von Michail Gorbatschow
Die Werte und Mechanismen, die der Entwicklung der modernen europäischen Zivilisation zugrunde lagen, haben sich heute nahezu erschöpft. Der grassierende Konsumismus und die unaufhörliche Akkumulation von Kapital stehen in einem eklatanten Widerspruch zu den grundlegenden Interessen der Menschheit und bedrohen das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur. Drogenkonsum, Terrorismus und Verbrechen nehmen ständig zu, und niemand scheint etwas dagegen tun zu können. Und auch die in den letzten Jahren wieder verstärkt aufflammenden ethnischen Konflikte haben die Menschheit völlig unvorbereitet getroffen.
Daher kann unser Versuch, nach den moralischen Lehren zu fragen, die wir aus den Erfahrungen der Menschheit im 20. Jahrhundert ziehen können, vielleicht von Nutzen sein. Selbst wenn es nur ein Anstoss für eine vertiefende Besinnung auf den geistigen und moralischen Zustand unserer Zeit ist. […] Die universellen Werte der Menschheit sind eine Tatsache, die als Grundlage dafür dienen kann, dass die unterschiedlichen Zivilisationen einander näherkommen und sich besser verstehen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die jeweiligen Gesprächspartner die Sprache der Moral und nicht die der Gewalt und der Vorurteile sprechen. Mit dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt die einzigartige Gelegenheit erhalten, endlich zu einer globalen Verständigung unter den Völkern zu gelangen. Diese Gelegenheit ist aber weitestgehend ungenutzt geblieben, und zwar deshalb, weil der Westen die moralische Bedeutung dieser Veränderungen unterschätzt hat. Er hat es versäumt, mit den nach Freiheit strebenden postkommunistischen Ländern in einen Dialog zu treten, der genau unter diesen moralischen Gesichtspunkten hätte geführt werden müssen. Wir standen an der Schwelle zu ganz neuen geopolitischen Möglichkeiten und Gedankenspielen, aber der Westen, durch egoistisches Kalkül an Händen und Füssen gefesselt, war ausserstande, einen ersten Schritt in diese Richtung zu machen.
Deshalb möchte ich nicht, dass unsere Leser uns für blosse Moralapostel halten, die nicht sehen, was vor ihrer Nase liegt, und die Hindernisse verkennen, die es auf dem Weg zu einer neuen humanistischen Zivilisation noch zu überwinden gilt. Blinden Egoismus und blinden egoistischen Eifer hat es bereits mehr als genug gegeben.
Ein friedliches Miteinander
der verschiedenen Kulturen
Die Mehrheit der Leser wird uns aber vermutlich darin Recht geben, dass die Zeit reif ist, die jahrhundertealte Kluft zwischen Politik und Moral zu überwinden. Wir müssen erkennen, dass die künftige Welt nur eine Welt in Vielfalt sein kann – eine Welt von Welten – und dass in einer solchen Welt wirkliche Freiheit nur möglich ist, wenn auch eine innere Offenheit für sie besteht. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie so ein friedliches Miteinander und Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Zivilisationen zu erreichen ist. Wer wäre in der Lage, den verschiedenen Kulturen ihr Recht auf unabhängige und eigenständige Entwicklung zu gewährleisten? Wie lässt es sich vermeiden, dass es im Zuge der Befriedung regionaler Konflikte nicht zu neuen Monopolisierungen kommt? Wer hat das Recht, sich bei grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kulturen als Schiedsrichter aufzuspielen? Und, die wichtigste aller Fragen, lässt sich die Entwicklung der Welt überhaupt in eine bestimmte Richtung lenken?
