von Dipl. Psych. und Psychotherapeutin Brigitte Kendel, Berlin
Immer wieder war es das Anliegen von Psychiatrie und Klinischer Psychologie – ausgerichtet an der medizinischen Diagnostik körperlich-organischer Störungen – die Vielfalt der Erscheinungsweisen psychologischer Störungen innerhalb eines nachvollziehbaren, theoretischen Gesamtzusammenhangs zu klassifizieren. Das damit verbundene Ziel war es zum einen, die Störungsbilder kategorial zu erfassen, sie in einen systematischen Ordnungszusammenhang zu bringen und eine verbindliche fachliche Orientierungs- und Kommunikationsgrundlage zu schaffen. Ein weiterer damit verbundener Zweck war es, ein Instrument zu entwickeln, das eine über die allgemeine Klassifikation der psychischen Störungen hinausgehende, zuverlässige diagnostische Zuordnung des Einzelfalls ermöglichte und ein Rüstzeug für das Verständnis des ätiologischen und pathogenetischen Bedingungsgefüges als Ausgangspunkt zur Entwicklung der angemessenen therapeutischen Interventionen der jeweiligen Störung bereitstellte.
So entstanden auf der Basis eines reichen Erfahrungswissens im Zuge der Bemühungen um ein grundlegendes Verständnis der vielschichtigen Probleme, die mit der Erfassung der menschlichen Psyche, ihren Funktionen, Abläufen, gesunden und pathologischen Erscheinungsweisen und individuellen Ausformungen verbunden sind, unterschiedliche Ansätze – insbesonders nosologisch orientierter Klassifikationssysteme mit ihren je eigenen Zugängen und Begrifflichkeiten in bezug auf Verständnis, Diagnostik, Prognose und Heilung seelischer Krankheiten.
In neuerer Zeit entstanden im Zuge des Primats einer rein empirisch fundierten, nomothetischen Wissenschaftsauffassung empirisch konstruierte Kategoriensysteme auf sogenannt rein deskriptiv-empirischer Grundlage. Da es hierbei explizit um eine «theoriefreie» Fundierung psychiatrischer Diagnostik geht, gibt es weder verbindliche theoretische Grundlagen für die Ableitung von Kriterien für die Ursachen und Erscheinungsweisen psychischer Störungen noch für deren Verständnis und für deren Behandlung. Während der Mangel der nosologisch orientierten Manuale darin gesehen wird, dass sie nicht dem Kanon moderner naturwissenschaftlich orientierter Methodik entsprechen, laufen die sogenannt theoriefreien, empiristischen Systeme Gefahr, dass letzlich die Fragen der Psychopathologie und der adäquaten Hilfeleistung im Rahmen von Diskursen bestimmt werden und sachfremde Interessen nicht auszuschliessen sind, was zu einer willkürlichen und ausufernden Pathologisierung menschlicher Lebensprobleme und Verhaltensweisen führen kann (siehe unten DSM-III u.f.).
Zusammenfassend kann man sagen, dass es bis heute keine in Theorie und Praxis befriedigende Systematisierung seelischer Störungen gibt, dass sich jedoch zunehmend der empirisch-nomothetische Ansatz durchsetzt, da weltweit zwei diagnostische Manuale für seelische Krankheiten mehr und mehr dominieren: Das eine Manual ist die internationale Klassifikation der WHO (ICD), die bereits auf Bemühungen von 1853 zurückgeht und in der Ausgabe von 1948 neben den körperlichen Krankheiten erstmals ein eigenes Kapitel über «Geistige, psychoneurotische und Persönlichkeitsstörungen» enthält; dieses Kapitel steht in enger Verflechtung mit der Entwicklung des zweiten diagnostischen Manuals, des Diagnostic and Statistical Manual (DSM) der amerikanischen Psychiatrie. Dieser psychiatrische Diagnosekatalog wird seit 1952 von der American Psychiatric Association herausgegeben und häufig als «Bibel der Psychiater» bezeichnet (siehe unten).
