von Patrick Lawrence*
zf. Deutschland ist und versteht sich als europäische Führungsmacht. Von Deutschland wird es auch massgeblich abhängen, was aus Europa wird und ob wieder Frieden einkehren kann. Im Herbst 2024 hat der US-Amerikaner Patrick Lawrence das Land bereist und Gespräche mit Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern geführt, aber auch mit Menschen, die das Lagerdenken beiseite gelegt haben. Das Ergebnis sind vier Artikel, die Patrick Lawrence in der Hauptsache für die US-amerikanische Öffentlichkeit verfasst hat. Wir halten diese unbelastete «Aussensicht» allerdings für so wertvoll, dass wir sie auch für unsere Leser dokumentieren möchten.
pl. Dies ist der erste von vier Berichten über die Krisen, die Deutschland derzeit heimsuchen – was sie sind, die Geschichte, die sie hervorgebracht hat, und wie die Deutschen darüber nachdenken, wie sie ihren Weg wieder finden können.
Ein Sieg, der keiner war
Von den vielen Dingen, die gesagt wurden – aufschlussreiche Dinge, weise Dinge, einige törichte Dinge –, als die Ergebnisse der Bundestagswahl am Sonntagabend, dem 23. Februar, eintrafen, – war für mich der Ausruf des neuen Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland am bemerkenswertesten: «Wir haben gewonnen», erklärte Friedrich Merz vor seinen Anhängern in Berlin, als die Umfragen, die sich als richtig erwiesen, der konservativen Christlich Demokratischen Union den grössten Stimmenanteil bescheinigten.
Merz gehört zu den politischen Persönlichkeiten, die gerne reden, bevor sie denken, und niemand scheint diesen Ausbruch als etwas anderes als die Äusserung eines überschwenglichen Siegers in der Wahlnacht aufgefasst zu haben. Ich habe es anders gehört. Für mich verrieten Merz’ vier Worte eine Nation in der Krise: ihre Politik und Wirtschaft im Chaos, ihre visionslose Führung, ihr allgegenwärtiges Unbehagen, die sich vertiefenden Brüche unter den 83 Millionen Menschen in Deutschland – Deutschlands Unfähigkeit, sozusagen, mit sich selbst zu reden oder auch nur zu verstehen, was es bedeutet, zu sagen: «Wir haben gewonnen.»
Mit «wir» meint der unbedarfte Merz die CDU, die er führt, und ihren langjährigen Partner, die Christlich-Soziale Union. Aber wie eng ist diese Vorstellung vom Sieg für jemanden, der vorgibt, nicht nur ein nationaler Führer, sondern ein Führer Europas zu sein? Die CDU/CSU hat nicht ganz 29 % der Stimmen erhalten, gerade genug, um eine neue Regierungskoalition zu bilden. Damit bleiben 71% der deutschen Wähler, die nichts gewonnen haben.
Mit Aufrüstung und
Feindseligkeit in die Zukunft?
Das «Wir» des nächsten Bundeskanzlers, um gleich auf die grössere Bedeutung der deutschen Wahlen zu sprechen zu kommen, sollte uns alle im Westen, nicht nur in Deutschland, alarmieren, wenn man bedenkt, wohin Merz und seine Koalitionspartner die Bundesrepublik zu führen beabsichtigen. Sie haben ihre radikalen Absichten schon vor Merz’ offiziellem Amtsantritt deutlich gemacht. Sie wollen die fortschrittlichste soziale Demokratie in Europa zugunsten einer raschen, radikalen Aufrüstung – die angesichts der deutschen Geschichte an sich schon schockierend ist – und einer Rückkehr zu den stets gefährlichen Feindseligkeiten des Kalten Krieges demontieren. Die Geschwindigkeit dieser Wende scheint alle zu überraschen: Am Montag, dem 1. April, begann die Bundeswehr mit der Stationierung einer Panzerbrigade in Litauen, dem ersten langfristigen Einsatz deutscher Truppen im europäischehn Ausland seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die soziale Tradition Deutschlands
Die Geschichte, auf die ich mich in dieser Serie immer wieder berufe, spukt in diesem Augenblick des Wandels wie ein Gespenst herum. Es gibt viele, die in der Nachkriegsrepublik das Versprechen sahen, dass die transatlantische Welt eine neue Richtung einschlagen könnte, dass der Westen – ich werde mich hier kurz fassen – eine humanistischere oder humanisierte Form der Demokratie kultivieren könnte. In den 1950er und sechziger Jahren entwickelte Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister unter Konrad Adenauer und später selbst Bundeskanzler, die soziale Marktwirtschaft, ein Modell, das in erheblichem Gegensatz zum Fundamentalismus der freien Marktwirtschaft stand, den die Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt der Welt aufzwangen. Die soziale Marktwirtschaft machte die Gewerkschaften stark und verschaffte den Arbeitnehmern unter anderem Sitze in den Aufsichtsräten der Unternehmen. So wurde der Gedanke geweckt, dass die soziale Tradition Europas endlich die Exzesse des Kapitalismus zügeln könnte.