Mit dem Ende des Kalten Krieges ist unsere Welt nicht sicherer geworden. Viele betrachten heute die totale Verwestlichung der Welt mit ebenso viel Sorge wie früher die Bedrohung einer gewaltsamen Ausbreitung des Kommunismus. Der Westen ist offensichtlich nicht in der Lage, die Ergebnisse des Neuen Denkens, das die Welt aus der Blockpolitik und der totalen Konfrontation befreit hat, klug zu nutzen. Die Früchte des Neuen Denkens, die nur unter äusserst grossen Schwierigkeiten hervorgebracht werden konnten, verkümmern förmlich vor unseren Augen. Noch vor wenigen Jahren ist Russland dem Westen mit offenen Armen und den allerbesten Absichten entgegengerannt. Aber niemand im Westen ist dem Beispiel Russlands gefolgt. Der Westen war weder in der Lage, eine neue Doktrin der kollektiven Sicherheit zu entwickeln, noch ist es ihm gelungen, irgendeine Vision für eine friedliche Entwicklung der Welt zu entwerfen. Auch heute noch wird das Schicksal der Welt von Strukturen bestimmt, die sich in der Zeit des Kalten Krieges herausgebildet haben. Als der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, bestand die dringende Notwendigkeit, ein neues System kollektiver Sicherheit in Europa zu entwickeln. Aber die gesamteuropäischen Bestrebungen fielen bald wieder den alten Verhaltensmustern zum Opfer, in denen es immer nur um den Versuch ging, den Einflussbereich der Nato in Richtung Osten zu erweitern. Die ganze Verteidigungspolitik des Westens konzentriert sich mittlerweile auf die Frage, wie viele postkommunistische Staaten der Nato beitreten sollen und wann das geschehen soll. Was für negative Konsequenzen so eine rein strategische Herangehensweise an die Aufgabe einer europäischen oder globalen Sicherheitspolitik hat, wird dabei vollkommen übersehen.
Das ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, dass der Westen weder moralisch noch intellektuell auf die Veränderungen vorbereitet war, die mit unserer neuen Politik eingeleitet worden sind. Er hat nicht aufgehört, sich auf den alten, eingefahrenen Gleisen zu bewegen.
Wer heute in einer Welt, die nicht mehr in Blöcke gespalten ist, einen Führungsanspruch erhebt, und sei es auch in bester Absicht, läuft Gefahr, dass die Menschen am Segen der Demokratie zu zweifeln beginnen. Das sollte man bedenken, solange noch Zeit ist und sich die Menschen noch nicht ganz von ihr abgewandt haben. Die instinktive Zurückweisung dieser neuen, jetzt allerdings demokratischen Vereinheitlichung hat in der neuen unipolaren Welt möglicherweise schon zu mehr Kriegen geführt als in der alten bipolaren Welt, in der jedes Streben nach Weltherrschaft noch in Schranken gehalten wurde. Im Westen ist man immer noch der Ansicht, dass die Veränderungen in der alten Sowjetunion eine Folge des äusseren Drucks gewesen sind. Aber eigentlich ist der Wandel, der dort stattgefunden hat, Ausdruck eines moralischen Fortschritts der ganzen Menschheit gewesen, vor allem derjenigen Völker, die nicht länger bereit waren, unter der Lüge einer totalitären Ideologie zu leben. Man sollte sich daran erinnern, dass das Verlangen nach Freiheit, nach freundschaftlichen Beziehungen mit der übrigen Welt und nach einem Ende der Politik der Angst und Bedrohung kein Zeichen der politischen Schwäche Russlands war. Die Achtung der persönlichen Grundrechte und Freiheiten nach westlichem Vorbild hat natürlich eine Rolle gespielt. Aber daraus sollte man nicht den falschen Schluss ziehen, dass es den Ländern in der postkommunistischen Welt nur darum gegangen ist, sich so schnell wie möglich in eine «strahlende amerikanische Zukunft» zu stürzen, und dass umgekehrt die Mission Amerikas allein darin bestanden hat, diesen Ländern so schnell wie möglich die Grundregeln der Demokratie beizubringen.
