«Der Westen ist raubtierhaft und kannibalistisch, ernährt sich von den Ressourcen anderer Völker und versucht, deren ganze Zukunft zu verschlingen»

«Der Westen ist raubtierhaft und kannibalistisch, ernährt sich von den Ressourcen anderer Völker und versucht, deren ganze Zukunft zu verschlingen»

Der indische Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore und sein unermüdliches Engagement für ein friedliches Zusammenleben – ein Vorbild für heute

von Thomas Schaffner

Asien ist im Aufbruch. Davon legt nicht nur die «Erklärung von Shanghai» der CICA, der «Konferenz für Interaktion und vertrauensbildende Massnahmen in Asien», beredtes Zeugnis ab (vgl. Zeit-Fragen Nr. 14/15 vom 1. Juli). Auch bilateral werden die Beziehungen der Länder Asiens vertieft – ohne Einbezug des Westens. So berichtet unter anderen Urs Schoettli in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 7. Juli von der Zäsur, die durch den jüngsten Machtwechsel in Delhi mit Narendra Modi erfolgt sei: Der neu gewählte indische Premierminister setze bei der Modernisierung des Landes explizit auf asiatische Vorbilder und Werte und vertiefe die Beziehungen nicht nur zu China, sondern auch zu den ost­asiatischen Tigerstaaten und insbesondere zu Singapur und Japan. Dass dabei mit «frischer Pragmatik» vorangeschritten werde, bestätigt nur die Einschätzungen eines Kishore Mahbubani, der gerade die Pragmatik als eines der Erfolgsrezepte der Asiaten herausstreicht – und dem Westen zur Nachahmung empfiehlt. Dies würde zu einer Abkehr von ideologisch verengten Blickweisen und Feindseligkeiten führen, weil der Pragmatiker auch mit Staaten verhandle, die nicht zu seinen Freunden gehörten – doch nur so lasse sich mehr Frieden auf dem Planeten erreichen.
Wenn Indien zu Japan und China enger in Beziehung tritt, so sind dabei einige historische Altlasten zu überbrücken: Indien, welchem von Kishore Mahbubani, aber auch von Zbigniew Brzezinski eine mögliche Mittlerrolle zwischen Asien und dem Westen zugeschrieben wird, hatte als britisch dominiertes Land lange einen zweifelhaften Ruf bei seinen asiatischen Nachbarn. Pankaj Mishra, selber Inder, gibt in seinem preisgekrönten Buch «Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens» Einblicke in die wechselhaften Beziehungen der genannten Länder im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und lässt deutlich werden, dass die Phase der 200jährigen Dominanz des Westens, von Ki­shore Mahbubani als «historischer Irrweg» bezeichnet, nun nicht nur zu Ende geht, sondern schon vor hundert Jahren Widerstand fand in einem Netzwerk asiatischer Intellektueller, die eines verband: der Widerstand gegen die erlittenen Demütigungen durch den rassistischen Dünkel der Europäer und US-Amerikaner. Dass dabei auch deren gelehrige Schüler in Asien, insbesondere im sich immer imperialistischer gebärdenden Japan, einer kritischen Betrachtung unterstellt wurden, wird deutlich am Beispiel des Wirkens des indischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore.

Indien – ein «verlorenes Land»? So jedenfalls sahen das viele der chinesischen Nachbarn um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Hatten nicht indische Händler den Briten im Opiumhandel sekundiert? Indische Soldaten sich beim Boxeraufstand für die Europäer gegen Chinesen einsetzen lassen? Und indische
Polizisten im Auftrag der Kolonialherren in Vertragshäfen Chinesen in Schach gehalten? Wie, wenn nicht als Akt der Selbstunterwerfung und der Selbstentäusserung musste dieses Verhalten vieler Inder in China gedeutet werden? Anders als China schien Indien die Verbindung zu seinem kulturellen Erbe verloren zu haben. Beispiele gab es zur Genüge, etwa die Familie, welcher der spätere Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore (1861–1941) entstammte. Seit dem 17. Jahrhundert war seine Familie mit der East India Company verbunden, jener Aktiengesellschaft, die ein grösseres Heer als das britische Mutterland unter Waffen hatte, in Indien private Gefängnisse führte und sich wie eine eigene Kolonialmacht verhielt. Sein Grossvater war der reichste indische Geschäftsmann, der bei Besuchen in London auch von der Queen empfangen wurde. Tagore war 1861 geboren worden, vier Jahre nach dem indischen Aufstand und nachdem Universitäten westlichen Stils gegründet worden waren. So kam er mit westlichem Denken in Kontakt, gleichzeitig aber auch mit sozialreformerischen Tendenzen etwa eines Ram Mohun Roy (1774–1833), dem «Vater des modernen Indiens». Er vertrat nie scharf antiwestliche Standpunkte. So hatte er auch Differenzen mit Gandhi, dessen antikolonialistischen Aussagen ihm zum Teil zu fremdenfeindlich klangen.

