Die westliche Strategie der Eskalation bedroht die Menschheit

von Karl-Jürgen Müller

Die Hoffnung, dass mit der Ablösung der Biden-Regierung die Chancen auf Frieden in Europa gewachsen sind, steht auf sehr dünnem Eis. Die Kriegsbesessenheit europäischer Machteliten ist ungebrochen. Die europäische Öffentlichkeit wird mit einer unerbittlichen Propagandawelle überschwemmt. Auch die neue US-Regierung sendet widersprüchliche Signale aus und ist keineswegs konsequent dabei, den Konfrontationskurs zu korrigieren.
    Am 29. März 2025 veröffentlichte die «New York Times» einen sehr langen Artikel über die Beteiligung verschiedener Nato-Staaten am Ukraine-Krieg, allen voran der USA.1 Bei der Lektüre des Artikels muss man sich wappnen; denn er zeigt nicht nur, wie der Krieg in der Ukraine von einem US-Stützpunkt in Wiesbaden mit immer mehr und immer zerstörerischen Waffen dirigiert und eskaliert wurde. Der Text ist auch ein militaristisches Propagandastück der besonderen Art. Der Autor zeigt sich als Bewunderer US-amerikanischer Kriegs-«Hilfe» – vor allem dann, wenn Russland grosse Opfer beklagen musste und den US-Dirigenten ein Coup gelungen war. Dass die militärische Lage für die Ukraine mittlerweile so prekär ist, liege, so legt der Artikel nahe, nicht an den US-amerikanischen Dirigenten, sondern vor allem an der Nichtbeachtung US-amerikanischer «Empfehlungen» … und zu wenig US-amerikanischen Waffen. Die Botschaft des Artikels ist eindeutig: Der Krieg muss weitergehen!2
    Dass die europäische «Koalition der Willigen» mit ihrer Wahnvorstellung von einer «russischen Bedrohung»3 ihre Kriegsanstrengungen potenzieren und Billionen in die Rüstung stecken will, wirft die Frage auf: Setzen die europäischen Kriegskräfte nicht doch weiter auf die Kriegskräfte jenseits des Atlantiks – auch wenn diese Koalition augenblicklich die Propagandaformel benutzt, Europa sei künftig auf sich allein gestellt und müsse enorme Anstrengungen unternehmen, um gegen den «Aggressor» Russland «kriegstüchtig» zu werden? Geht es nicht in Tat und Wahrheit lediglich um mehr Arbeitsteilung? Die Europäer sollen die «Feinde» in Europa «abschrecken» (Neusprech für besiegen), die US-Amerikaner in anderen Regionen der Welt: Westasien, Südostasien, Arktis.

Eskalation brachte Welt im Kalten Krieg
an den Rand atomarer Katastrophe

Kaum einer erinnert sich noch daran, dass die westliche Strategie der Eskalation zur Niederringung des «Feindes» schon zweimal im Kalten Krieg gescheitert ist und dass das Narrativ vom kampflosen «Sieg» im Kalten Krieg durch eine «Politik der Stärke» höchst fragwürdig – und sehr gefährlich – ist.
    Vielen noch bekannt ist die Kuba-Krise im Jahr 1962. Nicht zuletzt mit der Aufstellung von Atomraketen in der Türkei, einem Nachbarland der Sowjetunion, hatte die US-Regierung die Aufstellung sowjetischer Atomraketen auf Kuba provoziert. Im Oktober 1962 setzte die US-Regierung zuerst auf Eskalation. Damals entkam die Menschheit nur um Haaresbreite einem Atomkrieg: «It was luck that prevented nuclear war!» (so der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara) Die damalige Schlussfolgerung der Hauptverantwortlichen in den USA und in der Sowjetunion, John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, war: Im Zeitalter atomarer Bewaffnung ist die Strategie der Eskalation eine menschheitsbedrohende Sackgasse – Entspannung und friedliche Koexistenz trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme ist keine Appeasement-Politik (so der propagandistische Vorwurf mit Rückgriff auf die Mainstream-Beurteilung des «Münchner Abkommens» vom September 1938), sondern ein Überlebensgebot.

Erneute Eskalation
Ende siebziger, Anfang achtziger Jahre

Nahezu unbekannt ist, dass sich ein Szenario wie 1962 Anfang der achtziger Jahre wiederholte und auch dieses Mal eine atomare Katastrophe nur um Haaresbreite verhindert werden konnte. Und dass danach erneut ein Umdenken in Ost und West einsetzte: Michail Gorbatschow und die Verträge mit der US-Regierung von Ronald Reagan in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zeugen davon.
    Was war geschehen? Die Lehren aus den frühen sechziger Jahren erschienen der US-Politik Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre nicht mehr opportun. Seit Ende der siebziger Jahre wollte die US-Regierung – unter massgeblicher Beteiligung ihres Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski – die europäische, vor allem die deutsche Ost- und Entspannungspolitik torpedieren. Die Sowjetunion sollte in eine Falle (Afghanistan) gelockt werden. Nicht nur, um der Sowjetunion «ihr Vietnam» zu bereiten, sondern auch, um im Westen wieder eine Stimmung des Kalten Krieges zu schaffen. Aber eben nicht mehr nur, um den Status quo der Machtverhältnisse zu sichern. Sondern mit dem Ziel, einzige Weltmacht zu werden. Denn man glaubte nun – vor allem dank der Überlegenheit in der Wirtschaftsentwicklung sowie in der Waffen- und Informationstechnologie –, den Kalten Krieg trotz der sowjetischen Atombewaffnung gewinnen zu können. Die 2013 ausgestrahlte Fernseh-Dokumentation von Dirk Pohlmann «Täuschung – Die Methode Reagan» belegt dies eindrucksvoll.4