Das Herz der Demokratie:
grundlegende moralische Werte
Es wurde also versucht, eine neue demokratische Zivilisation allein auf bürokratischem Wege, gewissermassen von oben herab, aufzubauen. Leider haben dabei viele in den westlichen Ländern vergessen, dass das Herz der Demokratie aus den grundlegenden moralischen Werten besteht, über die wir in diesem Buch gesprochen haben. An erster Stelle denke ich hier an den Grundsatz der moralischen und politischen Würde jedes einzelnen Menschen sowie an den Grundsatz der Toleranz und des Respekts vor der Meinung des anderen. Ich teile die Auffassung von Herrn Ikeda, dass es wahre Freiheit und wahre Demokratie nur dort geben kann, wo auf Gewalt verzichtet wird. Eine Demokratie, die mit Gewalt – oder wie 1993 in Russland mit Panzergranaten – durchgesetzt wird, ist nichts wert. Demokratie lässt sich nicht mit Doppelmoral vereinbaren. Als im Oktober 1993 das Parlamentsgebäude in Moskau beschossen und gestürmt worden ist, hat der Westen eine solche Doppelmoral an den Tag gelegt und dabei seine eigenen Prinzipien verraten.
Ich frage mich oft, was wohl aus einer Demokratie wird, die mit Gewalt durchgesetzt wird. Was passiert, wenn plötzlich diejenigen schwach werden, die die Gewalt zuvor angewendet haben? Und wie lange hält wohl ein Frieden, wenn diejenigen, die ihn mit Raketen aufgezwungen haben, keinen Einfluss mehr haben?
Ich stelle die Werte der Demokratie überhaupt nicht in Zweifel und auch nicht ihre Fähigkeit, die gesellschaftliche Entwicklung in diesen schwierigen Zeiten in die richtigen Bahnen zu lenken. Ich war und bleibe ein Gegner autoritärer Herrschaft und jeder Praxis und Ideologie der «eisernen Faust». Nur auf dem Weg freier demokratischer Wahlen kann der Übergang vom Totalitarismus zur Demokratie gelingen. Das ist auch der Grund, warum ich darauf bestanden habe, dass in Russland in regelmässigen Abständen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durchgeführt werden. Wenn wir es also ernst damit meinen, eine neue humanistische Zivilisation hervorzubringen, dann ist es unsere Pflicht, die liberale Ideologie und die demokratischen Institutionen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Das Bewusstsein der Menschheit muss sich gleichermassen in zwei Richtungen entwickeln.
Als wir die Politik der Perestroika eingeleitet haben, haben wir die Ideologie und Praxis des Kommunismus einer kritischen, schonungslosen Analyse unterzogen. Uns ist klar geworden, dass die Vorstellung, die Menschen zu ihrem Glück zwingen zu können, nichts Gutes bewirkt und die Anwendung von Gewalt sich früher oder später einmal rächen wird. Dass Gewalt und revolutionärer Extremismus nie zu rechtfertigen sind, darüber haben Herr Ikeda und ich uns ja schon ausführlich ausgetauscht. In unserem Gespräch haben wir sehr ausführlich über die Kritik des kommunistischen Extremismus und seinen Versuch, die Welt in einer radikalen Weise umzugestalten, gesprochen. Daher will ich in diesem Nachwort die Gelegenheit nutzen, deutlich zu machen, dass wir auch ernsthaft über die Schwächen und Unzulänglichkeiten der Institutionen der westlichen Demokratie sprechen müssen.