Kritik an der Europäisierung Indiens

Anders als die «Jungbengalen», die wie die osmanischen Tanzimat- oder die japanischen Meiji-Reformer sich ganz dem Westen anschliessen wollten, war Tagore einer der schärfsten Kritiker der Europäisierung Indiens. Darin fand er im indischen Philosophen und Politiker Aurobindo Ghose (1872–1950) einen Gesinnungsgenossen. Ghose, in einer britenfreundlichen bengalischen Familie aufgewachsen, empfand die Bengalen als «berauscht vom Wein der europäischen Zivilisation» (zit. nach Mishra, S. 272) und Indien in Gefahr, seine Seele zu verlieren an den europäischen Materialismus. Oder mit den Worten Swami Vivekanandas (1863–1902), dem frühesten spirituellen Führer Indiens: «Für diese Zivilisation [gemeint ist die europäische] war das Schwert das Mittel, Heroismus das Hilfsmittel und der Genuss des Lebens in dieser und der nächsten Welt das einzige Ziel.» (zit. nach Mishra,
S. 273) Vivekananda nahm aus seinen zahlreichen Reisen nach Europa und in die USA die Erkenntnis mit nach Hause, dass auch die Westler eine Art Kastensystem aufwiesen, in dem die Reichen und Mächtigen alles kontrollierten.
Aurobindo Ghose warf den Briten vor, nach der Devise «Macht ist Recht» vorzugehen und so nicht nur die Iren zu unterjochen. Er wurde militanter und vertrat die Auffassung, Friede in Asien lasse sich nur «durch das asiatische Schwert» gewinnen. (zit. nach Mishra, S. 275)

Tagore feiert Sieg der Japaner bei Tshushima 1905

Rabindranath Tagore seinerseits distanzierte sich 1881 von seinem Grossvater, der eine zentrale Figur im Opiumhandel war. Von 1891 bis 1901 hielt er sich in Dörfern Bengalens auf. Dies brachte ihn zur Überzeugung, dass die Selbsterneuerung Indiens von den Dörfern ausgehen müsse. Vor dem Hintergrund seiner konservativ-aristokratischen Herkunft und seiner westlich geprägten Bildung ergab die Wertschätzung des einfachen Lebens auf dem Lande die Basis für die Gründung einer Versuchsschule im ländlichen Südwesten Bengalens, die sich zu einer internationalen Universität entwickelte. Die Analyse des Westens war messerscharf: «Eher wissenschaftlich als menschlich […] überrennt er [der Westen] die ganze Welt wie ein wucherndes Unkraut […]. Er ist raubtierhaft und kannibalistisch in seinen Strebungen, er ernährt sich von den Ressourcen anderer Völker und versucht, deren ganze Zukunft zu verschlingen […]. Er ist mächtig, weil er all seine Kräfte auf ein Ziel konzentriert, wie ein Millionär, der auf Kosten seiner Seele Geld scheffelt.» (zit. nach Mishra, S. 276)
1905 schuf Tagore zwei Lieder, die später zur Nationalhymne von Bangladesh und Indien werden sollten. Zum Sieg der Japaner bei Tshushima 1905 organisierte Tagore in seiner Schule eine Siegesparade. Schon 1902 hatte er formuliert: «Mit der Verschärfung unseres Konflikts mit den Fremden wächst auch unser Eifer, uns selbst zu verstehen und zu uns zu finden. Wir können sehen, dass dies nicht nur für uns gilt. Der Konflikt mit Europa lässt das ganze zivilisierte Asien erwachen. Asien ist heute dabei, sich selbst bewusst und deshalb auch kraftvoll zu erkennen. Es hat das ‹Erkenne dich selbst!› verstanden, denn das ist der Weg zur Freiheit. Nachahmung dagegen bedeutet Zerstörung.» (zit. nach Mishra, S. 277)

