«Kinder werden heut immer früher gefördert: Babyschwimmen, zweisprachige Kindergärten, Musikstunden schon vor dem Schuleintritt – alles aus dem Wunsch heraus, dem Kind von Anfang an eine optimale Ausgangsposition zu verschaffen. Doch ist es wirklich richtig, die Kleinen schon so früh mit einem vollen Stundenplan zu konfrontieren?» (Wolfgang Bergmann im Klappentext seines Buches)
ds. Förderkonzepte, Förderunterricht im Kindergarten- und Vorkindergartenalter, immer frühere Einschulung, Frühenglisch und Frühchinesisch, Motivationstraining und dergleichen beherrschen staatliche und private Bildungskonzepte zur Frühförderung unserer Kinder. Schon bei den Kleinsten werden mess- und zählbare Bildungsstandards festgelegt, deren Erreichen über die weitere schulische Laufbahn und oft genug über Glück und Unglück im weiteren Leben entscheiden. Kein Wunder, fühlen sich Eltern gedrängt, ihren Kindern das Lesen und Schreiben schon vor dem Schuleintritt beizubringen.
«Lasst eure Kinder in Ruhe!» fordert dagegen der im Mai dieses Jahres verstorbene Erziehungswissenschaftler und Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann in seinem gleichnamigen Buch mit dem Untertitel «Gegen den Förderwahn in der Erziehung».
Kinder brauchen «Liebe statt Leistungsdruck». Sie brauchen Zeit und Musse, und sie benötigen Anerkennung und nicht ständige Belehrung, um die Welt zu entdecken und sich mit ihr vertraut machen zu können. Nur, was sie innerlich «aufnehmen, atmen und festhalten», entwickelt ihr Selbstvertrauen und ihr Vertrauen in die Welt und die Menschen. «Ein Neugeborenes und Kleinkind benötigt Fürsorge, Nahrung und Wärme – darin unterscheidet es sich nicht von anderen neugeborenen Säuglingen. Aber ein kleines Menschenleben braucht mehr, es benötigt Anerkennung.» (S. 13)
Die Förderpädagogik für die Kleinen jedoch mache «haargenau das Gegenteil». Sie sei eine Pädagogik, «die sich in Stil und Inhalt nicht am Kind, sondern an den Erscheinungsformen der Finanzwirtschaft orientiert».
Schaue man die Selbstdarstellung von Kindergärten genauer an, erkenne man rasch, «wie lebensleer und gefühlsarm das alles letztlich ist. So soll die soziale Zukunft unserer Kinder aussehen – so ganz auf Rivalität abgestellt? Wer ist besser als der andere (was immer ‹besser› bedeuten mag)? Das seelische Leben vieler Kinder, das sich nach solchen Vorbildern orientiert, ist zu grossen Teilen auf reiner Repräsentation aufgebaut. Nicht auf innerer Sicherheit. Auf sauberer und glitzernder Selbstdarstellung, in so frühem Lebensalter schon gelernt und trainiert, und nicht auf der Gewissheit des Geliebtseins.» (S. 22)
«Natürlich», schreibt Bergman, «lieben auch moderne Eltern ihre Kinder», aber diese Liebe scheine oft wie erstickt unter den von Eltern selbst nicht durchschauten Leistungszwängen und der eigenen Egozentrik, und so würden Kinder oft zu Vorzeigeobjekten. «Sie sollen aller Welt, der Kindergärtnerin, den anderen Eltern und wem auch immer beweisen, dass sie ganz besondere Kinder sind, hervorragend betreut, geliebt und umsorgt. […] Zum Leistungsklima, in das die Kinder viel zu früh gezwungen werden, kommt Verwöhnung hinzu. Diese Mischung ist teuflisch.» (S. 41)
Je umsorgter Kinder seien, desto unselbständiger würden sie, trauten sich kaum noch etwas zu und wirkten oft antriebslos.
«Unsere Fehler von heute münden in eine hochgradig konfliktanfällige Gesellschaft von morgen. Psychiatrische Diagnosen stehen uns dafür in reicher Zahl zur Verfügung, aber sie sagen wenig über Beschaffenheit und Vorgeschichte dieser Konflikte.» (S. 21)
Noch nie seien Kinder so genau fachwissenschaftlich beobachtet und in ihren Entwicklungsschritten statistisch erfasst worden wie heute. «Noch nie wurde jede minimale Erkenntnis in Form von Normtabellen über Ärzte und in Schulen an Eltern weitergereicht. […] Die kleinste Abweichung wird besorgt registriert, jede winzige Andersartigkeit lastet wie ein Schuldvorwurf auf den jungen Eltern.» Und unter dem ewig besorgten Blick gehe den Eltern ihre Intuition für das Kind verloren. Moderne Kindheit sei von orientierungslosen und gleichzeitig übermässig an ihre Kinder gebundenen Eltern angetrieben.