Lehren aus den Balkankriegen
Der kommunistische Totalitarismus ist heute fast völlig verschwunden, und trotzdem ist die Krise der modernen Zivilisation dabei, sich immer weiter auszubreiten. Die leidgeprüften Völker Bosniens mussten zum Beispiel einen hohen Preis dafür zahlen, dass der Westen alles dafür getan hat, aus den ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens so schnell wie möglich unabhängige Präsidialrepubliken zu machen. Über das ehemalige Jugoslawien wurden internationale Entscheidungen von grosser Tragweite getroffen, ohne dabei die spezifischen Besonderheiten dieser Region zu berücksichtigen. Der Westen war nicht ausreichend vorbereitet, um eine erfolgreiche Friedensmission durchführen zu können, was schliesslich die Uno dazu gezwungen hat, mit den entsprechenden Massnahmen, einschliesslich massiver Bombardements, in den Konflikt einzugreifen. Und kaum waren die ersten Abkommen unterzeichnet, haben sich in der kroatisch-muslimischen Konföderation schon wieder die ersten Risse gezeigt.
Auch in der neuen unipolaren Welt hängt das Schicksal ganzer Völker wieder einmal von den jeweiligen Stimmungen der politisch Verantwortlichen in den USA ab, ja, sogar von den Wahlkampfkampagnen der jeweiligen Präsidentschaftskandidaten. Im Friedensabkommen von Dayton 1995 ist man schliesslich zu Entscheidungen gekommen, die man mit ein wenig gesundem Menschenverstand und auch bei geringen Kenntnissen der Geschichte Serbiens schon von Anfang an hätte treffen können. Ich bin überzeugt davon, dass die jugoslawische Tragödie vermeidbar gewesen wäre, wenn der Westen die Unabhängigkeit von Kroatien, Slowenien und später dann von Bosnien-Herzegowina nicht so schnell anerkannt hätte. Er hätte statt dessen eine internationale Friedenskonferenz einberufen sollen, um die verfeindeten nationalen Parteien zu Kompromissen zu bewegen und die Rechte der Minderheiten in den neu entstehenden Nationalstaaten zu sichern. Aber alle hatten es furchtbar eilig, die serbischen Kommunisten so schnell wie möglich zu bestrafen und die Völker Jugoslawiens möglichst bald auf den Weg der Demokratie zu bringen. Es waren also wieder einmal die ideologischen Voreingenommenheiten, die alles andere in den Hintergrund gedrängt haben.
Dass die Ideologie in der Weltpolitik wieder neu auflebt, liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Ursachen und Motive für das Neue Denken und unsere Initiativen, den Kalten Krieg zu beenden, nicht objektiv bewertet worden sind. Wir haben den alten ideologischen Ballast nicht deshalb abgeworfen, weil wir zu Sklaven einer neuen Ideologie werden oder von nun an bei einem Milton Friedman oder Friedrich August von Hayek in die Schule gehen wollten. Wir haben die Ideologie im Namen der Moral abgelehnt.
Ignoranz gegenüber der Geschichte
Es ist daher meiner Ansicht nach nur konsequent, dass auch die Prinzipien und Institutionen der Demokratie – und insbesondere der amerikanischen Demokratie – kritisch überprüft werden müssen. Die Versuche des Westens, im ethnisch gespaltenen Bosnien freie Wahlen abzuhalten, um es gewissermassen in ein neues Amerika zu verwandeln, sind wirklich nicht gut ausgegangen. Eine Ursache dafür war, dass grundlegende Dinge einfach nicht berücksichtigt worden sind. Zum Beispiel die Tatsache, dass bosnische Serben, die fünfhundert Jahre lang versucht haben, sich von der Herrschaft der Osmanen zu befreien, plötzlich in einem Land leben sollten, das möglicherweise von einem muslimischen Präsidenten regiert werden würde. Selbst in Afrika, das sich vom Kolonialismus befreit hat, hat die Geschichte der einzelnen Staaten nicht einfach wieder bei null angefangen. Die Völker auf dem Balkan blicken auf eine über tausendjährige Geschichte zurück, über die man nicht so einfach hinweggehen kann. Aber genau das ist geschehen, und ähnlich hat es sich auch verhalten, als die internationale Staatengemeinschaft den Zerfall der Sowjetunion unterstützt und dabei ganz wesentliche Faktoren ausser Acht gelassen hat.