Für einen asiatischen Kosmopolitismus und …

Den militanten indischen Nationalismus mit Attentaten und Terroranschlägen lehnte Tagore ab, und ab 1917 kritisierte er das Konzept des Nationalismus weltweit. Die Idee der Nation werde zur «Kommerzmaschine», die Menschen würden «in saubere Ballen» gepresst, es entstehe ein «Kult des Eigennutzes», der die Lebensgrundlagen der Menschheit als ganzer zerstöre. Sein Ideal war ein asiatischer Kosmopolitismus: «Indien hat niemals wirklich nationalistisch empfunden […]. Ich bin der festen Überzeugung, meine Landsleute werden ihr Indien wahrhaft gewinnen, indem sie gegen die Erziehung kämpfen, die lehrt, ein Land sei grösser als die Ideale der Menschheit.» (zit. nach Mishra, S. 277) Sicher muss aus Schweizer Sicht hier mit J. R. von Salis festgehalten werden, dass das Konzept des Nationalismus, vor allem im Jahre 1917, ein anderes ist als das eines föderalistisch, von unten nach oben aufgebauten Staates einer Willensnation wie der Schweiz, wo die Volkssouveränität mit den Mitteln der direkten Demokratie gewährleistet ist: «Der Bundesstaat Schweiz ist – muss man es wieder und wieder sagen? – eine politische Schöpfung. Der Patriotismus seiner Bürger ist eine wesentlich genossenschaftliche, demokratische, föderalistische Ausdrucksform des Nationalen, so dass das Nationale, sofern man das Wort auf unser Land anwendet, gänzlich anders aussieht als in andern Ländern Europas.» (von Salis, S. 111) Insofern lässt sich Tagore nicht instrumentalisieren als Fürsprecher etwa eines grossen zentralistischen Gebildes wie zum Beispiel der EU, welche die Nationalstaaten auflösen will, welche ja wiederum grösstenteils zentralstaatliche Grossgebilde sind, die als repräsentative und nicht oder nur in Ansätzen direktdemokratische Demokratien die Volkssouveränität nur zum Teil verwirklicht haben.

… gegen den Kult des Eigennutzes

Wenn sich aber im Jahre 2014 Staaten Konzernen unterstellen sollen, wie das laut Kritikern durch das geplante Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) erfolgen wird, oder wenn etwa ein Zbigniew Brzezinski von Europa fordert, das Konzept des Sozialstaates aufzugeben, und dem Menschenbild des Homo oeconomicus das Wort redet – und eine ost-erweiterte EU und Nato als zentral für den Hegemon USA darstellt, dann scheint Tagores Kritik eher nachvollziehbar. Sie würde dann aber eher auf die supranationale EU als «Festung Europa» zutreffen. Ein zentralistisches Grossgebilde, welches die Südgrenze hermetisch abschottet und, ohne die Bevölkerung zu befragen, eine Sanktionspolitik gegen den russischen Nachbarn beschliesst – repräsentiert eine solch egozentrische EU nicht auch die engstirnige Gesinnung, um Tagores Formulierung nochmals zu gebrauchen, «ein Land sei grösser als die Ideale der Menschheit»? Doch wieder: Wie anders die Schweiz als Willensnation, mit vielen aus anderen Ländern Eingebürgerten und einem Ausländeranteil wie in kaum einem anderen europäischen Nationalstaat, weltoffen, mit einer Sprachenvielfalt, und Sitz wichtiger internationaler Organisationen? Insofern müssen die Auffassungen Tagores und das Schweizer Modell nicht im Widerspruch stehen, lassen sich denn auch schwer vergleichen. Was aber sicher nicht zulässig ist: seine Sicht zu instrumentalisieren, nicht nur zugunsten einer Gross-EU, sondern auch eines Weltgebildes wie die von George H. Bush 1991 propagierte novo ordo seclorum, die neue Weltordnung einer «one world» – mithin also die Dominanz von Finanz-, Wirtschafts-, Militär- und Medien«eliten».

