von Dr. iur. Marianne Wüthrich
Der National- und der Ständerat haben in der Frühjahrssession drei bemerkenswerten Abkommen zugestimmt: einem trilateralen Gasabkommen mit Deutschland und Italien, einem Finanzabkommen mit Grossbritannien sowie einem Handels- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen den EFTA-Staaten und der Republik Indien. Alle drei Abkommen müssen auch von den anderen beteiligten Parlamenten genehmigt werden, damit sie in Kraft treten können. Dass sie von der Schweiz überhaupt abgeschlossen werden können, zeigt, wie wichtig eine möglichst grosse Unabhängigkeit unseres Landes von Blöcken und Mächten aller Art ist.
Gasabkommen mit Deutschland und
Italien – ein Vertrag auf Augenhöhe
Der Abschluss dieses Abkommens ist fast schon revolutionär: Zwei EU-Mitgliedsstaaten schliessen mit der Schweiz von gleich zu gleich einen Vertrag ab, ganz ohne bürokratisches Tamtam aus Brüssel, so wie wir es unter Nachbarn früher immer getan haben. Im März 2025 haben der National- und Ständerat das trilaterale Solidaritätsabkommen genehmigt. Es soll gegenseitige Gaslieferungen in Notsituationen regeln – etwa damit Spitäler und Haushalte auch in akuten Krisen stabil mit Gas versorgt werden können.1 Eine gefreute Sache, nicht nur für die Schweizer Energieversorgung, sondern auch als vorbildliches Beispiel, wie wir als unabhängiges Land die Beziehungen mit unseren Nachbarländern gestalten können. In Zeit-Fragen Nr. 26 vom 10. Dezember 2024 kam das Gasabkommen schon einmal zur Sprache, nachdem der Ständerat ihm als erster Rat zugestimmt hatte.
Nationalrat Franz Grüter, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, brachte damals im Interview mit Zeit-Fragen die staatsrechtliche und souveränitätspolitische Bedeutung des Abkommens in so treffenden Worten zum Ausdruck, dass wir sie hier noch einmal wiedergeben: «Ja, das ist ein gutes Beispiel, dass man wichtige Fragen für unser Land auch direkt mit anderen Staaten lösen kann. Ich plädiere für gute Beziehungen mit ganz Europa. Europa ist nicht nur die EU. Wir sollten gute Beziehungen pflegen, wir wollen im gegenseitigen Interesse Handel betreiben. Wir können auch einzelne Verträge abschliessen. Aber diese Verträge sollten auf Augenhöhe sein, sie müssen kündbar sein, und wir lassen uns nichts aufzwingen. Schon gar nicht eine automatische Übernahme von EU-Recht. Dieser Gasvertrag ist ein Super-Beispiel für echte bilaterale Verträge, wo beide einen Nutzen haben. So stelle ich mir eigentlich die Zukunft vor.»
Finanz-Abkommen mit
Grossbritannien – Regelung der
bilateralen Beziehungen nach dem Brexit
In der Schlussabstimmung der Frühjahrssession am 21. März 2025 haben die beiden Räte ohne Gegenstimmen einer Vereinbarung der Schweiz mit Grossbritannien über die gegenseitige Anerkennung von Finanzdienstleistungen zugestimmt.2 Damit können Schweizer Banken grenzüberschreitend in Grossbritannien tätig sein, zum Beispiel als Vermögensverwalter.
Dieses Abkommen ist Teil der sogenannten «Mind the Gap»-Strategie zwischen der Schweiz und Grossbritannien. Seit dem Brexit haben die beiden Staaten anstelle der vorher geltenden bilateralen Abkommen Schweiz-EU bereits neun Verträge miteinander abgeschlossen, mit denen sie rechtliche Lücken vermeiden und gegenseitige Rechte und Pflichten erhalten können.3 Zum Beispiel wurde bereits ein Jahr vor dem Austritt Grossbritanniens aus der EU, im Februar 2019, vereinbart, dass für die damals in der Schweiz lebenden Briten weiterhin die Aufenthaltsrechte gemäss EU-Freizügigkeitsabkommen gelten sollten und umgekehrt. Für die Zuwanderung von Erwerbstätigen aus Grossbritannien setzt der Bundesrat jedes Jahr Kontingente fest, die auf die Kantone verteilt werden, für 2025 sind dies wie in den Vorjahren 3500.4 Das neue Finanzabkommen reiht sich in dieses Regelungswerk ein. Offensichtlich funktioniert der bilaterale Umgang zwischen den beiden Staaten ohne den bürokratischen Überbau der Europäischen Union bestens und unkompliziert – alles von gleich zu gleich ausgehandelt und in beidseitigem Interesse.