Wolfgang Bergmann regt an, mit Liebe auf die Dinge zu schauen. «Liebe», schreibt er, «ist eine Art, die Dinge so anzuschauen, dass sie nicht sogleich geordnet und geteilt, sondern zuerst und vor allem empfunden werden.» Wir müssten das Staunen vor dem Wunder des Lebens wieder lernen, bevor wir beurteilen, ordnen und erziehen. Bildung brauche Geduld und Zeit, müsse «Abwege» zulassen. Erziehung und Bildung seien zu komplex – nicht zuletzt angesichts «verwirrender ökonomischer und kultureller Wettläufe» –, als dass wir direkt auf das Lernziel zumarschieren könnten, als hätten wir «tatsächlich seelische Marschstiefel» an den Füssen. Erst durch die Liebe schöpften wir Mut zur Erziehung. «Ich will sagen: Zuversicht kommt aus dem Mut. Mut ist Liebe und Hoffnung. Beides ist schwierig geworden, wir wissen sowenig von der Zukunft und versuchen sie um so unerbittlicher in Beschlag zu nehmen – verfügbar zu machen, für uns und unsere Kinder. Und dann wird alles falsch, alles Reale zu einem Vorwand, Dinge und Menschen und Begebenheiten werden zu einem puren Lernmaterial, aus dem die Gefühle schon ganz verschwunden sind.
Können wir also unseren Kindern Zuversicht geben, Vertrauen auf sich selber und ihr Leben, also ihre Zukunft? Ja, das können wir. Aber ganz bestimmt nicht durch Frühförderung und auch nicht dadurch, dass wir ihnen ständig im Nacken sitzen und ihr Leben in verplante, ‹vernünftige› Ziele packen.» (S. 48f.)
Und als Prinzip formuliert Bergmann: «Hände weg von allem, was sich nicht organisch aus der jeweils aktuellen Erfahrungswelt der Kinder entfalten lässt. Das gilt für die Fünfjährigen und für die Zweijährigen erst recht.» (S. 65)
Im zweiten Teil des Buches geht Wolfgang Bergmann der Frage nach, wie ein Kind neben der Eigenart der Dinge und ihrer Zusammenhänge auch lernt, was Gemeinschaft ist. Hier greift er auf Immanuel Kant und Friedrich Fröbel zurück. Kant, der Philosoph, der das düstere mittelalterliche Menschenbild durch eine «hellere Sicht auf die Kulturfähigkeit des Menschengeschlechts» ersetzt. Und Fröbel, der Entwickler und Erfinder der Kindergärten, der aus Kants Grundannahmen sein Verständnis von Lernen und Bildung entwickelte. «Alles beginnt», so Bergmann, «mit dem grossen Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant. Wir alle stehen geistig-seelisch auf den Schultern dieses grossen Denkers. Friedrich Fröbel tat eben dies. Seine Pädagogik ist eine aus dem Geist der Aufklärung.» (S. 85) Er vertrat wie Kant die These, dass alles Individuelle, «auch das eines Kleinkindes bereits auf Gemeinschaft gerichtet ist». Beide verstanden den Menschen als soziales Wesen.
Seither habe sich nicht viel geändert. Im Gegenteil, die Konzepte von Bildung und Lernen der oberflächlich so modern auftretenden Förderpädagogik führen mit ihrer Ich-Bezogenheit hinter Kant und Fröbel zurück. «Wir sind schon einmal weiter gewesen.»
Alles Wahrnehmen und Lernen baut nach Kant auf «inneren Gewissheiten» auf: «Ein Kind, das viel Urvertrauen erleben durfte, unternimmt froh das abenteuerliche, manchmal befremdliche, manchmal triumphierende Entdecken der Welt. Nicht auf konkrete Wiedergabe von Fakten kommt es dabei an, sondern ausschliesslich darauf, dass sich in ihm ein Sinn für das Wesen und die Schönheit der Welt ausweitet. Damit beginnt alles.
Sind bei Mama und Papa erworbene Sicherheiten verlässlich und tief im Kern des kindlichen Erlebens verankert, dann baut sich auch das Erfassen der Dinge der Welt und der Menschen ebenso verlässlich auf. Sind diese ‹Gewissheiten› freilich ungewiss, brüchig, bleibt auch das Erfahren und Lernen brüchig, fragmentarisch», schreibt Bergmann (S. 89). Das Urvertrauen geht also dem Lernen voraus.