Gandhi: Nicht «englische Herrschaft ohne Engländer» errichten

Ähnlich wie Tagore argumentierte sein langjähriger Freund Moandas Gandhi. Nationalisten würden nur die einen verblendeten Herrscher durch andere ersetzen, in Indien also eine «englische Herrschaft ohne Engländer errichten» (zit. nach Mishra, S. 278), so schrieb er 1909 an die Adresse der Hindu-Nationalisten, die auf den Ideen Bankim Chandra Chatterjees (1838–1894) basierten und später Elemente der faschistischen Parteien Deutschlands und Italiens übernahmen.
Gandhi wusste, wovon er sprach, hatte er als junger Mann doch ebenfalls versucht, englischer als die Engländer zu werden. Der in London ausgebildete Jurist wandelte sich erst auf Grund einer Reihe von rassistischen Demütigungen, die er vor allem in Südafrika erlitt. Gandhi sah den Imperialismus durchaus auch, wie Lenin und Rosa Luxemburg, in einem Zusammenhang mit dem Kapitalismus, doch ging er weiter und unterzog die moderne Zivilisation einer Generalkritik: Sie sei fixiert auf Wirtschaftswachstum und setze Gewalt zur Erlangung der politischen Souveränität ein, wobei ein breiteres Verständnis für soziale Harmonie und spirituelle Freiheit fehle. Die Industrielle Revolution habe den Wohlstand zum Hauptziel erklärt, Religion und Ethik zunichte gemacht und den Menschen der Herrschaft durch die Maschinen unterstellt. Spirituelle Stärke und moralische Selbsterkenntnis seien die Grundlagen wahrer Zivilisation. Mit den politischen Gegnern solle man Mitgefühl haben, denn auch sie seien Opfer, Opfer von Gewalt und Gier, uralter Kräfte. Satyagraha, wörtlich das Ergreifen der Wahrheit, also der Gedanke der gewaltlosen Durchsetzung des als wahr Erkannten, gelte für alle Menschen, und bevor ein Land sich erneuere, müsse sich der Mensch selber erneuern. Ein Konzept, dass die von neomarxistischen 68er Studenten verfemten deutschen Klassiker genau so vertreten hätten – die schöne Seele, gereinigt von Affekten, als Grundlage für eine bessere Welt. Und nicht Klassenkampf und Revolution, aus welchen dann der «neue Mensch» entstehe – in Tat und Wahrheit aber noch immer in der Geschichte ein Blutbad sondergleichen, fanatisch und ideologisch durchgeführt.

1930 wird Tagore von US-Präsident Hoover empfangen

Tagore, der mit Gandhi bis zu seinem Tod 1941 in Kontakt stand, erhielt 1913 den Literaturnobelpreis. Überall auf der Welt referierte er vor vollen Sälen, 1930 wurde er auch vom US-Präsidenten Hoover empfangen. Dies alles, obwohl er offen davon sprach, dass der Westen eine destruktive Kraft sei, basierend auf dem Kult der Macht und des Geldes, und ohne die spirituelle östliche Weisheit ausufere. Die westliche Zivilisation verglich er mit einer Maschine: «Die einzige Erfüllung findet eine Maschine in der Erbringung ihrer Leistung, die in ihrem Streben nach Erfolg moralische Bedenken als unsinnig und abwegig abtut.» (zit. nach Mishra, S. 284)
Japans aufkeimender Nationalismus, gepaart mit einem militarisierten Imperialismus, machten Tagore grosse Sorgen: Er sah in Japan nur eine Kopie des Westens und formulierte in einem Vortrag in Peking: «Physische Macht wird am Ende nicht die stärkste sein […]. Ihr seid die am längsten bestehende Rasse, weil euer Glaube an Güte statt an Stärke euch seit Jahrhunderten nährt.» (zit. nach Mishra, S. 289)