In den 1960er Jahren entwickelte Willy Brandt, der sozialdemokratische Aussenminister und spätere Bundeskanzler, seine berühmte Ostpolitik, eine Politik der Öffnung der Bundesrepublik gegenüber ihren Nachbarn im Ostblock und der Sowjetunion. Dies war nicht nur eine Absage an die binäre DenkweiseWashingtons im Kalten Krieg, sondern vor allem eine entschiedene Antwort auf die antirussische Stimmung, die die deutsche Geschichte ein Jahrhundert lang geprägt hat.
Wenn man diese Geschichte kennt, dann erkennt man in den Wahlen im Februar eine Niederlage von beträchtlichem Ausmass, die mehr als die noch vor kurzem mächtigste Nation Europas betrifft. Friedrich Merz und seine Koalitionspartner – zu denen auch eine sozialdemokratische Partei gehören wird, die sich feige von der Tradition verabschiedet hat, die sie einst vertrat – haben mehr, viel mehr als die Vergangenheit der Bundesrepublik aufgegeben. Wer die Hoffnung hegte, dass Europa als Vorbild für eine geordnetere Welt dienen könnte, ist nun dieser Hoffnung beraubt und hat einen Grund weniger, darauf zu hoffen, dass der umherirrende Westen einen Weg aus dem Kreislauf des Niedergangs findet, in den er geraten ist.
Verzweiflungsakt
Merz ist ein Mann der Widersprüche, was ihn freilich weder in Deutschland noch irgendwo sonst im Westen unter den Politikern der Mitte hervorhebt. Er wird nun als der hoffnungslos widersprüchliche Führer des deutschen Volkes ausgezeichnet werden. Seine dringlichste innenpolitische Aufgabe ist die Wiederbelebung einer Wirtschaft, die die neoliberale Koalition unter der Führung seines glücklosen Vorgängers Olaf Scholz fast in den Ruin getrieben hat. Halten Sie sich fest, während sich dieses Desaster anbahnt.
Merz ist ein vehementer Russophober – er ist in dieser Hinsicht so heftig wie kein anderer Politiker der Nachkriegszeit, wie mir gesagt wurde – und er ist fest entschlossen, Deutschlands Unterstützung für den Krieg in der Ukraine zu eskalieren. Die deutsche Wirtschaft kann jedoch nur dann wieder zum Leben erweckt werden, wenn Deutschland entschlossen ist, seine enge, ganz natürliche Verflechtung mit Russland wiederherzustellen, vor allem, aber nicht nur im Energiebereich. Der Rückgriff auf den Aufbau einer Billionen-Euro-Kriegsmaschinerie ist ein unfassbarer politischer Verzweiflungsakt: Inwieweit er als Konjunkturprogramm «erfolgreich» ist, wird sich daran messen lassen, in welchem Ausmass er die deutsche soziale Demokratie zerstört und – nicht zu vergessen – die Regierung mit enormen Schulden belastet. Was die Torheit des von den USA inspirierten Stellvertreterkriegs in der Ukraine betrifft, so wird jede Verpflichtung der neuen Regierung zur weiteren Unterstützung des korrupten, nazifizierten Regimes in Kiew – finanzielle Unterstützung, militärische Unterstützung, politische Unterstützung, diplomatische Unterstützung – einen grösseren Teil der deutschen Bürger in die Opposition treiben.
Deutschlands Dilemma ist das gleiche wie das des Westens, nur in grösserem Ausmass: Es muss sich ändern, es muss eine neue Richtung finden – seine Wähler fordern dies –, aber Deutschland kann sich in seiner derzeitigen Führungsstruktur nicht ändern. Deutschland ist unter den westlichen Mächten wohl insofern einzigartig, weil das Treten auf der Stelle – das unaufhörliche Hin und Her der Zentristen, wenn ich Metaphern mischen darf – keine praktikable Ausflucht mehr ist. Die Nation hat einfach keine Zeit dafür, wenn sie eine immer schneller werdende Abwärtsspirale vermeiden will.