1983 und «Able Archer»

1983 war der Höhepunkt der Eskalation. Die Vorgänge im Jahr 1983 waren 2015 sogar historischer Hintergrund für eine mehrteilige Fernsehfilm-Serie: «Deutschland 1983».5
    Am 8. März 1983 betitelte US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion als «Reich des Bösen». Am 23. März verkündete er den Beginn des Raketenabwehrprogramms SDI, das von der Sowjetunion als Versuch angesehen wurde, das Rüstungsgleichgewicht auszuhebeln. Im Juni warnte der Generalsekretär des ZK der KPdSU Andropow den US-Botschafter Harriman, dass die USA und die Sowjetunion «sich auf eine rote Linie zubewegten» – eine Fehlkalkulation könne einen Atomkrieg auslösen. Schon lange fürchtete die Sowjetunion einen US-amerikanischen atomaren Erstschlag. Am 1. September wurde eine südkoreanische Passagiermaschine durch sowjetische Kampfflugzeuge abgeschossen, nachdem das südkoreanische Flugzeug von seiner eigentlichen Flugroute abgewichen und in den sowjetischen Luftraum eingedrungen war. Vom 19. bis 30. September führte die Nato ihr jährliches Grossmanöver Reforger mit 65000 Soldaten durch. Am 26. September meldete das sowjetische Kontrollzentrum 90 Kilometer südlich von Moskau den vermeintlichen Start einer US-Atomrakete Richtung Sowjetunion. Nur einem besonnenen Offizier, Oberst Petrow, war es zu verdanken, dass der Automatismus des Gegenschlags verhindert wurde. Ende Oktober und nach gescheiterten Verhandlungen mit der Sowjetunion entschied die Nato, die im Nato-Doppelbeschluss von 1979 angedrohte Stationierung atomarer Mittelstreckenwaffen im Frontstaat Deutschland ab Dezember 1983 in die Tat umzusetzen – wodurch sich die Vorwarnzeit für die Sowjetunion erheblich verringerte.
    Am 7. November begann die Nato im geheimen mit einer echt wirkenden Simulation eines westlichen Atomschlags gegen die Sowjetunion: «Able Archer» – eine Kommandoübung, die erst fünf Jahre später öffentlich bekannt wurde. Schon vor der Übung hatten allerdings Agenten des Warschauer Paktes, die seit 1981 vermehrt in die Nato eingeschleust worden waren, von der Übung erfahren und mit ihren Meldungen Alarm in der Sowjetunion ausgelöst. Dort ging man davon aus, «Able Archer» sei gar keine Übung, sondern der Auftakt zum befürchteten westlichen atomaren Erstschlag. Die Konsequenz: Sowjetische Atomstreitkräfte wurden in Alarm versetzt und bereiteten den atomaren Präventivschlag vor. Jahre später erklärte ein ehemaliger DDR-Agent in der Nato-Zentrale, Rainer Rupp (mit dem Decknamen Topas), er habe durch entschiedene Mitteilungen an seine Führung die Katastrophe gerade noch einmal verhindern können: Es handle sich bei «Able Archer» tatsächlich nur um eine Übung, ein atomarer Erstschlag der Nato auf die Sowjetunion sei nicht geplant.