Von KPCh kritisiert, später als Antiimperialist rehabilitiert

Tagores Hinwendung zu Konfuzius und zum Buddhismus trug ihm in der Folge eine scharfe Kampagne durch die junge KP Chinas ein. Er wurde als Sklave beschimpft, der die chinesische Jugend «indisieren» wolle, man wolle aber keine Philosophie, sondern Materialismus, und man habe schon genug Konfuziusse und Menziusse. Flugblätter wurden an seinen Veranstaltungen gegen ihn verteilt, nur Personenschutz rettete ihn vor gewalttätigen Attacken. Doch man tat ihm Unrecht. So räumte der chinesische Schriftsteller Lu Xun (1881–1936) Jahre später ein, dass auch Tagore ein Antiimperialist gewesen sei. Und effektiv: Tagore sagte 1930 bei einem Empfang in New York, in Anwesenheit von Präsident Roosevelt, das gegenwärtige Zeitalter gehöre zwar dem Westen, und die Welt müsse dem Westen dankbar für die Wissenschaften sein. Aber: «Sie beuten jene aus, die wehrlos sind, und Sie demütigen jene, die unglücklich über dieses Geschenk sind.» (zit. nach Mishra, S. 295)

Tagore warnt vor «unreifen Schuljungen des Ostens»

Wie oben erwähnt hat Tagore erst spät erkannt, dass Japan, sein grosser Hoffnungsträger, dessen Militanz er lange unterschätzt hatte, «sich mit dem Virus des europäischen Imperialismus infiziert» habe. (zit. nach Mishra, S. 293) Kurz vor seinem Tode äusserte sich Tagore tief pessimistisch: «Wir sind eine Bande unglücklicher Menschen. Wohin sollen wir aufblicken? Die Tage, da wir auf Japan starrten, sind vorüber.» (zit. nach Mishra, S. 293) Dies sagte er 1938, nachdem Japan 1931 die Mandschurei besetzt und 1937 das chinesische Kernland angegriffen hatte. Und in einem seiner letzten Essays warnte er eindringlich vor den übereifrigen «Schuljungen des Ostens»:
«Die sorgsam gepflegte, aber giftige Pflanze des nationalen Egoismus verbreitet ihren Samen in aller Welt, zur Freude unserer unreifen Schuljungen des Ostens, weil die Ernte aus diesem Samen – die Ernte der Anti­pathie mit ihrem endlosen Kreislauf der Erneuerung – einen wohlklingenden westlichen Namen trägt. Grosse Zivilisationen haben im Osten wie im Westen geblüht, weil sie geistige Nahrung für die Menschen aller Zeiten hervorbrachten. […] Diese grossen Zivilisationen wurden durch Menschen vom Typ unserer modernen frühreifen Schuljungen zugrunde gerichtet – neunmalklug und auf oberflächliche Weise kritisch, sich selbst verehrend und geschickt auf dem Markt des Profits und der Macht feilschend, effizient im Umgang mit Nebensächlichem, die […] am Ende, von selbstmörderischer Gier getrieben, die Häuser ihrer Nachbarn in Brand setzten und schliesslich selbst von Flammen eingehüllt wurden.» (zit. nach Mishra, S. 294)

Uno-Charta als Friedensgrundlage – trotz systemischer Widersprüche

Was Tagore hier prophezeite, musste er glücklicherweise nicht mehr erleben, denn er starb 1941. Was die Gier hüben und drüben anzurichten imstande war, zeigte sich im ab 1941 weltweit tobenden Krieg und dessen Ende mit dem Abwurf der Atombomben über Hiro­shima und Nagasaki. Die von Tagore eingeforderte geistige Nahrung erwuchs der Menschheit dann aber aus der Uno-Charta, der von Kishore Mahbubani hochgelobten Grundlage für eine friedlichere Weltordnung – sei sie auch noch so mit Mängeln behaftet wie dem «systemischen Widerspruch zwischen der Souveränität der Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker» (Professor Dr. Köchler anlässlich eines Vortrages in der Schweiz im Frühling 2014). Ein Widerspruch, der sowohl zu interessegeleiteten Kriegszügen missbraucht werden kann als aber auch zu friedlicher Lösung von Konflikten, wenn man die Menschen vor Ort nur machen, will heissen, die Menschen selber bestimmen lässt, wie sie ihr Zusammenleben organisieren wollen – auch wenn das westlichen Vorstellungen nicht immer ganz entsprechen mag. Dies eine der impliziten Quintessenzen des Buches von Pankaj Mishra, welche die Verleihung des Leipziger Buchpreises im Sinne der Völkerverständigung mehr als rechtfertigt.     •

