von Eliane Perret
Man würde gerne über andere Themen schreiben, aber leider ist das Thema der nuklearen Aufrüstung nach mehr als 70 Jahren nach wie vor aktuell. Wie in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, ist auch heute die Menschheit durch die Gefahren eines Atomkriegs bedroht. Auch damals fanden die Nuklearwaffen – wenige Jahre nach den Bombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki(!) – eine immer grössere Verbreitung. Einsichtige Menschen waren tief beunruhigt, und sie fürchteten ein damit verbundenes Ende der Menschheit. Zu ihnen gehörte auch Albert Schweitzer.
Viele Zeitgenossen kannten ihn als Arzt, Theologen, Philosophen und Musikwissenschaftler, der sich im äquatorialafrikanischen Gabun mit seinem «Urwaldspital» in Lambaréné um eine bessere Gesundheitsversorgung verdient gemacht hatte. Als menschlich engagierter Forscher hatte er sich jedoch auch eingehend in die politischen, militärtechnischen und wissenschaftlichen Aspekte dieser furchtbaren Waffen vertieft und setzte sich mit den Folgen von Atomwaffentests auseinander.1 Dazu stand er in regem Kontakt mit vielen verantwortungsvollen Forschern wie Albert Einstein, Werner Heisenberg, Otto Hahn und anderen. Für seine engagierte Stellungnahme gegen ein Wettrüsten mit Nuklearwaffen wurde er 1954 mit dem Friedensnobelpreis geehrt (den er im Unterschied zu anderen nachfolgenden Preisträgern tatsächlich verdiente). Anlässlich der Preisverleihung hielt er eine Rede mit dem Titel «Appell an die Menschheit gegen Atomteste und zum Stop der Nuklearwaffen»2. Am 23. April 1957 konnte er über den Sender Radio Oslo einen «Appell an die Menschheit» senden, der weltweit grosse Aufmerksamkeit erhielt und von 140 Radiosendern übernommen wurde. Das war nur wenige Tage, nachdem am 12. April achtzehn deutsche Atomforscher in ihrer Göttinger Erklärung vor der Fortsetzung der Atomwaffenversuche gewarnt hatten. Schweitzers ersten Warnrufen folgten drei weitere: «Appell an die Menschheit», «Friede oder Atomkrieg», «Die Gefahr eines Atomkrieges», «Der Weg des Friedens heute». Sie wurden unter dem Titel «Friede oder Atomkrieg» publiziert.3
Er warnte immer wieder eindringlich vor der «Beruhigungspropaganda», die es unbegreiflicherweise fertigbringe, sich über die furchtbaren Tatsachen des Einsatzes von Atomwaffen hinwegzusetzen. «In einem Atomkrieg gibt es keine Sieger, nur Besiegte. In ihm erleidet jeder von den Bomben und Atomgeschossen seines Gegners, was er diesem antut. Es entsteht dabei eine in Gang bleibende Vernichtung, der kein Waffenstillstand und kein Friedensschluss ein Ende setzen kann»4, schrieb er. Schweitzer trat der 1957 gegründeten amerikanischen Friedensgruppe National Committee for a sane nuclear policy (SANE) bei. Er gehörte 1958 neben Otto Hahn zu den prominentesten Unterzeichnern einer Unterschriftensammlung von 9235 Wissenschaftlern, die vom amerikanischen Forscher Linus Pauling initiert wurde und sich gegen Versuchsexplosionen mit Kernwaffen richtete.
