Vom Wesen der Genossenschaft

Vom Wesen der Genossenschaft

von Helmut Faust*

Kooperation mit wirtschaftlichem Zweck

Wir sahen, dass die der Genossenschaft innewohnende Grundidee auf den einfachen, uralten Gedanken der Kooperation, der Zusammenarbeit, zurückgeht: Ist ein einzelner zu schwach, ein wirtschaftliches oder anderes Ziel zu erreichen, so vereinigt er sich mit anderen. Gemeinsame Bedürfnisse oder Interessen führen einen organisatorischen Zusammenschluss herbei.

Freiwilligkeit

Zu einer Genossenschaft schliessen sich die Menschen immer aus freiem Willen zusammen; nur auf dem Boden der Autonomie, das heisst auf dem Recht, sich selbst zu verwalten, können sie sich zur genossenschaftlichen Verbundenheit bekennen. Dieser Grundzug der Freiwilligkeit ist neben der Gemeinschaftsidee ein wesentliches Merkmal der Genossenschaft.

Offene Mitgliedschaft

In der grundsätzlichen «Offenhaltung» des Teilnehmerkreises der Genossenschaft hat nicht nur die wirtschaftliche Freiheit der Mitglieder ihre Anerkennung gefunden; die «offene Mitgliedschaft» ist auch der Ausdruck des sozialpolitischen Wollens der Genossenschaft. Jedem, der sich genossenschaftlich betätigen will, der durch seine Mitarbeit zur Förderung und Verbreitung des genossenschaftlichen Gedankens beitragen möchte, soll der Zutritt zu einer Genossenschaft möglich sein, niemand, der guten Willens ist, kann von der Mitgliedschaft ferngehalten werden.

Die soziale Komponente

Wenn die Genossenschaften auch grundsätzlich nicht einzig und allein Werkzeuge zur Beseitigung oder Linderung materieller Not sein sollen und theoretisch alle Volksschichten, Stände und Klassen umfassen können, so waren und sind sie doch zu einem erheblichen Teil wirtschaftlich schwache Elemente; industrielle und ländliche Arbeiter und die sogenannten mittelständischen Kreise, Bauern, Handwerker und Kleinhändler, haben durch die genossenschaftliche Vereinigung ihre ökonomische Schwäche zu überwinden und ihre Stellung am Markt zu festigen getrachtet. Ja, wir dürfen sagen, dass gerade die Betätigung der Genossenschaften zugunsten wirtschaftlicher unterlegener oder zurückgebliebener Wirtschaftsgebiete und überhaupt ihre Verwurzelung in den breiten Volksschichten die soziale Komponente der genossenschaftlichen Wirtschaftsform unterstreicht.

Das persönliche Element

Man hat hin und wieder die Genossenschaften als die «Aktiengesellschaften der kleinen Leute» bezeichnet. Das aber ist der Versuch einer Veranschaulichung, die in keiner Weise das Wesen der Genossenschaft trifft. Vergleichen wir die Aktiengesellschaft als typische Vertreterin der reinen Kapitalgesellschaften mit der Genossenschaft in nur wenigen Punkten, so treten die Unterschiede sofort augenfällig hervor. Auch bei der Aktiengesellschaft haben wir die Zusammenfassung vieler einzelner Kräfte zur Erreichung eines Wirtschaftszieles; aber es ist die Vereinigung von Kapitalien. Bei der Genossenschaft dagegen herrscht das persönliche Element ganz unverkennbar hervor. Wirtschaftende Menschen sind die Träger der Genossenschaft, nicht die von ihnen eingezahlten Kapitalien. In solchem Sinne ist auch das Prinzip der Gleichberechtigung zu betrachten, das verankert ist in der gesetzlichen Bestimmung, dass jeder Genosse, gleichviel mit welcher Zahl von Geschäftsanteilen er beteiligt und wie hoch sein eingezahltes Geschäftsguthaben ist, in der Generalversammlung nur eine Stimme hat.
Diese Gleichheit des Stimmrechts und die an die Person gebundene Mitgliedschaft sind die besonderen Kennzeichen der genossenschaftlichen Organisation; sie beruhen auf der persönlichen Grundlage der Genossenschaft und sollen die Gewähr dafür geben, dass der wirtschaftlich Schwächere an den Entscheidungen nicht minder beteiligt wird als der Stärkere und dass der genossenschaftliche Geschäftsbetrieb niemals von anderen, gegen die Mitglieder gerichteten, insbesondere kapitalistischen Interessen beherrscht werden kann.

Demokratische Verwaltung

In der Anerkennung der Prinzipien der Freiwilligkeit und der Gleichberechtigung wird schon deutlich, dass in der Genossenschaft die wirtschaftliche Demokratie verwirklicht wird. Das zeigt sich auch darin, in welcher Weise ihren Mitgliedern die Teilnahme an der Willensbildung ermöglicht wird, also in ihrem organisatorischen Aufbau und in der Art ihrer Verwaltung.
Jeder einzelne Genosse kann sich nicht nur mittelbar in die Kontrolle der Genossenschaft einschalten, sondern auch an den Entscheidungen über das Schicksal der Genossenschaft mitwirken.
So hat die Selbstverwaltung, das heisst die freie, unabhängige Lenkung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten durch die Mitglieder, in der Genossenschaft ihre Verwirklichung gefunden; sie ist zum tragenden Grundsatz des Genossenschaftswesens geworden.

*    Der Text ist ein Auszug aus. dem Schluss­kapitel des heute leider vergriffenen,
1958 in erster und 1977 (Verlag Knapp) in der hier verwendeten dritten Auflage erschienenen Buches von Helmut Faust: Geschichte der Genossenschaftsbewegung. Ursprung und Aufbruch der Genossenschaftsbewegung in England, Frankreich und Deutschland sowie ihre weitere Entwicklung im deutschsprachigen Raum.

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