Literatur:
Pankaj Mishra. Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. Frankfurt a.M.2013. ISBN 978-3-10-048838-1
Kishore Mahbubani. Die Rückkehr Asiens – das Ende der westlichen Dominanz. Berlin 2008. ISBN 978-354907351-3. Insbesondere Kapitel 3: Warum Asien jetzt aufsteigt, S. 62–13
Zbigniew Brzezinski. Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. 1999, ISBN 9-783596-143580
J. R. von Salis: Grundsätzliches zur kulturellen Lage der Schweiz. Vortrag an der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Lehrervereins am 25. September 1955 in Luzern. Schriften des S.L.V. Nr. 30, Zürich 1955. In: J. R. von Salis: Schwierige Schweiz. Zürich 1968. S. 107–122

«Grosse Zivilisationen haben im Osten wie im Westen geblüht, weil sie geistige Nahrung für die Menschen aller Zeiten hervorbrachten. […] Diese grossen Zivilisationen wurden durch Menschen vom Typ unserer modernen frühreifen Schuljungen zugrunde gerichtet – neunmalklug und auf oberflächliche Weise kritisch, sich selbst verehrend und geschickt auf dem Markt des Profits und der Macht feilschend, effizient im Umgang mit Nebensächlichem, die […] am Ende, von selbstmörderischer Gier getrieben, die Häuser ihrer Nachbarn in Brand setzten und schliess­lich selbst von Flammen eingehüllt wurden.»
Rabindranath Tagore, zit. nach Mishra, S. 294

J. R. von Salis: Das Nationale in der Schweiz – ein Kontrapunkt zum Nationalismus anderer Länder

    «Der Bundesstaat Schweiz ist – muss man es wieder und wieder sagen? – eine politische Schöpfung. Der Patriotismus seiner Bürger ist eine wesentlich genossenschaftliche, demokratische, föderalistische Ausdrucksform des Nationalen, so dass das Nationale, sofern man das Wort auf unser Land anwendet, gänzlich anders aussieht als in andern Ländern Europas.»

J. R. von Salis: Schwierige Schweiz. Zürich 1968, S. 111

Es bedarf eines reinen Willens zur Unvoreingenommenheit …

«Eine klare, möglichst objektive Herausarbeitung der Tatbestände auf der Grundlage der Quellen und der bereits vorliegenden Darstellungen bildet das Gerippe jeder Geschichtsschreibung. Weder der Geschichtsschreiber noch sein Leser sollten aus den Tatbeständen ihre eigenen Vorurteile über die diesbezüglichen Dinge herauslesen wollen. Es bedarf allerdings einer nicht geringen geistigen Anstrengung und eines reinen Willens zur Unvoreingenommenheit, um Ansichten, die man sich seit langem angewöhnt hat, auf Grund einer vertieften Prüfung der Tatbestände zu ändern.»

J. R. von Salis, Weltgeschichte der neuesten Zeit. Band II. Zürich 1955, S.1

«Die asiatischen Völker gegen Europa zu einen – ein legitimes Mittel zur Selbstverteidigung»

ts. «Auch unser Land hat unter dieser Schande [der Ausbeutung durch die Europäer, ts.] zu leiden. Die Türken sind Asiaten wie wir. […] Deshalb sind sie zu uns gekommen, um uns ihrer Freundschaft zu versichern.» (zit. nach Mishra, S. 158) So begrüsste eine japanische Zeitung in der Frühphase des Panasianismus eine Gesandtschaft aus dem Osmanischen Reich, welche 1889 Japan auf dem Seeweg besuchte. Ziel der Gäste von der Hohen Pforte war es, das japanische Modell zu studieren, um besser gegen die europäischen Mächte gewappnet zu sein.
Auch für die Jungtürken, die später auf den Ruinen des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat errichteten, war Japan ein inspirierendes Vorbild, insbesondere nach dessen Flottenabkommen mit Grossbritannien von 1902 und dem Sieg in Tshuhsima von 1905 über Russ­land. Geflissentlich übersehen wurde dabei die Gewalt, der Militarismus und Rassismus, womit das Land der aufgehenden Sonne schon damals, aber erst recht später den westlichen Mächten gegenüber in nichts zurückstand.