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen
den EFTA-Staaten und Indien –
mehr als ein Freihandelsabkommen
16 Jahre lang dauerten die Verhandlungen der EFTA-Staaten mit Indien, bis das heutige Resultat auf dem Tisch lag. Der Ständerat hat dem TEPA (Trade and Economic Partnership Agreement) in der Schlussabstimmung vom 21. März 2025 mit 39 Ja zu 2 Nein bei 4 Enthaltungen zugestimmt, der Nationalrat mit 130 zu 33 bei 28 Enthaltungen.5 In diesem Rahmen sollen nur die wichtigsten Kernpunkte aufgegriffen werden. Indien ist wie viele andere Staaten des Globalen Südens heute mit Recht nicht mehr bereit, Verträge mit westlichen Industriestaaten einzugehen, bei denen es nicht gleichermassen auf seine Kosten kommt.
100 Milliarden Dollar Investitionen
und eine Million Arbeitsplätze für Indien
Das Einzigartige an diesem Abkommen ist die Verknüpfung eines Handelsabkommens mit einer umfangreichen Investionsförderung. Niklaus-Samuel Gugger (Mitte, ZH), Kommissionssprecher im Nationalrat, am 20. März 2025: «Ich betone bewusst das Wort ‹Partnerschaft› [Partnership Agreement], denn dieses Abkommen geht über ein klassisches Freihandelsabkommen hinaus.» In der Ständeratsdebatte vom 3. Dezember 2024 wurde der neue Ansatz so gewürdigt: «Es ist das Kapitel zur Investitionsförderung und Zusammenarbeit, das das Abkommen mit Indien zu einem innovativen und auch mutigen Abkommen macht […]. Hier hat das Schweizer Verhandlungsteam neue Wege beschritten. Es ist ein Ansatz, den wir bisher nicht kennen, ein Ansatz, der den Durchbruch ermöglicht hat. Ohne dieses Kapitel wäre das Abkommen mit Sicherheit nicht zustande gekommen. Kern des Kapitels ist das gemeinsame Ziel der Schweiz und der EFTA-Staaten, in den nächsten 15 Jahren 100 Milliarden Dollar an privaten Investitionen auszulösen und eine Million Arbeitsplätze zu schaffen.» (Tiana-Angelina Moser, GLP, ZH, Kommissionssprecherin im Ständerat am 3.12.2024)
Eigentlich hätte Indien gerne auch ein Entgegenkommen bei der Zuwanderung von Arbeitskräften gehabt. Aber da die Schweiz aufgrund des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU bekanntlich jährlich Zehntausende von Erwerbstätigen aus den EU-Ländern aufnehmen muss, hat sie wenig Spielraum, um anderen Staaten verbindliche Zusagen zu machen. Mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze in Indien kann die Schweiz ein Stück weit dieses Dilemma lösen.
Minderheitsantrag im Nationalrat:
Besserer Schutz von Umwelt,
Klima und sozialen Standards
Eine Uneinigkeit im Nationalrat bestand in Bezug auf die Wirksamkeit der Umwelt- und Arbeitsstandards im Abkommen. Hier ist zwar festgehalten, dass «die internationalen Verpflichtungen in den Bereichen Arbeit, Umwelt und Klimaschutz respektiert werden» sollen und dass insbesondere «Umwelt- und Arbeitsstandards nicht gesenkt werden dürfen, um den Handel zu fördern». Der linken Ratsseite im Nationalrat ging diese Bestimmung jedoch zu wenig weit. Mit einem Minderheitsantrag forderte Farah Rumy (SP, SO) eine Verordnung des Bundesrates, mit der er darüber wachen soll, dass «Investitionen gemäss Artikel 7.1 des Freihandelsabkommens nicht auf Kosten von Umwelt, Klima und sozialen Standards gehen» dürfen. Sie fügte hinzu: «Die Schweiz darf nicht mitverantwortlich dafür sein, dass Diskriminierung oder Umweltzerstörung mit Schweizer Kapital finanziert werden.»