Die USA – kein Vorbild
Es gibt in den westlichen Ländern, und selbst in den USA, viele Wissenschaftler und Politiker, die eine Fülle von Gründen ins Feld führen, die den Anspruch Amerikas auf die ideologische und politische Vorherrschaft in der Welt in Frage stellen. Ihre Argumente sind dabei in etwa die folgenden: Erstens sind die Vereinigten Staaten gar nicht reich genug, um all die vielen Programme zur Unterstützung der Demokratie in der Welt in effektiver Weise umsetzen zu können. Häufig bewirken sie deshalb sogar eher das Gegenteil dessen, was intendiert gewesen ist. Das nationale Budget reicht nach Meinung dieser Wissenschaftler ja nicht einmal für eine Krankenversicherung von Armen und Alten. Zweitens sind die USA selbst in vielerlei Hinsicht überhaupt nicht als Vorbild geeignet. Denn sie unterstützen zwar andere Länder dabei, ethnische und Rassenkonflikte zu überwinden, sind aber in ihrem eigenen Land dazu nicht in der Lage. Der sogenannte «Marsch der Millionen», eine grosse Demonstration der Afroamerikaner, die im Oktober 1995 in Washington stattfand, hat nur ein weiteres Mal gezeigt, dass die Rassenkonflikte weiter schwelen und noch kein Weg gefunden worden ist, die Kluft zwischen dem schwarzen und weissen Amerika zu überwinden. Drittens sind die Amerikaner, was sie häufig sogar selbst zugeben, so sehr in den Mythen über ihr eigenes Land gefangen, dass sie gar nicht mehr in der Lage sind, andere Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Der durchschnittliche Amerikaner hat nur sehr vage Vorstellungen von anderen Kulturen und deren Geschichte, so dass es ein Leichtes ist, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Und viertens besitzen in Amerika die Massenmedien, die vierte Gewalt im Staat, eine unglaubliche Macht, die Präsidenten ins Amt bringen und wieder stürzen kann. Die grosse Mehrheit des amerikanischen Volkes ist so sehr damit beschäftigt, sich den nötigen Lebensunterhalt zu verdienen, dass sie sich mit dem Weltbild, das sie von den elektronischen Medien vermittelt bekommen, zufriedengeben müssen. Daher sind also die Trends in der öffentlichen Meinung wie aber auch in der Politik ganz von der Redlichkeit und Integrität derjenigen abhängig, die die Medienkonzerne kontrollieren.
Gegen diese sich immer weiter ausbreitende Allmacht der «vierten Gewalt» kann nur eine neue und globale kulturelle Revolution helfen, die jeden einzelnen Menschen zum bewussten Subjekt der Weltpolitik macht. Auch wenn das 20. Jahrhundert zweifellos grosse Erfolge in der Bildung der breiten Volksmassen erzielt hat, müssen wir doch auch erkennen, dass die entscheidenden Aufgaben, die uns die grossen Lehrer und Erzieher der Menschheit hinterlassen haben, noch nicht gelöst sind. Selbst in den fortschrittlichsten Nationen, die USA eingeschlossen, ist das durchschnittliche Bildungsniveau in der Bevölkerung wirklich niedrig. Wachsender Drogenkonsum und zunehmende Kriminalität machen deutlich, dass die Seelen der Menschen krank sind, dass es der modernen Gesellschaft an geistigen Werten und Menschlichkeit mangelt. Die Kluft zwischen dem gebildeten und dem ungebildeten Teil der Gesellschaft wird trotz aller Anstrengungen immer grösser, was dazu führt, dass Millionen von Menschen auch weiterhin von der Politik manipuliert werden können. Obwohl die Vereinigten Staaten sich die Führungsrolle in der heutigen demokratischen Zivilisation aufgebürdet haben, sind sie nichtsdestotrotz genauso von all diesen Problemen betroffen.
