Den Würgegriff der «Schock-Strategie» abwerfen: «Der Ausverkauf Europas muss gestoppt werden»

Den Würgegriff der «Schock-Strategie» abwerfen: «Der Ausverkauf Europas muss gestoppt werden»

von Dieter Sprock

Die EU übt Druck auf die Schweiz aus. Sie will die Beteiligung am europäischen Strommarkt von der automatischen Übernahme von EU-Recht abhängig machen. Praktisch hat beides aber nichts miteinander zu tun. Der Strom wird seit über fünfzig Jahren über alle Landesgrenzen hinweg ohne EU-Diktat gehandelt. Das hat bestens funktioniert.
Zugleich treibt in der Schweiz das Departement Leuthard (Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation) die Strommarktöffnung voran, obwohl eine solche Liberalisierung noch keinem einzigen Land Vorteile gebracht hat. In all diesen Staaten sind die Preise gestiegen, und die Versorgungssicherheit hat abgenommen.
Die Departementsvorsteherin bemüht sich, den Zusammenhang der beiden Geschäfte zu verwischen. Doch dieser ist so offensichtlich, dass ihn keine Geiss wegschleckt. Die «Neue Zürcher Zeitung» schreibt denn auch am 23. Januar dieses Jahres: «Leuthard will die Marktöffnung vom Strommarktabkommen, das die Schweiz mit der EU verhandelt, trennen. Inhaltlich besteht zwar ein Zusammenhang, der Zugang zum europäischen Strommarkt bedingt die vollständige Liberalisierung.» Dafür gibt es allerdings keine vernünftigen Gründe.
Die EU ist bekanntlich die Liberalisierungsagentur in Europa und die Privatisierung der grossen Staatsmonopole ihr Kerngeschäft. Wenn man unter diesem Aspekt das Buch «Die Schock-Strategie» von Naomi Klein1 liest, stehen einem die Haare zu Berge. Die Schockstrategen sind zu viel mehr fähig als nur zur Erpressung. Das bereits 2007 geschriebene Buch über dreissig Jahre «Schock-Strategie» hat nichts an Aktualität eingebüsst. Im Gegenteil. Wer die Vorgänge im heutigen Europa verstehen will, muss es lesen.

Ausgehend von Pinochets Chile zeigt Naomi Klein anhand zahlreicher gut dokumentierter Beispiele, wie Kriege und Katastrophen zur Durchsetzung der radikal marktwirtschaftlichen Ideen eines Milton Friedman und seiner Schüler genutzt wurden. Die Strategie hat System: Länder, die durch Katastrophen in einen Schockzustand versetzt wurden, werden gezwungen, ihre Wirtschaft internationalen Finanzgebern zu öffnen, Staatseigentum zu veräussern, die öffentlichen Dienstleistungen zu privatisieren und massive Einsparungen im Sozialwesen vorzunehmen. Oft dienen IWF und WTO, beide von den USA dominiert, dabei als Handlanger. Auf diese Weise werden Entwicklungen beschleunigt durchgesetzt, die ohne Schock gar nicht denkbar gewesen wären oder Jahre in Anspruch genommen hätten. In Friedmans Worten: «Nur eine Krise – eine tatsächliche oder empfundene – führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist meiner Ansicht nach unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird.»2 Mehr als drei Jahrzehnte haben Friedman und seine Anhänger diese Strategie perfektioniert: «Auf eine grosse Krise oder einen Schock warten, dann den Staat an private Interessenten verfüttern, solange die Bürger sich noch vom Schock erholen, und schliesslich diesen ‹Reformen› rasch Dauerhaftigkeit verleihen.» (Klein, S. 17)