Dieser Antrag wurde von der Mehrheit des Nationalrates am 20. März allerdings abgelehnt. Aber es ist wichtig, dass die SP und die Grünen ihren Standpunkt immer wieder einbringen.
EFTA-Staaten gehen voran
Für die Schweiz und die anderen EFTA-Staaten (Norwegen, Island und Liechtenstein) zeigt sich hier der Vorteil der Nicht-EU-Mitgliedschaft und sicher auch ihrer nicht-kolonialen Vergangenheit. Wie die Kommissionssprecherin im Ständerat anmerkte, ist das TEPA «das erste Abkommen von Indien mit europäischen Partnern. Weder die EU noch Grossbritannien konnten bisher ihre Verhandlungen mit Indien abschliessen. Es ist die Schweiz als Mitglied der EFTA, die auf diesem Weg vorangeht.»
Nach einhelliger Meinung von Bundesrat und Parlament sind die ausgehandelten Zollerleichterungen für die Schweizer Exportwirtschaft, die mit dem starken Franken zu kämpfen hat, ein zentraler Punkt: «Der wohl wichtigste Teil des Abkommens ist aus Schweizer Sicht der verbesserte Marktzugang im Warenverkehr für knapp 95 Prozent der Produkte. Für fast 85 Prozent der Produkte werden nach Ablauf der Frist sämtliche Zölle wegfallen. Heute belaufen sich die Zölle mehrheitlich auf etwa 20 Prozent.» (Tiana-Angelina Moser)
Im Gegenzug hat die Schweiz bereits vor einigen Jahren Indien den zollfreien Marktzugang für alle Industrieprodukte zugesichert, was im neuen Abkommen bestätigt wird. In der Landwirtschaft sind kaum widersprüchliche Interessen zu erwarten, da Indien und die EFTA-Staaten sehr verschiedenartige landwirtschaftliche Erzeugnisse produzieren. •
1 https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20240075
2 https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=67665
3 Bundesrat. «Beziehungen Schweiz–UK nach dem Brexit». https://www.eda.admin.ch/europa/de/home/zwischenstaatliche-beziehungen/bilaterale-laenderbeziehungen/efta-uk/vereinigtes-koenigreich/brexit.html
4 Bundesrat legt unveränderte Drittstaatenkontingente für 2025 fest. Medienmitteilung vom 27.11.2024
5 https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=67666
Ständerat sagt Nein zur Streichung der UNRWA-Beiträge
mw. Es war die positive Überraschung in der Frühjahrssession des Schweizer Parlaments: Der Ständerat sagte mit 25 zu 19 Stimmen nein zur unsäglichen Motion aus dem Nationalrat, welche die Beiträge an das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ab sofort streichen wollte. Damit ist der Vorstoss vom Tisch.
Besonders erfreulich: Gegen die Motion der SVP, das heisst für das humanitäre Engagement und die internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz, gab es Stimmen aus allen anderen Parteien. Neben der SP, den Grünen und Grünliberalen fielen vor allem die vielen Mitglieder der Mitte-Partei auf (9 von 14 – die Mitte ist im Ständerat mit Abstand die stärkste Fraktion). Aber auch drei Ständeräte der FDP stimmten nein. Die teilweise eindrücklichen Stellungnahmen geben Hoffnung, dass für die humanitäre Schweiz doch noch nicht Hopfen und Malz verloren sind.
Auszüge aus zwei Voten sollen hier herausgegriffen werden.
