten, dass keines von ihnen es allein schaffen würde, das Nilpferd zu seinem Wasserloch zurückzubringen, wo sie es doch so gerne besuchten. Sie taten sich zusammen und trugen es gemeinsam zurück – eine gute Idee! Ist das nicht auch im menschlichen Zusammenleben angesagt? Sich zusammentun, nicht nur auf die eigenen Interessen schauen – oder soll es etwa weiterhin darum gehen, dass einige wenige ihre Macht ausnutzen, indifferent gegenüber dem Schicksal ihrer Mitmenschen, wie es nach neoliberaler Weltordnung angesagt ist? Deshalb ist das Problem der versammelten Tiere auch eine Menschheitsfrage! Ihnen war klar, was anstand, und sie sagten: «Wir brauchen gerade dich. Wer soll das Schilfgras fressen und das Wasserloch reinhalten, damit alle Tiere trinken können?» Und sie boten dem Nilpferd an, ihm alles zu zeigen, was es gerne lernen würde – Brüllen wie der Löwe, Wasserspritzen wie der Elefant, Schleichen wie der Leopard … Die Giraffe bog ihm sogar einen Baumwipfel herunter, um es von den Blättern kosten zu lassen. Es war eine gleichwertige Begegnung. Das Nilpferd verstand und fühlte, dass es ein geschätztes Mitglied einer grösseren Gemeinschaft war und einen unverzichtbaren, wichtigen Beitrag für seine Freunde leistete (und leisten wollte). «Wer an einem Wasserloch wohnt, ist niemals wirklich allein. Die anderen können vielleicht aufregende Sachen tun – aber niemand kann so gut Schilfgras fressen wie ich», erklärte es versöhnt mit seinem Leben. Die ersehnten Blätter, die ihm die Giraffe anbot, schmeckten ihm nicht mehr – wen wundert es?
Psychologisch gesehen kann dieser Vorgang natürlich eingeordnet werden als individueller Erkenntnisprozess, durch den das Nilpferd sein Gefühl der Selbstwirksamkeit erleben und stärken kann. Es nimmt seine eigene Bedeutung wahr und macht damit einen wichtigen Schritt in seiner Entwicklung.
Die Geschichte aber wird zum Anlass für ein vertieftes, altersgemäss gestaltetes Gespräch mit Kindern über den Sinn des Lebens und des Zusammenlebens aller.
Auch die Jugendlichen –
wer bin ich?
Mir gingen beim Betrachten des Bilderbuches nicht nur kleinere Kinder, sondern auch viele Jugendliche durch den Kopf, die ich im Laufe meiner Arbeit in Schule und Praxis kennengelernt hatte. Verschiedene von ihnen hatten in ihren ersten Schuljahren grosse Schwierigkeiten gehabt, sei es beim Lernen oder weil sie mit ihrem Verhalten einen ruhigen Unterricht verhindert hatten. Ein anderes schulisches Umfeld war nötig geworden. Gerade sie waren sehr stark mit der Frage der eigenen Bedeutung und Wirkung in ihrer Peer-Gruppe konfrontiert. Ihre früheren Stolpersteine waren eine zusätzliche Erschwernis und belasteten ihr Gefühl, ein wertvoller Mitmensch zu sein. Aber sie hatten sich auf den Weg gemacht (wozu es ihren Mut und seitens der Lehrpersonen pädagogisches Geschick brauchte) und waren auf der Suche nach ihrem Wert und ihrer Identität. Viele hatten noch grosse Selbstzweifel, die manche vordergründig durch Kritik an ihrem Äusseren bekundeten: zu gross, zu klein, zu dick, zu dünn, die Nase zu breit, die Augen nicht veilchenblau, Haare wie Schnittlauch … Doch es war immer spürbar, sie suchten und brauchten uns als Erwachsene, die ihnen in ihrer anspruchsvollen Lebensphase ruhig und zuversichtlich zur Seite standen.
Früher waren einige der Jugendlichen, weil ihnen Vorbilder, Anleitung und Begleitung gefehlt hatten, eifrige Besucher von YouTube-Kanälen aktuell angesagter Influencer gewesen, die sie zunehmend weg von ihren Mitmenschen und der realen Welt gebracht hatten. Sie hatten kritiklos und gutgläubig die digital geschönten Fassaden ihrer Idole bewundert, die ihnen ein scheinbar glückliches (aber inhaltsleeres) Leben vorgaukelten. Im Vergleich mit den geschönten Fotos auf den von ihnen besuchten Medienportalen konnten sie sich nur bedeutungslos und überflüssig fühlen (wie das traurige Nilpferd), und so beurteilten sie sich auch. Zum Beispiel Eva, die stets mit ihrer Figur haderte und sich unendlich dumm fand, und Mirko, der seinen hübsch gelockten Wuschelkopf verwünschte und deshalb mit viel Haargel zu glätten versuchte, oder Nadia, die sich sogar einen eigenen YouTube-Kanal eingerichtet und viel Zeit damit verbrachte hatte, ihre Fotos, in Erwartung bewundernder Follower, mit Photoshop und Filtern zu verändern (man suchte danach vergeblich nach ihrer eigenen liebenswürdigen Ausstrahlung). Ich schätzte sie alle mittlerweile als tolle Jugendliche, die sich – nicht immer offen und begeistert – von uns Erwachsenen anleiten liessen, vieles neu zu beurteilen und zu ändern.