Europa wieder am Scheideweg

1983 war all dies der Öffentlichkeit nicht bekannt. Sucht man nach deutschsprachigen Artikeln über «Able Archer», so findet man sie vor allem im Jahr 2013, 40 Jahre später.6 Aber 2023, 50 Jahre später und nun schon mitten im Ukraine-Krieg, sprach kaum noch jemand davon. Im englischsprachigen Raum war «Able Archer» schon vorher Thema, vor allem wegen der Offenlegung bislang geheimer US-Akten. Am ausführlichsten ausgewertet wurden diese Akten in dem 2016 erschienenen Buch von Nate Jones, «Able Archer83. The Secret History of the NATO Exercise That Almost Triggered Nuclear War».
    Europa steht heute wieder am Scheideweg. Die europäische «Koalition der Willigen», die ein «kriegstüchtiges», hoch gerüstetes Europa anstrebt und dies mit einer wahnhaften Bedrohungsanalyse zu rechtfertigen versucht, will Russland «besiegen» – «ruinieren», sagte Annalena Baerbock, eine auf Dauer schwächende «strategische Niederlage» bereiten, sagten US- und Nato-Verantwortliche. Der erwähnte Artikel in der «New York Times» vom 29. März zeigt, was dies ganz konkret bedeutet hat und dass dies nicht ausgestanden ist – wie schon mehrmals auch im Kalten Krieg. Die Jahre 1962 und 1983 haben gezeigt, wo das hinführen kann.
    Verständigung und Frieden mit Russland sind keine Appeasement-Politik. Verständigung und Frieden wären nicht nur möglich – sie sind ein Überlebensgebot. 1983 waren sich Millionen von Menschen in Europa der Atomkriegsgefahr bewusst. Die Doomsday-Uhr stand auf 3 Minuten vor Mitternacht (Mitternacht = Atomkrieg). Es war ein grosses Jahr der europäischen, der deutschen Friedensbewegung. Heute steht die Doomsday-Uhr auf 89 Sekunden vor Mitternacht. Am 1.August 1975, vor nun fast 50 Jahren und mitten im Kalten Krieg, unterzeichneten alle europäischen Staaten (ausser Albanien), die Sowjetunion, die USA, Kanada und die Türkei in Helsinki nach zweijährigen Verhandlungen die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Verständigung ist möglich, wenn auf allen Seiten der politische Wille besteht. Übrigens: Damals spielte die neutrale Schweiz eine wichtige Rolle.7 Auf wen und was kann die Menschheit heute hoffen?



https://www.nytimes.com/interactive/2025/03/29/world/europe/us-ukraine-military-war-wiesbaden.html ; in mehreren Teilen hat der Anti-Spiegel (www.anti-spiegel.ru ) den Text ins Deutsche übersetzt
2 Der Artikel in der «New York Times» endet mit den Worten: «[US-Verteidigungsminister] Austin, sonst ein harter, stoischer Mann, wirkte für einen Moment bewegt. Als er auf die Worte des Dankes [der ukrainischen Generäle] erwiderte, stockte ihm kurz die Stimme: ‹Anstatt mich zu verabschieden, möchte ich einfach danke sagen.› Er blinzelte Tränen weg und fügte hinzu: ‹Ich wünsche Ihnen allen Erfolg, Mut und Entschlossenheit. Meine Damen und Herren – machen Sie weiter.›»
3 In Deutschland findet schon seit Wochen eine Art «Mobilmachung» der gesamten Bevölkerung statt. Der Konstanzer «Südkurier» zum Beispiel titelte am 5. April: «Das Land bereitet sich auf Ernstfall vor».
https://www.youtube.com/watch?v=cCOiIylP1kI 
https://www.deutschlandfunk.de/tv-serie-deutschland-83-auf-rtl-100.html  vom 26.11.2025. Die Filmserie ist über das Internet sowie DVDs nach wie vor einsehbar (siehe Bild).
6 zum Beispiel: «Kalter Krieg – Als die Nato den Atomkrieg übte und es zur Beinahe-Katastrophe kam». In: tagblatt.ch vom 2.11.2013; «Kalter Krieg: Nato-Manöver führte 1983 beinahe zum Atomkrieg». In: spiegel.de vom 3.11.2013. Relativierend: «Die Legende von ‹Able Archer›». In: nzz.ch vom 5.11.2013; «Bedrohliche Nato-Übung ‹Able Archer 83›: Entging die Welt im Jahr 1983 nur um Haaresbreite einem Atomkrieg?» In: welt.de vom 24.11.2013
7 vgl.: Rosin, Philip. Die Schweiz im KSZE-Prozess 1972–1983. Einfluss durch Neutralität. München 2014, ISBN 978-3-486-76731-5; kurz: «Als die Schweiz die aktive Aussenpolitik entdeckte». In: Neue Zürcher Zeitung vom 30.7.2015

Europa ohne Pol

von Živadin Jovanović, Belgrad

Europa stagniert. Die alte Hauptstadt [Washington] «läuft davon», die neue [Peking] umgeht sie.
    Anstatt in sozialen und wirtschaftlichen Wohlstand zu investieren, investieren die EU und Deutschland fast 2 Billionen Euro in Kriegsproduktion und Infrastruktur. Anscheinend wollen sie bis 2030 kriegsbereit sein!?
    Mit der Einführung von Bidens vom Deep State inspirierten Sanktionen gegen Russland haben sie sich selbst der sinnvollsten Energieressourcen, strategischen Rohstoffe und Märkte beraubt.
    Ehemalige (Neo-)Kolonien wenden sich von ihnen ab und wenden sich den BRICS+ und ihrem eigenen Pol in der Neuen Weltordnung zu.
    Die USA, ein strategischer Partner, verhängen höhere Zölle auf ihre Autos und andere Waren und verlangen als Garant für ihre Sicherheit einen neuen Nato-Mitgliedsbeitrag (5 % des BIP).
    Mit einer politischen Elite, die ihren Abgang mit Hilfe von Gerichten und Kriegstrommeln hinauszögert, scheint Europa weit von der Realität und seiner Rolle in der Neuen Weltordnung entfernt zu sein.
    Was Serbien bisher nicht freiwillig getan hat, tut die neue Realität bereits – sie verringert die überwältigende wirtschaftliche Abhängigkeit von der EU.

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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