Beide Manuale werden fortgesetzt überarbeitet. So steht für Mai 2013 eine Neuauflage des amerikanischen Klassifikationssystems für psychische Störungen, das DSM-V, bevor, und eine daran ausgerichtete Neubearbeitung des ICD (ICD-11) ist bereits geplant.
Die psychiatrischen Diagnosemanuale spiegeln nicht nur den jeweiligen Stand in der Entwicklung der Seelenheilkunde und der herrschenden Wissenschaftsauffassung wider; sie beeinflussen nicht nur massgeblich die konkrete Weiterentwicklung auf diesem Gebiet, sondern sie stellen tiefgreifende Instrumente im gesellschaftlichen und im persönlichen Bereich des menschlichen Zusammenlebens dar. So kam zum Beispiel die Diagnose «Schizophrenie» in der Nazi-Zeit einem Todesurteil gleich.
In den fachlich anerkannten und in Anwendung befindlichen Manualen ist festgelegt, was im psychischen Entwicklungsrahmen der gesamten Lebensspanne eines Menschen – von Geburt an bis ins hohe Alter – als krankheitswertige Störung anzusehen und mit welcher Begrifflichkeit diese zu belegen ist. Damit verfügen diese Manuale über den Orientierungsrahmen seelischer Gesundheit und seelischer Krankheit einer menschlichen Gesellschaft, das heisst darüber, welches psychische Geschehen, welches menschliche Erleben, welche Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen eines Menschen als psychopathologisch zu beurteilen sind und was als normal angesehen werden kann.
Sie liefern die fachlich gültigen Kriterien zur Stellung einer bestimmten Diagnose. Damit ist auch im gesellschaftlichen Rahmen festgelegt, welche psychischen Störungen gesellschaftlich anerkannt werden. Die Stellung einer anerkannten Diagnose sichert zum Beispiel die Finanzierung des Heilungsprozesses über die Krankenkassen ab. Auch im Bereich psychiatrischer und psychologischer Beurteilungen und Gutachten haben sie einen grossen Einfluss: So dienen sie zum Beispiel als Orientierung im Hinblick auf Krankschreibungen oder krankheitsbedingte Frühberentungen eines Arbeitnehmers. Auch für juristische Entscheidungen dienen sie den Experten als Grundlage zur Beurteilung von Fragen zur seelischen Gesundheit bzw. Krankheit, so zum Beispiel gegebenenfalls bei Sorgerechtsentscheidungen oder in Prozessen, bei denen es um die Beurteilung der Verantwortungs- und Schuldfähigkeit geht, so zum Beispiel ob ein Mensch für seine Tat zu Gefängnis oder eventuell sogar Todesstrafe verurteilt wird oder ob es sich auf Grund der gestellten Diagnose um einen Fall für eine psychiatrische Verwahrung handelt und anderes mehr.
Wie bereits erwähnt, haben die diagnostischen Manuale einen grossen Einfluss darauf, in welche Forschungsprojekte die Gelder aus Staat und Wirtschaft fliessen. Die explizierten Krankheitsbilder werden in der Forschung als Basis zur Entwicklung von weiteren Forschungsfragen, Forschungsdesigns und Forschungsvorhaben verwendet. Auf diese Weise haben die Manuale eine bestimmende Wirkung sowohl auf die Richtung der Weiterentwicklung der Forschungsfragen, -themen und -methoden als auch für die praxisbezogene Anwendung in bezug auf die Heilmethoden, wie zum Beispiel die Entwicklung von Psychopharmaka.
Neben diesem Einfluss auf den Mainstream der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung haben sie eine weitreichende Auswirkung auf die Vorstellungen und das Selbstverständnis der Betroffenen selbst. Sie beeinflussen auch die Sicht der Angehörigen und des sozialen Umfeldes und formen die in der Gesellschaft vorherrschenden Meinungen und Vorstellungen in bezug auf das Phänomen seelischer Störungen und den Umgang mit dieser Problematik.