Eine Spur von Blut und Elend rund um den Erdball

Lügen, Propaganda und Erpressung; Schulden- und Inflationsschocks; Krieg, Folter und Terror sind die Methoden der Schockstrategie, mit denen die Liberalisierung der Märkte vorangetrieben wird, wie einige Beispiele zeigen sollen:
Nach dem blutigen Militärputsch 1973 befand sich Chile im Schockzustand. «Friedman empfahl Pinochet einen Umbau der Wirtschaft im Schnellfeuertempo – Steuersenkungen, Freihandel, Privatisierung von Dienstleistung, Einschnitte bei den Sozialausgaben und Deregulierung. Und dann muss­ten die Chilenen noch mit ansehen, wie ihre öffentlichen Schulen durch private ersetzt wurden, die sich über Gutscheine finanzierten.» (S. 18) Nach Friedman hat der Staat «im Schulwesen nichts verloren». Kostenlose Bildung war für ihn «eine nicht gerechtfertigte Einmischung in den Markt».
In Argentinien verschwanden zur Durchsetzung der «Chicagoer Politik» unter der Videla-Junta 1976 bis 1978 dreissigtausend Menschen – vorwiegend linke Aktivisten.
Margaret Thatcher nutzte das Durcheinander des Falklandkrieges 1982 dazu, «die streikenden Bergarbeiter mit dem Einsatz enormer Gewalt» niederzuringen. Sie hat damit die erste «Privatisierungsorgie» in einer westlichen Demokratie losgetreten.
Die Nato-Angriffe auf Belgrad im Jahr 1999 «schufen die Voraussetzung für rasche Privatisierungen im ehemaligen Jugoslawien – ein Ziel, das bereits vor dem Krieg feststand.» (S. 22)
Unmittelbar nach den Anschlägen auf die Twin Towers 2001 begann unter Ausnutzung des Schocks der Krieg gegen Afghanistan, mit bisher ungezählten Opfern.
2003 wurde das dreissig Jahre vorher in Chile erprobte Vorgehen im Irak angewendet, nur noch brutaler! Nach dem Krieg wurden die Staatsbetriebe und die Ölvorkommen privatisiert und an westliche Konzerne verteilt.
Selbst Katastrophen wie der Tsunami in Sri Lanka 2004 und der Hurrikan Katrina in New Orleans 2005 dienten dazu, den radikal marktwirtschaftlichen Umbau voranzutreiben. Die ansässige Bevölkerung wurde vertrieben und das Bauland in bester Lage internationalen Investoren verkauft. In New Orleans wurde auf Anraten Friedmans in militärischer Eile «binnen 19 Monaten – während die Armen der Stadt noch grossenteils evakuiert waren – das öffentliche Schul­system nahezu vollständig durch private Charter Schools ersetzt». (S. 16) Die entlassenen Lehrer der öffentlichen Schulen mussten zusehen, «wie für die Flutopfer gesammeltes Geld abgezweigt wurde, um ein öffentliches Schulsystem auszuradieren und durch ein privates zu ersetzen». Für sie war Friedmans Plan eine «pädagogische Enteignung».
Naomi Klein räumt ein, dass keiner der erwähnten Kriege allein wirtschaftlich motiviert war, doch in jedem Fall wurde «ein grosser kollektiver Schock» dazu genutzt, die Wirtschaft radikal umzubauen.

USA: vom Liberalismus zum korporatistischen Staat

Als am 11. September 2001 die Flugzeuge in das World Trade Center einschlugen, war das Weisse Haus voll mit Friedman-Schülern, die sich damals in den USA als Neokonservative bezeichneten. «Das Team um Bush nutze den Augenblick des kollektiven Entsetzens mit erschreckendem Tempo.» Sofort wurde der «Krieg gegen den Terror» gestartet und dazu ein ausschliesslich dem Profit dienender neuer Industriezweig aufgebaut, «der der schwächelnden US-Wirtschaft frisches Leben einhauchen sollte», der «Katastrophen-Kapitalismus-Komplex». Dieser sei viel weitreichender als der «militärisch-industrielle Komplex», vor dem Eisenhower gegen Ende seiner zweiten Amtszeit als Präsident gewarnt hat. Heute gehe es um einen globalen Krieg, den auf allen Ebenen Privatunternehmen führen, deren Einsatz mit öffentlichen Geldern bezahlt wird: «Binnen weniger Jahre hat er seine Marktreichweite schon vom Kampf gegen den Terrorismus auf die internationale ‹Friedenssicherung›, auf die Kommunalpolitik und die immer häufigeren Naturkatastrophen ausgeweitet. Letztlich verfolgen die Unternehmen im Zentrum des Komplexes das Ziel, das Modell des profit­orientierten Regierens, das sich unter aussergewöhnlichen Umständen so rasch ausbreitet, in das normale, alltägliche Funktionieren des Staates einzubauen – anders ausgedrückt: die Regierung zu privatisieren», schreibt Naomi Klein. (S. 25) Im Jahr 2003 unterschrieb die US-Regierung 3512 Verträge mit Sicherheitsfirmen, und in den folgenden drei Jahren das Departement of Homeland Security deren 115 000. Der globale «Heimatschutz» ist ein «200-Milliarden-Dollar-Geschäft». Das wirkliche Geld werde aber mit dem Krieg in Übersee verdient. «Heute sind Kriegs- und Katastropheneinsätze so voll und ganz privatisiert, dass sie selbst der neue Markt sind; man muss nicht mehr auf den Boom warten, bis der Krieg vorbei ist.» (S. 27)
Das System verwischt die Grenzen zwischen Politik und grossem Geschäft, und die genauere Bezeichnung als «Liberalismus, Konservatismus oder Kapitalismus» sei deshalb «Korporatismus» beziehungsweise Neokorporatismus». Im Neokorporatismus unterstehen die Verbände keiner direkten staatlichen Kontrolle. «Sein Hauptkennzeichen sind die massive Umverteilung von öffentlichem Besitz in Privathände – die oft von einer explodierenden Verschuldung begleitet ist –, eine sich ständig vergrössernde Kluft zwischen Superreichen und den disponi­blen Armen sowie ein aggressiver Nationalismus, der unbegrenzte Verteidigungsausgaben rechtfertigt.» (S. 30)