Als das Wettrüsten weiterging, entschloss sich Albert Schweitzer, mittels persönlicher Briefe an das Gewissen John F. Kennedys und Nikita Sergejewitsch Chruschtschows zu appellieren. In seinem zweiten Brief an Kennedy am 23. November 1962 schrieb er: «Ein Atomkrieg ist unmenschlich. Die Hauptwirkung der Explosion der Atombombe, welcher Art sie auch sei, ist unvorstellbare Hitze, in der alles zu brennen anfängt. Als brennende Fackeln sind die Menschen in der Stadt Hiroshima herumgerannt. In einem mit modernen Atomwaffen geführten Krieg werden sie dies gleichzeitig in Hunderten von Städten tun. Wir sind in beiden Weltkriegen in Unmenschlichkeit versunken und nehmen uns vor, in einem kommenden Atomkrieg noch tiefer zu sinken. Das Grausige darf sich nicht erfüllen. Wir müssen aufhören, in geistiger Blindheit dahinzuleben. Es muss kommen, dass wir uns wieder danach sehnen, Menschen und Völker zu sein und der grausigen Macht, zu der wir durch die Fortschritte des Wissens und des Könnens gelangt sind, zu entsagen, um den Weg der Politik der Erhaltung des Friedens zu gehen.»5
Er liess sich auch durch Kritik nicht beirren.6 1963 gratulierte er in einem Brief John F. Kennedy und Nikita Sergejewitsch Chruschtschow für ihren Mut und Weitblick, eine Politik des Friedens einzuleiten – protestierte aber noch im selben Jahr dagegen, dass der Vertrag weiterhin unterirdische Kernwaffentests erlaubte. Er erinnert an die furchtbaren Ereignisse, welche die Menschheit in ihren Kriegen durchgemacht hat. Immer wieder vor der «Beruhigungspropaganda» warnend, mit der Atomwaffen und -kriege verharmlost werden, hält er fest: «Das Bewusstsein, dass wir miteinander Menschen sind, ist uns in Kriegen und Politik abhanden gekommen. Wir kamen dazu, einander nur noch als Angehörige verbündeter und gegnerischer Völker zu verkehren und in den sich daraus ergebenden Ansichten, Vorurteilen, Zuneigungen und Abneigungen gefangen zu bleiben. Nun heisst es wiederzuentdecken, dass wir miteinander Menschen sind und uns zu bemühen haben, uns gegenseitig zuzugestehen, was in dem Wesen Mensch als moralische Fähigkeit vorhanden ist. So können wir uns zu dem Glauben erheben, dass auch in Angehörigen anderer Völker das Bedürfnis eines neuen Geistes wach werden wird, wodurch wir beginnen werden, füreinander wieder glaubwürdig zu sein.»7 Albert Schweitzer liess die Frage, wie die Menschen auf der Welt in Frieden zusammenleben könnten, nicht mehr los und seine Appelle und sein Engagement für den Frieden sind heute aktueller denn je. 1964, an seinem 90. Geburtstag und zehn Jahre, nachdem er den Friedensnobelpreis erhalten hatte, richtete er sich nochmals mit einem eindringlichen Appell an die Welt: «Mein Wort an die Menschen.» •
1 Deshalb bin ich empört über frühere und aktuelle Versuche, das Wirken Albert Schweitzers abzuwerten und seine Persönlichkeit zu demontieren. Für solche meist politisch motivierten, rufschädigenden Kampagnen kann man auch ein müdes Lächeln übrig haben, denn sie zeugen von historischer Ignoranz, Überheblichkeit, Sprachdiktatur und Woke-Ideologien und bauen auf Unwahrheiten auf. Alle Vorwürfe wurden immer wieder zu Recht und entschieden von kompetenter Seite zurückgewiesen. Vgl. u. a. Duboze, Edmond. In: Munz, Walter. (1991). Albert Schweitzer Studien 3, Albert Schweitzer im Gedächtnis der Afrikaner. Bern und Stuttgart: Paul Haupt-Verlag, S. 59–66
2 Schweitzer, Albert. (1984). Friede oder Atomkrieg. München: C.H. Beck
3 ebd.
4 Steffahn, Harald (Hrsg.). (1995). Albert Schweitzer Lesebuch. München: C.H. Beck, S. 377
5 Munz, Jo und Walter. Albert Schweitzers Lambaréné. Zeitzeugen berichten. Zum 100jährigen Jubiläum des Urwaldspitals 1913–2013, S. 136. www.elfundzehn.ch
6 Die «Neue Zürcher Zeitung» schrieb am 10. September 1958 unter dem Titel «Seltsamer Albert Schweitzer»: «Der verehrte Name Albert Schweitzers darf nicht davon abhalten, festzustellen, dass dieses Dokument politisch und philosophisch, militärisch und theologisch wertlos ist. Das Wagnis, das er dem Westen zumutet, ist an sich schon ungeheuerlich. Das Urteil über Amerika und die Sowjetunion anderseits macht es vollends unmöglich, Albert Schweitzers Rat ernsthaft in Erwägung zu ziehen.»