Erfolgsrezept Japans: Finanzwesen nicht aus der Hand gegeben

Worin aber lag der Erfolg Japans? In der Meiji-Restauration hatten Teile der japanischen Eliten erkannt, dass ihre Schwäche vor allem auf der wissenschaftlichen und technischen Rückständigkeit beruhte. Deswegen schickte man Studenten und erfahrene Gesandte ins Ausland, holte Experten nach Japan und machte sich an den Aufbau eines modernen Nationalstaates. So wurde 1889 eine Verfassung nach westlichem Vorbild verabschiedet, auch wenn der Kaiser göttliche Stellung innehatte.
Die Vorteile Japans im Vergleich zu Ländern, die an ihrer Modernisierung scheiterten, wie etwa das Osmanische Reich, China und Ägypten: Die Bevölkerung Japans war homogen, die alten Eliten machten kaum Opposition und waren Teil der Neuerungen, und: Man gab das Finanzwesen nicht aus der Hand, anders als in Ägypten. Mit viel diplomatischem Geschick gelang es auch, die ungleichen Verträge aufzuheben! So verzichteten die Briten 1894 auf ihre exterritorialen Rechte. Problematisch begann die Modernisierung zu werden, als Japan im gleichen Jahr 1894 China wegen der Vorherrschaft über Korea angriff und vernichtend besiegte, dies aber abbuchte unter der Feststellung, dies habe gezeigt, dass «Zivilisation kein Monopol des weissen Mannes» sei. (zit. nach Mishra, S. 163) Andere Stimmen jubelten, der «wahre Geburtstag des neuen Japans begann mit der Eroberung Chinas». (zit. nach Mishra, S. 164)

Die Weissen stellten die Japaner «in die Nähe von Affen» …

Und eine Stimme, die zeigt, wieso trotz aller negativen Seiten der Aufstieg Japans in ganz Asien auf gewaltiges Echo stiess: Früher hätten die Weissen die Japaner «in die Nähe von Affen» (zit. nach Mishra, S. 164) gerückt, so der japanische Journalist Tokutomi Soho: «Jetzt schämen wir uns nicht mehr, vor der Welt als Japaner dazustehen. […] Früher kannten wir uns selbst nicht, und die Welt kannte uns nicht. Aber nun, da wir unsere Stärke erprobt haben, kennen wir uns, und die Welt kennt uns.» (zit. nach Mishra, S. 164)
Der gleiche Soho, der bislang ein Verfechter individueller Rechte und Freiheiten war, setzte sich nun für einen japanischen Imperialismus ein, um «das weltweite Monopol der weissen Rasse» zu brechen. (zit. nach Mishra, S. 165)

Transnationales Netzwerk asiatischer Intellektueller gegen westlichen Imperialismus

Japan wurde zum Mekka der Unabhängigkeitskämpfer ganz Asiens, insbesondere nach dem bereits mehrfach erwähnten epochalen japanischen Sieg gegen Russland von 1905 bei Tshushima. Doch neben Tokio sammelten sich asiatische Intellektuelle auch in Chicago, Berlin, Johannesburg und Yokohoma. Viele reisten auch zur Berufsausbildung ins westliche Ausland, so Gandhi nach London, Lu Xun nach Japan und Sun Yat-sen nach Honolulu. So entwickelte sich ein transnationales Netzwerk, welches auch in die Heimatländer der Exilasiaten hineinzuwirken vermochte. Ziel der Panasiaten, Panislamisten und Panarabisten war die Einigkeit gegen die westlichen imperialistischen Mächte. So schrieb der muslimische Intellektuelle Abdurreshid Ibrahim, weitgereister, in Russland geborener Bewunderer von al-Afghani, 1909 in diversen japanischen Zeitschriften. «Erst die Uneinigkeit der asiatischen Völker hat es den westlichen Mächten ermöglicht, in Asien einzudringen. Wenn die asiatischen Völker diesen Mangel nicht erkennen und die innere Uneinigkeit nicht überwinden, werden sie keine Zukunft haben.» Und Ibrahim weiter: «Das Bemühen, die asiatischen Völker gegen Europa zu einen, ist ein legitimes Mittel zu unserer Selbstverteidigung». (zit. nach Mishra, S. 207f.)