«Schock-Strategie» für Europa

Es braucht keine besondere Begabung, um auch in Europa das Wirken der «Schock-Strategie» zu erkennen. Ganz nach dem Moto: «Konstanz liegt am Bodensee, wer’s nicht glaubt, fahr hin und seh.»
Unter Schock, ausgelöst durch die Lehman-Pleite und amerikanische Schrottpapiere, wird auch in Europa die Liberalisierung der Märkte vorangetrieben. Das heisst konkret: Länder, die sich zu fest verschuldet haben, verlieren ihre Souveränität. Nachdem zumeist amerikanische Rating-Agenturen ihre Bonität heruntergestuft haben, diktiert ihnen eine Troika, bestehend aus der Europäischen Zentralbank (EZB), der EU-Kommission und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), die Bedingungen, unter denen sie weitere Kredite erhalten. Zuvorderst steht die Privatisierung der grossen Staatsmonopole: Elektrizität, Telekommunikation, öffentliche Verwaltung, Abfuhrwesen, öffentlicher Verkehr, Gesundheitswesen, Bildung und neuerdings auch die Privatisierung von Wasser. Ferner Personalabbau, Lohnkürzungen, massive Streichungen im Sozialbereich und bei den Renten.
Die Löhne sind in vielen europäischen Ländern bereits so tief, dass Vater und Mutter arbeiten müssen, um die Familie zu ernähren; was zynisch als Frauenbefreiung vermarktet wird. Mittlerweile wird die Politik immer mehr von weltweit operierenden Denk­fabriken und Beraterfirmen gesteuert. Länder­übergreifende Projekte wie Naturpärke und Europa der Regionen sind Teil der Strategie. Mit ihnen werden Parallelstrukturen aufgebaut, die nicht mehr demokratisch kontrolliert werden können.

Massenarbeitslosigkeit und Armut

Während die Kriegstreiber in der EU von einem neuen Imperium mit Steuer- und Bildungshoheit träumen und einer europäischen Armee das Wort reden, die in der ganzen Welt einsatzfähig sein soll, hinterlässt die Globalisierung eine Spur der Zerstörung in ganz Europa: Die Arbeitslosigkeit war nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie so gross, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit. In einigen Ländern herrscht bereits akute Not.
So berichtet eine Touristin, dass in Portugal Einheimische in Restaurants fragen, ob sie fertig essen dürfen, was der Gast nicht mehr mag.
In Griechenland gibt es bereits jetzt «400 000 Familien, in denen kein einziges Mitglied eine Arbeit hat. Nach Schätzungen wird bis Ende 2013 nahezu jeder dritte arbeitsfähige Grieche ohne Job sein.» («Neue Zürcher Zeitung» vom 21.2.2013) Es fehlt an Nahrung und Medikamenten.
In Frankreich überschreitet die Arbeits­losenzahl 5 Millionen. «Seit Beginn des Jahres geht auch das Gespenst gewaltsamer Sozialkonflikte um, die ganze Industriezweige lahmzulegen drohen.» («Neue Zürcher Zeitung» vom 15.2.2013)
In Grossbritannien halten bulgarische und rumänische Migranten auf der Strasse Ausschau nach Gelegenheitsjobs. «Als Tagelöhner am Rande des expandierenden britischen Bausektors sorgen sie für ein stetiges Angebot billiger Arbeitskräfte – nützlich und doch nicht willkommen.» («Neue Zürcher Zeitung» vom 14.2.2013) Eine Folge der Armut in Bulgarien und Rumänien. Und die in der EU erzwungene Personenfreizügigkeit führt dazu, dass oft die Stärksten und gut Ausgebildete ihre Heimat verlassen und dort beim Wiederaufbau einer tragfähigen Gesellschaft fehlen. Dasselbe in zahlreichen anderen EU-Mitgliedstaaten. Ein einziges Chaos!