Wählerwanderung
Eine bemerkenswerte Zahl deutscher Wähler wechselte im Februar von einer Partei zur anderen – Wählerwanderung nennt man dieses Phänomen –, was auf den ersten Blick wie ein perverses Himmelfahrtskommando aussieht. Die meisten Wähler, die den Sozialdemokraten den Rücken kehrten – und das waren sehr viele, wie der Einbruch der SPD-Zustimmung zeigt – gingen entweder zur CDU/CSU (letztere ist im konservativen und katholischen Bayern verwurzelt) oder – ob Sie es glauben oder nicht – zur Alternative für Deutschland, dem populistischen, rechten Gegenspieler der lange regierenden Sozialdemokraten.
Noch merkwürdiger wird es nach einer Analyse,1 die der Wahlabend-Kommentator Florian Rötzer zitiert. «Viele aus der CDU/CSU sind zwar zur AfD gewechselt», so Rötzer nach der Auszählung, «aber merkwürdigerweise auch zu Die Linke und zum BSW. Die Linke hat massiv zugelegt, aber ehemalige [Die Linke]-Wähler sind zu einem geringeren Teil zur AfD und zu einem grösseren Teil zum BSW gewechselt.» Die Grünen – neben den Sozialdemokraten die grossen Verlierer des 23. Februar – gaben ihre Wähler an Die Linke ab, was durchaus vorhersehbar war, aber auch an die AfD.
Ich sehe nicht, dass dieses unlesbare Muster als etwas anderes als eine gemeinsame Verzweiflung gedeutet werden kann. Und nun sehen Sie: Die Koalition, die Merz im Begriff ist, mit den Sozialdemokraten zu bilden, verrät eine scheinbar absurde Gleichgültigkeit gegenüber dem, was die deutschen Wähler gerade gesagt haben. Meines Erachtens ist sie jedoch besser als ein Zeichen der Angst der deutschen Regierungseliten zu verstehen. Die SPD ist auf den dritten Platz in der deutschen politischen Konstellation gefallen, mit 30 Sitzen weniger im Bundestag als die AfD. Aber letztere, jetzt Deutschlands zweitstärkste Partei, wird durch die antidemokratische «Brandmauer», die Deutschlands neoliberale Zentristen nicht zu entfernen scheinen, von der Regierung ferngehalten werden.
Netto betrachtet: Die Regierung, die im letzten Herbst zusammenbrach, eine nominell linke Koalition neoliberaler Parteien unter Führung der Sozialdemokraten, wird nun von einer Koalition neoliberaler Parteien unter Führung der Christdemokraten der rechten Mitte abgelöst, die mit ziemlicher Sicherheit die Sozialdemokraten einschliessen wird. Dies wird eine direkte Reproduktion des äusserst unpopulären Bündnisses sein, das bis 2021 regierte. Hier gleicht ein Ei dem anderen.
Lange vor den Wahlen im Februar, als bereits klar war, dass eine unfähige neoliberale Führung die Wirtschaft aus purer ideologischer Inbrunst rücksichtslos geschädigt hatte, bezeichneten Kommentatoren verschiedener Couleur die Bundesrepublik als den kranken Mann Europas. Wir brauchen jetzt mehr als dieses abgedroschene Klischee: Es ist sinnvoller, Deutschland als den verlorenen Mann Europas zu bezeichnen.
Hier ist Patrik Baab, ein prominenter deutscher Journalist und Autor – und ein Mann von erwiesener Integrität in seinen Urteilen, möchte ich hinzufügen – in der Wahlnacht:
«Die Deutschen haben heute Abend nicht die Stagnation gewählt, sondern den Niedergang. Ein Volk führt sich selbst zu seinem eigenen Untergang. Das werden wir jetzt auch bekommen. Die Kriegspolitik der europäischen Eliten soll fortgesetzt werden. Der wirtschaftliche Niedergang wird sich fortsetzen, denn billige Energie und damit ein gutes Verhältnis zu Russland sind notwendig, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Daran wird sich auch im Moment nichts ändern …»
Ich möchte Patriks knapper Einschätzung nur hinzufügen, dass ich, wie sehr die Deutschen auch auf ihren Untergang zusteuern, die unverrückbaren neoliberalen Zentristen der Nation an der Spitze der Kolonne sehe.