«Best friends» –
ehrlich, hilfsbereit, zuverlässig …
Interessant war, welche Werte «meinen» Heranwachsenden in ihren Beziehungen wichtig waren. Was machte aus ihrer Sicht die «best friends» aus, von denen sie träumten? Auf diese Frage wollte ich im Gespräch mit ihnen eine Antwort finden. Ich staunte, was sie sich trotz Dauerberieselung durch medial fabrizierte, hochgejubelte Idole von Freunden wünschten: Sie sollten hilfsbereit, zuverlässig, ehrlich und lustig sein und – sich freuen, wenn jemand etwas gut konnte. Eigentlich wie in der «Geschichte vom traurigen Nilpferd» … Das konnte man nur unterstützen! Ich wusste, dass der Weg dahin von ihnen einiges verlangen würde, denn Freundschaft braucht ein gleichwertiges gegenseitiges Geben und Nehmen. Aber sie sprachen die Kernpunkte menschlichen Seins an: den tiefen Wunsch nach einem inneren Zuhause bei den Mitmenschen in näherer und weiterer Umgebung. Sie hatten bis dahin zu wenig erlebt, dass sie sich in zwischenmenschlichen Beziehungen abstützen und auf diese Weise eine innere Orientierung finden können, wie ihr Leben aussehen soll.
Und weiter gedacht, artikulierten sie damit ihr Bedürfnis nach Schutz vor dem heute üblich gewordenen übergriffigen Eindringen in die persönlichsten Lebensbereiche. Ihre Unsicherheit und ihr Ringen um Anerkennung hatte sie immer wieder dazu verleitet, zu Persönliches von sich im Netz preiszugeben, ohne zu spüren, dass man ihnen damit das Recht auf eine eigene Persönlichkeitssphäre nahm – da hatten sie ein legitimes Bedürfnis, sich zu schützen.
Ein gleichwertiges
und friedliches Zusammenleben
Was im Zusammenleben mit Kindern und Jugendliche offensichtlich ist, gilt auch für uns Erwachsene. Es geht um das Gefühl sozialer Verbundenheit – um sichere zwischenmenschliche Bindungen, wie es die wissenschaftliche Forschung vielfach belegt. Sie sind Grundlage seelischer Gesundheit und eine Bedingung für die Entfaltung einer gestärkten, individuellen Persönlichkeit.
Nicht nur Kinder und Jugendliche haben zutiefst den Wunsch, sich mit ihren Mitmenschen zusammenzutun und Freunde zu haben (auch wenn das bei ihnen manchmal hinter befremdlichem oder sogar psychiatrisch erscheinendem Verhalten verdeckt wird). Letztlich geht es für alle um das Vertrauen in die Mitmenschen und die Sicherheit, ein wertvoller Mitmensch zu sein, auch wenn man eine andere Meinung hat. Das ist nicht immer leicht, weil man vielleicht in Kauf nehmen muss, dass ein Gegenüber sich abfällig äussert oder gar die Beziehung abbricht, wenn es mit seiner Meinung nicht durchdringen kann. Diese Hürden zu überwinden ist keine leichte Sache (nicht nur für Kinder und Jugendliche). Es ist aber gerade heute nötig, um politischen Verführungen standzuhalten, Machtstrategien zu durchschauen und einen klaren Kopf zu behalten. Dazu braucht es die Verinnerlichung allgemeingültiger Werte der eigenen Kultur, an denen man sich orientiert, wie die Jugendlichen sie nannten. Genauso wichtig ist die Kenntnis und Wertschätzung der Vorleistungen früherer Generationen und der Respekt vor den Errungenschaften anderer Kulturen. Nur so ist ein gleichwertiges Zusammenleben in Frieden möglich. Es lässt sich beginnen mit einem Gespräch – vielleicht angeregt durch (Bilder-)Bücher, zum Beispiel über ein trauriges Nilpferd. •
1 Norlin, Arne und Anderson, Lena. Die Geschichte vom traurigen Nilpferd. München: Bertelsmann 1993
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