Internationale Gleichschaltung der Bildung

Auch die Bildung liegt vielerorts darnieder. In den Schulen werden die Inhalte durch Kompetenzen ersetzt, um so eine künstliche «europäische Identität» heranzubilden. Pisa (OECD) und Bologna (EU) dienen als Werkzeuge für die Umsetzung: «Das System Pisa (Programme for International Student Assessment) hat seit 2000 mehrere regelrechte Schockwellen ausgelöst. Dies scheint System zu haben: Wo diese standardisierten Tests zur Anwendung gebracht werden, kommen häufig angebliche gravierende Mängel der Kenntnisse von Schülerinnen und Schülern zum Vorschein. Wie Naomi Klein in ihrem Buch ‹Die Schock-Strategie› herausgearbeitet hat, ebnen solche Schocks jeweils den Weg für tiefgreifende Umwälzungen mit weitreichenden Konsequenzen. So geschehen in der Folge von Pisa: Tausendfach wurde in den Medien die schlechte Nachricht wiederholt, unsere Kinder (und damit unser Schulsystem) hätten angeblich grundlegend versagt. Die Schockmeldung setzte die Verantwortlichen unter grossen Druck, sehr schnell etwas zu unternehmen. Entsprechend zeichneten sich die folgenden ‹Reformen› durch die ‹unbedachte und schnelle Übernahme fertiger Lösungskonzepte ohne ausreichende wissenschaftliche und öffentliche Debatte› (Langer, S. 61)3 aus. Doch woher kommt die Idee, unsere Schulen und Schulsysteme dem Wettbewerb auszusetzen, die so weitreichende Folgen für unsere Schüler und unser gewachsenes Schulsystem hat? Kurz zusammengefasst stammt sie aus den USA, die sie über die OECD in unsere Länder exportiert haben.» (Zeit-Fragen Nr. 25 vom 11.7.2012)

Nach dem Schock kommen die Investoren

«Nach vierjährigem Stillstand scheint Griechenland für ausländische Investoren wieder attraktiver zu werden. Internationale Konzerne haben jüngst angekündigt, ihre Präsenz im Land ausbauen zu wollen», schreibt die «Neue Zürcher Zeitung» vom 22.2.2013. An der Ausschreibung für das Hellenikon-Projekt, den Ausbau des alten Athener Flughafens, von dem sich die Regierung einen Erlös von 5 Milliarden Euro verspricht, nehmen «neben Qatari Diar an der Endphase die London Regional Properties, die israelische Elbit und die griechische Lamda Development teil. Der Zuschlag soll im Sommer erteilt werden.» In den letzten Wochen hätten auch andere namhafte internationale Konzerne verlauten lassen, dass sie ihre Präsenz in Griechenland verstärken wollen. Eine chinesische Gruppe namens Cosco «sei an den bevorstehenden Privatisierungen der Bahn und der Hafengesellschaft OLP interessiert». Und der französische Präsident Hollande, der am 19. Februar Athen besuchte, «bekundete nun sein Interesse an einer verstärkten französischen Präsenz in Griechenland, vor allem bei der Erforschung und Ausbeutung möglicher Erdgas- und Ölvorkommen». Die Franzosen seien auch an der Privatisierung der Elektrizitätsgesellschaft und der Wasserwerke interessiert.