7 Steffahn, Harald (Hrsg.). S. 377
von Albert Schweitzer, 1964
Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab. Denn der Versuch, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen anzunehmen, läuft im Grunde darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen. Dies aber ist ein ganz subjektiver Massstab. Wer von uns weiss denn, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, dass es wertloses Leben gäbe, dessen Vernichtung oder Beeinträchtigung erlaubt sei. Je nach den Umständen werden dann unter wertlosem Leben Insekten oder «primitive» Völker verstanden.
Die unmittelbare Tatsache im Bewusstsein des Menschen lautet: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» Diese allgemeine Bejahung des Lebens ist eine geistige Tat, in der der Mensch aufhört dahinzuleben, in der er vielmehr anfängt, sich seinem Leben mit Ehrfurcht hinzugeben, um ihm seinen wahren Wert zu geben. Der auf diese Weise denkend gewordene Mensch erlebt zugleich die Notwendigkeit, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. So erlebt er das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm alsdann: Leben zu erhalten und zu fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert zu bringen. Als böse gilt ihm nun: Leben schädigen oder vernichten, entwickelbares Leben in der Entwicklung hindern. Dies ist das absolute und denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen. Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben kommen wir in ein geistiges Verhältnis zur Welt.
In meinem Leben habe ich immer versucht, in meinem Denken und Empfinden jugendlich zu bleiben, und habe stets von neuem mit den Tatsachen und meiner Erfahrung um den Glauben an das Gute und Wahre gerungen. In dieser Zeit, in der Gewalttätigkeit sich hinter der Lüge verbirgt und so unheimlich wie noch nie die Welt beherrscht, bleibe ich dennoch davon überzeugt, dass Wahrheit, Friedfertigkeit und Liebe, Sanftmut und Gütigkeit die Gewalt sind, die über aller Gewalt ist. Ihnen wird die Welt gehören, wenn nur genug Menschen die Gedanken der Liebe und der Wahrheit, der Sanftmut und der Friedfertigkeit rein und stetig genug denken und leben. Alle gewöhnliche Gewalt in dieser Welt schafft sich selber eine Grenze, denn sie erzeugt eine Gegengewalt, die ihr früher oder später ebenbürtig oder überlegen sein wird. Die Gütigkeit aber wirkt einfach und stetig. Sie erzeugt keine Spannungen, durch die sie sich selbst aufhebt, sondern sie entspannt die bestehenden Spannungen, sie beseitigt Misstrauen und Missverständnisse.
Indem sie Gütigkeit weckt, verstärkt sie sich selber. Deshalb ist sie die zweckmässigste und intensivste Kraft. Was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinausgibt, das arbeitet an den Herzen der Menschen und an ihrem Denken. Unsere törichte Schuld ist, dass wir nicht ernst zu machen wagen mit der Gütigkeit. Wir wollen immer wieder die grosse Last wälzen, ohne uns dieses Hebels zu bedienen, der unsere Kraft verhundertfachen kann. Eine unermesslich tiefe Wahrheit liegt in dem Worte Jesu «Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen».
Die Ehrfurcht vor dem Leben gebietet uns, den hilfsbedürftigen Völkern in aller Welt Hilfe zu bringen. Den Kampf gegen die Krankheiten, von denen diese Völker bedrängt sind, hat man fast überall zu spät begonnen. Letzten Endes ist alles, was wir den Völkern der früheren Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern es ist unsere Sühne für das Leid, das wir Weissen von dem Tage an über sie gebracht haben, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden. Es muss dahin kommen, dass Weiss und Farbig sich in ethischem Geist begegnen. Dann erst wird eine echte Verständigung möglich sein. An der Schaffung dieses Geistes zu arbeiten, heisst zukunftsreiche Politik treiben.