Die westliche Zivilisation
auf den Prüfstand stellen
Die Probleme und Widersprüche im politischen System der Vereinigten Staaten, dem Vorposten westlicher Demokratien, sind nur ein Beispiel für unsere These, dass es an der Zeit ist, die moderne liberale Zivilisation als Ganze einmal auf den Prüfstand zu stellen. Aber bei aller Diskussion über dieses Thema müssen wir uns auch darüber Gedanken machen, wie eine neue Gleichschaltung der Welt vermieden werden kann. Das Problem einer globalen Sicherheit kann heute nur dadurch gelöst werden, dass alle Staaten gemeinsam die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit übernehmen. Und ich verwende hier das Wort Sicherheit in einem sehr weiten Sinne, der neben dem militärischen Bereich auch die Bereiche der Wirtschaft, der Ökologie und der Informationstechnologie mit einschliesst.
Da sich mittlerweile herausgestellt hat, dass alle Projekte, die eine Weltregierung angestrebt haben, nur reine Phantasiegebilde gewesen sind, sollten wir nun dringend damit anfangen, die bereits bestehenden internationalen Organisationen zu reformieren. Vor allem die Uno muss ihre Macht und Handlungsfähigkeit bei der Befriedung internationaler Konflikte stärken. Denn im Falle Bosniens sind all ihre diesbezüglichen Schwächen zutage getreten. An erster Stelle die mangelhafte finanzielle Ausstattung und die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Und zweitens die zweifelhafte Rolle des Sicherheitsrates. Denn in der Vergangenheit hat es sich gezeigt, dass dessen Mitglieder sich bei Beschlüssen über friedenssichernde Massnahmen in erster Linie von den eigenen nationalen Interessen leiten lassen und dementsprechend dann auch entweder die eine oder die andere Konfliktpartei unterstützen. Dass das nicht zu einer Entspannung, sondern Verschärfung der jeweiligen Konflikte führt, steht ausser Zweifel.
Was kann man daraus nun für Schlussfolgerungen ziehen? Die Uno wird nur dann eine Zukunft haben, wenn sie zu einer vollkommen unabhängigen und finanziell gut ausgestatteten Organisation wird, die in der Lage ist, im Interesse einer globalen Sicherheit nach ihren eigenen politischen Grundsätzen zu handeln. Die wirtschaftliche und militärische Macht eines Staates war bislang ausschlaggebend dafür, einen Sitz im Sicherheitsrat zu bekommen. Aber es gibt auch noch andere Kriterien, die eine Zivilisation auszeichnen, und daher wird es nötig sein, den Kreis seiner Mitgliedsstaaten zu erweitern. Denn wenn wir tatsächlich eine neue Zivilisation im Sinne einer Welt von Welten hervorbringen wollen, dann muss auch der Sicherheitsrat eine Welt von Welten sein. Die Vertreter aller heute existierenden Zivilisationen, ohne jede Ausnahme, müssen das Recht haben, Einfluss auf die Entscheidungen des Sicherheitsrates zu nehmen, weil diese ja auch in irgendeiner Form die Sicherheit der ganzen Menschheit betreffen.
Die Zukunft der Vereinten Nationen
Als souveräne Staaten stellten die Mitglieder der Vereinten Nationen bislang ihre eigenen nationalen Interessen stets über alles andere. Würde man dagegen die Uno im Sinne einer zivilisatorischen Definition begreifen, wie ich sie eben beschrieben habe, dann würde das dem Sicherheitsrat die Möglichkeit geben, nach und nach über den Rahmen einer blossen Organisation souveräner Staaten hinauszugehen, also mehr zu sein als diese – und ihn in die Lage versetzen, Entscheidungen im Interesse der Menschheit als Ganzes zu treffen. Die Frage, wie das Zusammenwirken zwischen der Uno und den regionalen Organisation aussehen könnte, wäre dann in demselben Kontext einer solchen zivilisatorischen Definition zu behandeln.