Soziales und demokratisches Ethos
Das Nachkriegsdeutschland war wohl – und ich würde dieses Argument ohne zu zögern vorbringen – der Inbegriff von Europas tiefem Bekenntnis zu einem sozialen und demokratischen Ethos, das im deutschen Fall von der Christlichen Soziallehre geprägt ist und seine Wurzeln im Gärungsprozess der kontinentalen Politik des 19. Jahrhunderts hat. Frankreich und Deutschland waren, wenn auch auf unterschiedliche Weise, der deutlichste Ausdruck der Distanz, die die Europäer zum angloamerikanischen Liberalismus, dem Neoliberalismus, wie wir ihn nennen, einnahmen. Der Platz des Individuums war diesseits und jenseits des Ärmelkanals unterschiedlich. Die Freiheit wurde durch das Gemeinwesen erreicht, nicht durch die Freiheit von ihm. Dem Kapitalverkehr wurden Grenzen gesetzt. Die politische Ökonomie der Europäer war alles in allem humaner.
Nun zeigt Deutschland, dass der Kontinent seine ehrenwerten sozialen und demokratischen Traditionen aufgegeben hat und mit dem Eifer eines Konvertiten den Neoliberalismus annimmt, mit dem die Anglosphäre die westliche Welt belastet hat. Wann, warum und wie hat die neoliberale Ideologie den Ärmelkanal – oder, was wahrscheinlicher ist, den Atlantik – überquert? Ich bin kein Wirtschaftshistoriker, aber ich erinnere mich, diese ideologische Migration im ersten Jahrzehnt nach dem Kalten Krieg festgestellt zu haben, als der amerikanische Triumphalismus in vollem Gange war. Die Finanzkrisen unseres Jahrhunderts haben natürlich den Platz der neoliberalen Eliten des Kontinents gefestigt – jener, die wir Austerianer nennen, wenn wir ihre Ideologie in Politik umsetzen.
Dank enger Freunde und Kollegen konnte ich in den Monaten vor den Wahlen im Februar einige Zeit in Deutschland verbringen. Ich habe tausend Fragen an Menschen gestellt, von deren Erkenntnissen ich sehr profitiert habe. Und die Frage, die sich mir so eindringlich aufdrängte, war: Wie konnte es dazu kommen, dass Deutschland sich so weit von dem entfernt hat, was es einmal war?
Ich werde diese Frage in den folgenden Berichten hartnäckig beleuchten. •
1 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/analyse-wanderung.shtml
Erstveröffentlichunghttps://scheerpost.com vom 6.4.2025
(Übersetzung Zeit-Fragen)
Patrick Lawrence kann aus dem Fundus seiner über dreissigjährigen Erfahrungen als Kolumnist und Korrespondent schöpfen, bei denen er die US-amerikanische Medienlandschaft von innen her wie kaum ein anderer kennenlernte. Er beschreibt in seinem neuen Buch, wie die grossen Medien Unabhängigkeit, Integrität und Glaubwürdigkeit verloren haben, zeichnet ihren Verfall während der Jahrzehnte des Kalten Krieges nach und berichtet über die (wenigen) Augenblicke ihres Glanzes, der nach 2001 einem rapiden Vertrauensverlust beim lesenden Publikum wich.
Im Kern des Buches beschäftigt sich der Autor mit der Gespaltenheit jedes einzelnen Journalisten, der gleichzeitig von der Notwendigkeit getrieben ist, ideologisch konforme Standards zu erfüllen, und sich unterschwellig bemüht, den wahren Begebenheiten, die in der Arbeit verschleiert werden müssen, gerecht zu werden. Letzteres nennt Lawrence – nach Carl Gustav Jung – den Schatten des Journalisten.
In den vergangenen Jahren eröffneten digitale Medien neue Möglichkeiten, unabhängig von den Einflüssen grosser Konzerne zu recherchieren und zu publizieren. Als dynamischster Sektor des Berufsstandes stellen sie ein Versprechen für eine bessere Zukunft dar, in die Lawrence grosse Hoffnung setzt.
«Das beste Buch über Journalismus, das ich in den letzten 20 Jahren gelesen habe. Unkorrumpiert von seiner erfolgreichen Karriere als Auslandskorrespondent in wichtigen Mainstreammedien, analysiert Patrick Lawrence die Untiefen des real existierenden Journalismus mit dem Wahrheitswillen eines welterfahrenen, gebildeten Amerikaners. Seine Ausführungen sind international gültig. Sein brillanter Schreibstil, das Ergebnis einer jahrzehntelangen Meisterschaft im Metier, macht die Lektüre zu einem erhellenden Vergnügen. Must read!» (Dirk Pohlmann, Chefredakteur Free21).
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