«Der Schock nutzt sich ab: Das Wiedererstarken des Volkes»

Mit diesem Titel über dem Schlusskapitel ihres Buches öffnet Naomi Klein den Blick nach vorn, und sie hat recht. Der Schock verliert an Wirkung, wenn die Menschen die Strategie dahinter durchschauen.
Warum sollen wir Friedmans Zitat, wonach «das weitere Vorgehen in einer Krise von den Ideen abhängt, die im Umlauf sind», nicht so verstehen, dass es eine Abkehr von der Neoliberalen Doktrin und neue Ideen braucht? Klein sieht Ansätze dazu vor allem in Lateinamerika. Der wichtigste Schutz Lateinamerikas vor künftigen Schocks sei «die zunehmende Unabhängigkeit von den Washing­toner Finanzinstitutionen». Die Alternativa Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América (ALBA, Bolivianische Alternative für die Völker unseres Amerika), eine Art Tauschhandelssystem, sei die Antwort der Lateinamerikaner auf den «mittlerweile begrabenen korporatistischen Traum von einer Freihandelszone, die von Alaska bis Feuerland reichen sollte. […] Jedes Land bringt ein, was es am besten erzeugen kann, und bekommt dafür, was es am nötigsten braucht, unabhängig von Weltmarktpreisen. So liefert beispielsweise Bolivien Erdgas zu stabilen, rabattierten Preisen; Venezuela bringt sein Erdöl ein (das an ärmere Länder zu stark subventionierten Preisen abgegeben wird) und stellt sein Expertenwissen zur Verfügung; Kuba entsendet Tausende Ärzte, die in ganz Lateinamerika eine kostenlose medizinische Versorgung anbieten, und bildet an seinen Fakultäten Studenten aus anderen Ländern aus.» (S. 643) Statt dass Händler in New York, Chicago oder London die Preise festlegen, kann jedes Land selbst entscheiden, wie hoch es den Wert einer Ware oder Dienstleistung festlegen will.
In Brasilien haben sich anderthalb Millionen Bauern in der Bewegung der Landlosen (MST) organisiert und Hunderte von Genossenschaften gegründet. In Argentinien wurden bereits 200 bankrotte Firmen von ihren Belegschaften in Form demokratisch geführter Kooperationen wiederbelebt. 2006 gab es in Venezuela rund hunderttausend Genossenschaften mit siebenhunderttausend Beschäftigten. (S. 642f.) – Optionen auch für Europa?
Auch in der Schweiz und im übrigen Eu­ropa hat ein Umdenken eingesetzt. Viele sind nachdenklich geworden, auch in der Politik. In den Universitäten, die lange Zeit ihre Studenten mit der Marktdoktrin regelrecht formatiert haben, werden inzwischen auch andere Ansätze diskutiert. Immer mehr Menschen glauben nicht mehr daran, dass «freie Märkte» allen zugute kommen. Das System droht zu kollabieren, und die Menschen haben es satt, ständig belogen zu werden. Sie wollen keine weitere Verelendung Europas, keinen weiteren Bildungsabbau, keine weitere Auflösung der sozialen Strukturen. Der Ausverkauf Europas muss gestoppt werden.
Die Politiker könnten jetzt vor ihre Bürger treten und eingestehen, dass sie sich geirrt haben. Sie haben, wie fast alle von uns, dieses System nicht verstanden und nicht vorhergesehen, worauf es hinausläuft; die Gelegenheit dazu war noch nie so günstig. Sie könnten die Bürger einladen, mit ihnen gemeinsam nach neuen Lösungen zu suchen. Aber es müssten ehrliche Lösungen sein. Es genügt nicht, ein wenig an den Stellschrauben des alten Systems zu drehen, um die Menschen bei Laune zu halten. Es braucht Lösungen, die aus der Finanzdiktatur herausführen und den unproduktiven Spekulationsschrott abräumen, damit die Menschen in ihren Ländern eigene Wege entwickeln und sich ihre Freiheit und Würde zurückholen können.    •

1    Naomi Klein, Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, New York 2007, Frankfurt am Main 2009
2    a.a.O., S. 17, FN 12
3    Roman Langer: Warum haben die Pisa gemacht?, in: ders., Warum tun die das? Governance-Analysen zum Steuerungshandeln in der Schulentwicklung. Wiesbaden 2008