Und noch eine Organisation muss man hier nennen, die sowohl mit dem zu tun hat, was ich als Perspektive für die Uno skizziert habe, als auch mit dem, worüber Herr Ikeda und ich gesprochen haben: die Unesco. Denn wenn die Menschheit immer weiter zusammenwächst und zu einer Einheit wird, warum sollte man dann nicht auch daran denken, Richtlinien für ein Erziehungs- und Bildungssystem zu entwickeln, das sich an dem von uns so genannten neuen Humanismus orientiert und sowohl auf den moralischen Erfahrungen der ganzen Menschheit als auch auf der Weisheit der grossen Religionen basiert. Und letztlich müsste man dann auch noch ein Lehrbuch über die Weltgeschichte schreiben, und zwar nicht als eine Geschichte von Kriegen, sondern von moralischen Taten. Es kommt einem daher fast wie eine Ironie der Geschichte vor, dass die «Washington Post» einen Wettbewerb über die herausragendste Persönlichkeit des zweiten Jahrtausends mit einem Artikel über Dschingis-Khan eröffnet hat.
Heute aber muss es um eine grössere Aufgabe gehen, nämlich um die kulturelle Neuorientierung der ganzen menschlichen Zivilisation und um eine neue moralische und kulturelle Reformation. •
Quelle: «Vom Neuen Denken zu einer neuen Politik» (Nachwort von Michail Gorbatschow),
aus: Michail Gorbatschow/Daisaku Ikeda. Triumph der moralischen Revolution
© 2015 Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau
«Am Ende des 20. Jahrhunderts, das Zeuge von zwei Weltkriegen und den schrecklichsten Formen des Totalitarismus geworden ist, sehen wir uns vor allem mit der Frage nach der Würde und der Freiheit des Menschen konfrontiert: mit der Frage nach dem Recht, das dem Menschen von Gott und der Natur geschenkte Leben zu leben und den Geist dieser Freiheit in seinem Denken und Glauben zu bewahren. Dieses Jahrhundert hat die Ideale des Humanismus auf eine furchtbare Probe gestellt. […] Unser Dialog hat seinen Ausgangspunkt daher in der Notwendigkeit eines neuen Humanismus, der eine neue Orientierung geben soll. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Zeit für einen wahren Humanismus gekommen ist. Dieser Humanismus muss dabei nicht nur die individuelle Persönlichkeit achten und die Würde und Werte der Humanität zu schützen wissen, sondern auch dazu in der Lage sein, die Menschheit vor neuen Versuchungen und Katastrophen zu bewahren.
Die Erfahrungen und Lehren aus dem 20. Jahrhundert können uns bei der Gestaltung eines solchen Humanismus hilfreich sein. Wir müssen uns daher heute fragen: Welche sozialen Reformen und Entwicklungen sind notwendig, nachdem der revolutionäre Radikalismus sich als so gefährlich herausgestellt hat und der Traum der kommunistischen Gleichheit ausgeträumt ist? Was sind die Grundlagen von Kultur und Glaube, nachdem der ideologische Extremismus sich selbst in Verruf gebracht hat? Wie können wir das Unrecht in der Welt überwinden, nachdem nun deutlich geworden ist, dass sich das Glück und die Zufriedenheit der Menschen nicht auf Gewalt begründen lassen? Absolute Gleichheit und Einförmigkeit, sofern sie auf alles und jeden bezogen werden, zerstören die Vielfalt des Lebens. Wenn das aber so ist, dann ist zu fragen, was wir tun müssen, damit die Menschen sich in ihrer individuellen Persönlichkeit entfalten, in ihrem Streben nach Glück verwirklichen und wir trotzdem die gleichen Rechte für alle garantieren können? Und weil Klassenmoral nicht einfach mit Moralität gleichzusetzen ist, gilt es ferner zu fragen, was an deren Stelle treten soll und wie wir die menschliche Würde derjenigen schützen können, die keine Einflussmöglichkeiten haben, deren Stimme im lärmenden Gerangel um Macht und Autorität nicht gehört wird oder denen es nicht gelingt, an dem Reichtum und der Fülle des Lebens teilzuhaben.»