Gute Bildung lehrt, die Welt zu verstehen und zu fühlen. Fühlen und Verstehen sind untrennbar miteinander verbunden. Gefühle werden ebenso gelernt wie das Verstehen der Welt. Lernen ist ein aktiver, schöpferischer Prozess, in dem jedes Kind seine eigene Welt erfindet. Und zugleich ist das Erkunden der Welt «immer auch ein Finden der eigenen Fähigkeiten».
In der Liebe sieht Bergmann die stärkste Brücke zwischen dem Ego des Kindes und der Gemeinschaft. Geborgenheit und Liebe in der frühen Kindheit entwickeln «Grossmut des Herzens», gute Bildung, die fähig und bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Aus jedem Lernen, das den Namen «Bildung» beanspruchen wolle, müsse sich immer gross die Idee der menschlichen Verantwortung erheben. Ethik und kreatives Handeln und Wissen dürften nicht zerrissen werden. Sie gehören denselben menschlichen Entwicklungen an. Das gelte auch für Drei- und Vierjährige. Nach alldem würde man in Förderkonzepten vergeblich suchen; sie erzeugen im Gegenteil Konkurrenzgefühle und Angst und verhindern richtiges Lernen. Bergmann empfiehlt, sie einfach abzuschaffen.
«Lasst eure Kinder in Ruhe!» ist ein lesenswertes Buch, das zum Nachdenken über die selbst erlebte Kindheit und die eigene Vorstellung von Erziehung und Lernen anregt und gut in der Elternarbeit verwendet werden kann. •
Die «inneren Gewissheiten» sind, Kant folgend, frühe Lebensgewissheiten, die unmittelbar aus der Bindung an Mama und Papa hervorgehen. Sie erst schaffen den Mut und das Vertrauen eines Kindes in seine eigene Zukunft. Sie sind die Grundlage für den Glauben an das Gute, an das Moralische. Sie sind der Promotor für all das, was den Menschen ausmacht.
Es gibt gar kein sinnvolles Lernen und erst recht keine Bildung ohne «Gemütskräfte» – ein weiterer zentraler Begriff des Kantschen Bildungsdenkens –, die immer ein eigenes Mass an Gewissheit haben müssen. Ein Kleinkind muss auf Schritt und Tritt Vertrautem begegnen, dem Wiederkennen von Räumen und Gesichtern, Körpern und Stimmen.
Auf solch gewisser Grundlage fasst das Kind den Mut, das Bekannte und Vertraute nun zu überschreiten, immer noch mehr wissen zu wollen, als es schon weiss, und sich grössere Zusammenhänge anzueignen, obwohl sein kleiner Geist sie noch gar nicht erfassen kann. Die kindliche Neugier ist mutig, der Drang der Kinder, die Welt zu erkunden, ist nahezu unwiderstehlich. Und so baut sich ein Abenteuer und Glück suchendes, Schönheit und Form suchendes Wahrnehmen in allen Kindern auf.
Die Welt ist verstehbar, sie kann hell und klar sein, wenn ein vertrauensvoller kindlicher Sinn sich ihr zuwendet. Die gesamte klassische Philosophie der Aufklärung ist darin weit und grossartig und hat wundervolle Sätze dafür gefunden. Nur unsere Pädagogen und viele Wissenschaftler bleiben dem reichen Fundus des Lebens gegenüber dumpf und zahlenverstrickt.
Die ganze Geistes- und Gedankengeschichte der Menschheit ist in dieser Reihenfolge aufgebaut, erst die Bindung, dann die Entdeckung der Eigenarten der Welt. Und dabei die umwerfende Erkenntnis, dass man selber – das Kind mit seinem trotzigen Willen – doch letztlich ein gemeinschaftliches Wesen ist.
Wolfgang Bergmann, «Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den
Förderwahn in der Erziehung» (S. 90f.)
Jesus war Mensch und Gott, aber jedes Kind ist es auf seine Art auch. Jedes ist ein Einzelnes und reift zur Individualität heran und umgreift doch das ganze Menschengeschlecht und teilt sein Geheimnis. Ist solch ein Blick schwulstig, sentimental, ungenau? Ich bezweifle das.
Schauen wir die Kinder mit solch erstaunten, bewundernden Augen an und erkennen wir in ihnen zugleich «unser Kind», Teil unseres Selbst und Teil jener unendlichen Liebe, die ein Kind umfängt, wenn die Eltern sie sich nicht selbst versagen aus mancherlei Gründen, dann haben wir jene Einigkeit erreicht, von der die Evangelien sprechen: Mensch sein und darüber hinausgreifen, ins Unsterbliche, ins Allgemeine und Ewige. Und was verbindet beides? Paulus sagt es, und Jesus sagt es auch: die Liebe. Das versteht, wer es versteht. Und wer es nicht versteht, wird es nie erfassen.
Wolfgang Bergmann, «Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den
Förderwahn in der Erziehung» (S. 139)
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