Es geht auch ohne EU

Es geht auch ohne EU. Die Polizeibehörden in der Schweiz, in Österreich und im Fürstentum Liechtenstein werden ab sofort stärker kooperieren. Dieser Tage hat der Schweizer Bundesrat einen neuen Polizeivertrag verabschiedet. Er zielt unter anderem auf eine effizientere Bekämpfung der Schwer(st)kriminalität ab. Zudem sollen die Staaten, etwa im Bereich des Zeugen- und Opferschutzes, verstärkt kooperieren. Mit dem Vertrag werden ausserdem die Bekämpfung der illegalen Migration und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit erleichtert. Weiter sieht der Polizeivertrag vor, dass sich die drei Staaten bei Verkehrsdelikten gegenseitig unterstützen und Verstösse, welche von Automobilisten aus der Schweiz, Liechtenstein oder Österreich in einem der Partnerstaaten verübt worden sind, besser ahnden. So werden auch gegenseitig verhängte Bussen in den anderen Ländern eingezogen, deren Erledigung wird von den jeweiligen Ländern gewährleistet. Damit wird eines der grossen bisherigen Schlupflöcher eliminiert. […]

Quelle: Vertraulicher Schweizer Brief Nr. 1348 vom 2.2.2013

Wie eine Krake greift die EU immer mehr nach direkter Macht in den einzelnen Mitgliedsländern

Hilfe bei «aussergewöhnlichen Umständen» im Innern

Wie eine Krake greift die EU immer mehr nach direkter Macht in den einzelnen Mitgliedsländern. Mit der nunmehr ausformulierten «Solidaritätsklausel» des Vertrags von Lissabon wird den EU-Mitgliedstaaten verharmlosend Hilfe bei «aussergewöhnlichen Umständen» im Innern(!) versprochen. Die EU-Kommission und die Hohe Vertreterin der Union für Aussen- und Sicherheitspolitik haben einen Vorschlag zur Ausgestaltung der sogenannten «Solidaritätsklausel» vorgelegt. Das Papier bezieht sich auf Artikel 222, um den es bei Verabschiedung des Vertrags von Lissabon Streit gegeben hatte. Die Organe der Europäischen Union und ihre Mitgliedstaaten werden darin verpflichtet, einander im Falle eines Schadensereignisses zu unterstützen. Dies schliesst explizit den Einsatz polizeilicher, geheimdienstlicher und militärischer(!) Mittel ein. […]
Im jetzigen Vorschlag wird eine Beistandspflicht für «aussergewöhnliche Umstände» vorgesehen. Politische Auseinandersetzungen werden zwar in den vorgeschlagenen Anwendungsbereichen der «Solidaritätsklausel» nicht eigens erwähnt. Allerdings könnte die mitgelieferte Definition einer «Katastrophe» auch Unruhen, Blockade-Aktionen oder Sabotage erfassen: jede Situation, die schädliche Auswirkungen auf Menschen, die Umwelt oder Vermögenswerte hat oder haben kann. Die ebenfalls festgeschriebene Definition einer «Krise» als Auslöser deckt alle weiteren denkbaren Bedrohungen ab, darunter jede «[…] ernste, unerwartete und häufig gefährliche Situation, die rechtzeitige Massnahmen erfordert» und die «wesentliche gesellschaftliche Funktionen betreffen oder bedrohen kann». Hinzu kommen auch fortgesetzte Arbeitsverweigerung, z.B. von Hafenarbeitern oder Generalstreiks. Besonders wenn sich Sicherheitsbehörden an Protesten beteiligen, wäre die Handlungsfähigkeit eines Staates stark eingeschränkt. Bei uns noch nicht vorstellbar: Aber in Griechenland und Portugal haben in den letzten Jahren Polizei und teilweise auch Militärs gestreikt. […]
Die EU-Kommission und ihre Unterkommissionen lassen in dieser Sache nichts anbrennen. Bereits haben drei sechswöchige Übungen europäischer ­Polizeibehörden an den Trainingsorten der Eurogendfor auf einem Truppenübungsplatz bei Potsdam stattgefunden. Diese «European Police Force Trainings» (Eupft) sollen die Aufstandsbekämpfungsfähigkeiten(!) verschiedener Länder illustrieren und auswerten. Beteiligt waren Polizisten und Gendarmen jener Einheiten, die für Einsätze im Ausland in Frage kommen. Für Fachleute ist es klar: Diese Übungen sind durchaus auch als Vorbereitung eines operativen Umsatzes von Artikel 222 zu verstehen. Am 7. März soll in Brüssel eine «erste Lesung» der neuen, vorgeschlagenen «Solidaritätsklausel» erfolgen. […]

Quelle: Vertraulicher Schweizer Brief Nr. 1349 vom 12.2.2013

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