Franziska Roth (SP, SO): «Der Zahlungsstopp hätte in mehrerer Hinsicht dramatische Folgen – für die Menschen vor Ort, aber auch für die Schweiz. Für die Menschen vor Ort bedeutet er Hunger, keine oder geringe medizinische Versorgung und Tod. Und für die Schweiz? Bedeutet er für uns nicht, in Trumps Stiefel zu schlüpfen und somit einen folgenreichen Schritt zur Destabilisierung der Welt zu machen? Ich finde schon. Menschenrecht, Völkerrecht, humanitäre Hilfe – diese drei Begriffe sind meines Erachtens schweizerischer als Eiger, Mönch und Jungfrau. Gerade auch, weil wir als Willensnation Menschenrecht, Völkerrecht und humanitäre Hilfe immer wieder bekräftigten und selber mitgestalten konnten, konnten wir ihnen so unsere schweizerische DNA einverleiben.»
Colonna-Bericht: Keine Beteiligung
der UNRWA an Hamas-Angriffen
Was die Respektierung des Rechts betrifft, greift Ständerätin Isabelle Chassot den Colonna-Bericht auf, der die angebliche Beteiligung der UNRWA am Hamas-Angriff vom 7.10.2023 klar als nicht belegt aufgedeckt hat. Mit Recht stört sie sich daran, dass einige Ratskollegen dieses Ergebnis übergehen und hartnäckig behaupten, die UNRWA sei mit der Hamas verbandelt. Bei manchen Parlamentariern ist die rechtsstaatliche DNA offenbar nicht ganz verankert.
Isabelle Chassot (Mitte, FR): «Die UNRWA als eine Organisation zu betrachten, die möglicherweise mit dem Terrorismus in Verbindung steht […], bedeutet, die eingehenden Untersuchungen zu ignorieren, die die Uno nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 durchgeführt hat, insbesondere die Untersuchungen, die der ehemaligen französischen Aussenministerin Colonna anvertraut wurden und die sich auf 12 – später 19 – von 13 000 Beschäftigten bezogen. Die Schlussfolgerungen dieses Berichts sind eindeutig, was die Nichtbeteiligung der UN-Organisation angeht. Ich lade Sie ein, diesen verfügbaren Bericht zu lesen.» (Original Französisch, Übersetzung Zeit-Fragen)
UNRWA ist unverzichtbar
Auch die beharrlich wiederholte Behauptung, andere Organisationen könnten die Aufgaben der UNWRA übernehmen, stellt Isabelle Chassot richtig. Die Anhörungen, welche die Aussenpolitische Kommission des Ständerates APK-S durchgeführt hat, hätten «keine glaubwürdige kurzfristige Alternative für die humanitäre Hilfe und die Bildungsarbeit aufgezeigt, welche die UNRWA für Millionen von Menschen im gesamten Nahen Osten leistet, von denen 75 Prozent Frauen und Kinder sind.» Vielmehr sei die UNRWA «die einzige Organisation, die in der Lage ist, die Leistung humanitärer Hilfe, die Betreibung von Krankenstationen und Krankenhäusern sowie die Schulbildung der Kinder zu gewährleisten. […] Derzeit erfordert die katastrophale Gesundheits- und Ernährungslage, von der 2 Millionen Menschen im Gaza-Streifen betroffen sind – diese Menschen befinden sich im Überlebensmodus –, dringende Hilfe, die nur die UNRWA leisten kann. […] In dieser Situation geht es nicht um die UNRWA, die Hamas oder Israel, sondern um den Schutz der Bevölkerung im Rahmen der Genfer Konventionen. Wenn das Parlament die Motion ablehnt, wird es auf der Seite der Achtung des Humanitären Völkerrechts stehen, indem es die sehr schwer geprüfte Bevölkerung schützt und ihr den Zugang zu humanitärer Hilfe sichert.»
Uns auf die Stärken
der Schweiz besinnen
Ständerätin Isabelle Chassot fügt hinzu: «Die einzige politische Antwort, die wir geben können, besteht darin, uns auf das zu besinnen, was die Stärke der Schweiz ausmachte und ausmacht: die Stärke des Rechts und nicht das Recht der Macht. Als Sitz der Vereinten Nationen und als Depositarstaat der Genfer Konventionen hat sich die Schweiz immer für die Achtung des Völkerrechts, insbesondere des Humanitären Völkerrechts, eingesetzt.»
Gut, dass die Kleine Kammer des eidgenössischen Parlaments wieder einmal ihrem Ruf als «chambre de réflexion» gerecht wurde.
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