Gorbatschow, Michail; Ikeda, Daisaku.
Triumph der moralischen Revolution,
Herder-Verlag 2015,
Auszug aus dem Vorwort
Zum Buch von Michail Gorbatschow und Daisaku Ikeda «Triumph der moralischen Revolution»
von Karl-Jürgen Müller
Von vielen wird die Forderung nach Moral in der Politik als «Moralismus» kritisiert. Dieser Moralismus sei ein trügerischer Schein einer in Wahrheit nihilistischen Haltung zum Leben und zum Mitmenschen (so Emmanuel Todd): nämlich eine Haltung, die Moral vorgibt, in Tat und Wahrheit aber nur den kurzfristigen eigenen Interessen dienen soll. Die Rechtfertigungen westlicher Hegemonialpolitik (wir tun alles «für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie») der vergangenen Jahrzehnte waren voll davon.
Deshalb aber die Forderung nach Moral in der Politik ganz aufzugeben und nur noch auf Pragmatismus, ganz offene Interessens- und Machtpolitik und die Rückkehr «starker» Männer (und Frauen) zu setzen, ist nicht weniger fragwürdig – denn auch dieser Weg wird die Menschheitsprobleme nicht nachhaltig lösen helfen.
Hier ist an die eigentliche Bedeutung von Moral zu erinnern: Moral als anthropologisch und ethisch begründete Gebote zum Sinn und Sollen menschlichen Lebens und menschlicher Gemeinschaft(en). Gebote, die sich an der Sozialnatur und Würde des Menschen orientieren und durch geschichtliche Erfahrungen sowie die Kernbotschaften der grossen Weltreligionen für das Zusammenleben der Menschen bekräftigt und gesättigt sind. So wird Moral in der Politik ein Überlebensgebot für die Menschheit. Ihre politische Konkretisierung findet sie in dem, was tatsächlich Recht ist.
Trotzdem verliert diese eigentliche Moral immer mehr an Bedeutung im politischen Leben unserer Staaten. Und deshalb ist es so wichtig, immer wieder an diese Moral und an Persönlichkeiten zu erinnern, die sie in Theorie und Praxis zu leben versuchen oder versucht haben.
Hier soll an ein Buch des deutschen Herder-Verlages erinnert werden, das 2015 veröffentlicht wurde und ausführliche Gespräche zwischen dem ehemaligen Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und späteren Präsidenten des Landes Michail Gorbatschow und dem japanischen buddhistischen Gelehrten Daisaku Ikeda wiedergibt: «Triumph der moralischen Revolution». Das Buch ist die Neuübersetzung eines Buches aus dem Jahr 1998, das der deutsche Siedler-Verlag mit dem Titel «Unsere Wege treffen sich am Horizont» veröffentlicht hatte. Der Blick ins Buch zeigt, dass die Gespräche von Gorbatschow und Ikeda kurz nach 1995 stattgefunden haben, also vor fast 30 Jahren – zu einem Zeitpunkt, als die Erosion politischer Moral zwar schon deutlich erkennbar, aber noch nicht so weit fortgeschritten war wie heute. Um so dankbarer muss man für die ausgewogenen, aber auch klar formulierten Worte der beiden Persönlichkeiten aus Russland und Japan sein. Sie halten auch uns Heutigen den Spiegel vor – und suchen nach Wegen in eine dem Menschen gemässe Zukunft.
Das Buch hat fünf Kapitel und je ein Nachwort der beiden Gesprächspartner. Ausserordentlich viele Themen werden angesprochen, unter anderem:
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