Russischer Muslim bezeichnet Japan als Erlöser

Ibrahim, der panasiatisch-weitgereiste muslimische Exil-Russe, gründete in der Folge in Tokio die Zeitschrift Islamic Fraternity, zusammen mit einem ägyptischen und indischen Exilanten, die beide vor den Briten aus ihren besetzten Ländern hatten fliehen müssen – ein Zusammenschluss von Imperialismus-Opfern, der für den westlichen Betrachter ungewohnt erscheint. Wohl, weil wir doch daran zweifeln, wie Kishore Mahbubani uns Westler verdächtigt, ob Asiaten wirklich selber denken können, geschweige denn handeln? «Can Asians think?», so der provokativ-enthüllende und auch anklagende Buchtitel von Mahbubani, gut ein Jahrhundert nach den von Mishra geschilderten Ereignissen!
Und noch stärker im Widerspruch zu all unseren westlichen Geschichtsschablonen steht folgende Episode der Weltgeschichte: 1909 reist unser russischer Muslim Ibrahim mit Unterstützung der japanischen Geheimgesellschaft Schwarze Drachen nach Istanbul, um von dort die Moslems in China, den britischen und holländischen Kolonien dahingehend aufzuklären, dass ein Erlöser für sie bereit stehe: Japan!
Erster Weltkrieg: In den Herzen der Asiaten sahen die Frontlinien ganz anders aus
Und folgenden Satz Mishras wird man drei- bis viermal lesen, bis man die Querbezüge richtig geordnet bekommt: «Während des Ersten Weltkrieges stellt er [Ibrahim] in Deutschland ein ‹asiatisches Bataillon› aus russischen Kriegsgefangenen auf, das in Mesopotamien gegen die Briten kämpfte.» Natürlich kämpften die muslimischen Russen nicht für Deutschland, sondern für die Befreiung Asiens und der Moslems – und da drängte sich Grossbritannien als Feind natürlich geradezu auf! Für uns Westler kämpften im Ersten Weltkrieg in erster Linie die grossen zentralistischen Nationalstaaten gegeneinander, «Deutsche» gegen «Briten»; doch aus Sicht der asiatischen Völker sah die Sachlage ganz anders aus: Ungezählte Menschen wurden gezwungen, unter den Flaggen ihrer Unterdrücker zu kämpfen – doch in ihren Herzen sahen die Frontlinien ganz anders aus …

«10 000 ‹Annamesen› weniger wert als ein französischer Hund?»

Als weiteres Beispiel dafür, wie viele Asiaten ihre ganzen Hoffnungen auf Japan als Erlöser setzten, nennt Mishra den Vietnamesen Phan Boi Chau (1867–1940). Sein Text «Geschichte des Verlusts Vietnams» wurde in Liang ­Qichaos Zeitschrift in Japan abgedruckt, erreichte später in Buchform die entlegensten Dörfer Vietnams und wurde zur Bibel von Ho Chi Minh und der Antikolonialisten in Vietnam. Schon früh hatte Phan Boi Chau in einer Mischung aus Scham, Fassungslosigkeit und Zorn über den Angriff der Franzosen auf seine Heimat geschrieben: «Seit der Einrichtung des ­Protektorats haben die Franzosen die Macht über alles übernommen, selbst über Leben und Tod. Das Leben von 10 000 ‹Annamesen› ist weniger wert als das eines französischen Hundes, und 100 Mandarine geniessen weniger Ansehen als eine französische Frau. Wie ist es möglich, dass diese blauäugigen, gelbbärtigen Leute, die weder unsere Väter noch unsere älteren Brüder sind, sich auf unseren Kopf setzen und auf uns defäkieren können?» (zit. nach Mishra, S. 208) Leider muss­ten die Vietnamesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitere Kriege über sich ergehen lassen – mit den bekannten Spätfolgen, wie zum Beispiel des tonnenweise abgeworfenen Giftes Agent Orange. Bleibt zu hoffen, dass im Muskelspiel zwischen den USA und China in Fernost Vietnam nicht wieder zum Spielball im Great Game eines Zbigniew Brzezinskis wird …

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