Wer durch menschliche Hilfe aus schwerer Not oder Krankheit gerettet wurde, der soll mithelfen, dass die, die heute in Not sind, einen Helfer bekommen, wie er einen hatte. Dies ist die Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten. Ihr obliegt das menschliche und das ärztliche Humanitätswerk bei allen Völkern. Aus den Gaben der Dankbarkeit soll dieses Werk getan werden. Ich will glauben, dass sich genug Menschen finden werden, die sich zu Opfern der Dankbarkeit erbitten lassen werden für die, die jetzt in Not sind.
Die Not aber, in der wir bis heute leben, ist die Gefährdung des Friedens. Zurzeit haben wir die Wahl zwischen zwei Risiken. Das eine besteht in der Fortsetzung des unsinnigen Wettrüstens in Atomwaffen und der damit gegebenen Gefahr des Atomkriegs. Das andere im Verzicht auf Atomwaffen und in dem Hoffen, dass Amerika, die Sowjetunion und die mit ihnen in Verbindung stehenden Völker es fertigbringen werden, in Verträglichkeit und Frieden nebeneinander zu leben. Das erste Risiko enthält keine Möglichkeit einer gedeihlichen Zukunft. Das zweite tut es. Wir müssen das zweite wagen.
Die Theorie, man könnte den Frieden dadurch erhalten, dass man den Gegner durch atomare Aufrüstung abschreckt, kann für die heutige Zeit mit ihrer so gesteigerten Kriegsgefahr nicht mehr in Betracht gezogen werden. Das Ziel, auf das von jetzt bis in alle Zukunft der Blick gerichtet bleiben muss, ist, dass völkerentzweiende Fragen nicht mehr durch Kriege entschieden werden können. Die Entscheidung muss friedlich gefunden werden.
Ich bekenne mich zu der Überzeugung, dass wir das Problem des Friedens nur dann lösen werden, wenn wir den Krieg aus einem ethischen Grund verwerfen, nämlich weil er uns der Unmenschlichkeit schuldig werden lässt. Ich habe die Gewissheit, dass der Geist in unserer Zeit ethische Gesinnung zu schaffen vermag. Deshalb verkünde ich diese Wahrheit in der Hoffnung, dass sie nicht als eine Wahrheit beiseitegelegt werde, die sich in Worten gut ausnimmt, für die Wirklichkeit aber nicht in Betracht kommt.
Mögen die, welche die Geschicke der Völker in Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger und gefahrvoller gestalten könnte.
Mögen sie das wunderbare Wort des Apostels Paulus beherzigen: «Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden!» Es gilt nicht nur den einzelnen, sondern auch den Völkern. Mögen sie im Bemühen um die Erhaltung des Friedens miteinander bis an die äusserste Grenze des Möglichen gehen, damit dem Geiste der Menschlichkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben zum Erstarken und zum Wirken Zeit gegeben werde.
Der Text wurde im Jahr 1964
von Dr. Christoph Staewen in Lambaréné/Gabun aufgezeichnet:
http://albert-schweitzer-heute.de/mein-wort-an-die-menschen-albert-schweitzer-1964/
Albert Schweitzer wurde am 14. Januar 1875 in Kaysersberg/Oberelsass als deutscher Staatsbürger geboren. Er studierte Theologie und Philosophie in Strassburg und erlangte in beiden Fachgebieten einen Doktortitel. Er war bereits ein bekannter Organist und Musiktheoretiker, was er später auch zur finanziellen Unterstützung seines Spitals nutzen konnte. 1905 entschloss er sich zu einem Medizinstudium, mit dem Ziel, in Afrika tätig zu werden. Gemeinsam mit seiner Frau Helene verliess er 1913 Europa und begann in Lambaréné (Gabun) mit dem Aufbau eines Spitals. Er leistete damit einen anspruchsvollen und bis heute geschätzten Beitrag zur gesundheitlichen Versorgung der einheimischen Bevölkerung. In dringlichen Appellen wandte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die atomare Aufrüstung. 1954 erhielt er den Friedensnobelpreis. Sein Lebenswerk in Lambaréné setzte er bis zu seinem Tod am 4. September 1965 fort.
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