Die Auffassung dessen, was als psychisch krank angesehen wird, und die Festschreibung von psychiatrischen Krankheitsbildern vollzieht sich immer auf der Grundlage eines kulturellen Hintergrundes, eines impliziten Menschenbildes und eines spezifischen Wissenschaftsverständnisses. Eng damit verbunden sind auch die Vorstellungen über die krankmachenden Ursachen und über die Wege der Heilung.
Daher ging die Beschreibung und Klassifikation von Krankheitsbildern üblicherweise mit einer Darstellung nosologischer und ätiologischer Aspekte einher, die auf der Grundlage des erarbeiteten Erfahrungs-, Forschungs- und Wissensschatzes die Basis bildeten für die Zuordnung der Erscheinungsbilder, für mögliche Entstehungszusammenhänge und für Wege der Heilung.
Ein eindrückliches Beispiel für den engen Zusammenhang zwischen dem vorhandenen Grundverständnis der psychischen Störung und der Entwicklung von Heilmethoden stellt die Behandlung psychotischer Menschen mit den Mitteln des Exorzismus dar, was zu einer Zeit geschah, als in unserem Kulturkreis Teufelsbesessenheit als Ursache einer manifesten Psychose angesehen wurde.
Kulturübergreifend werden heute soziale Einbindung, die Fähigkeit zu Kooperation und gegenseitigem Geben und Nehmen sowie zu mitmenschlicher Schwingungsfähigkeit und Anteilnahme als normales, seelisch gesundes Verhalten gewertet, während die eigenaktive Ausgrenzung und Selbstisolierung eines Menschen durchweg als für die Spezies Mensch untypisches Verhalten eingestuft wird (vgl. Pongratz, L. J.: Lehrbuch der klinischen Psychologie, S. 56 f.).
Diese Auffassung wird von den gegenwärtigen Erkenntnissen der Humanwissenschaften, insbesondere der Anthropologie, der modernen Entwicklungspsychologie, Neurobiologie und Hirnforschung auf einer empirischen Basis gestützt. Sie zeigen auf, dass das von Geburt an vorhandene Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Verbundenheit ein von der physiologischen Bedürfnisbefriedigung unabhängiges und eigenständiges Bedürfnissystem ist, das einer ganz spezifischen Befriedigung durch eine psychisch zugewandte, feinfühlige Bezugsperson bedarf.
Das Menschenkind kommt für dieses lebensnotwendige zwischenmenschliche Wechselspiel vom ersten Atemzug an hochkompetent und funktionstüchtig ausgestattet auf die Welt. Von Geburt an ist das menschliche Gegenüber als Dialogpartner für das Überleben des Kindes unabdingbar und unersetzbar. Die Qualität des zwischen Mutter (Bezugsperson) und Kind entstehenden Dialoges hat eine weitreichende Bedeutung für die Ausbildung der Beziehungsfähigkeit, für die Sicherheit der entstehenden Bindung, für das psychische Wohlbefinden und die seelische Resilienzentwicklung des Kindes.
Die Erfahrung, als Person emotional bejaht zu werden, sich verstanden zu fühlen, in verlässliche und befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen eingebunden zu sein, sowohl nehmen als auch geben zu können, bildet die Voraussetzung einer optimalen Individualentwicklung und ist die Grundlage von psychischem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit. Die Fähigkeit, für andere eine Stütze zu sein sowie sich auch selbst auf tragende zwischenmenschliche Beziehungen abstützen zu können und nicht alleine zu stehen, bilden im Verlaufe der gesamten Lebensspanne eines Menschen eine wesentliche Ressource im Rahmen der Bewältigung kritischer Entwicklungsphasen und Lebenskrisen.
Diese lebenslange Ausgerichtetheit des Menschen auf den Mitmenschen ist ein evolutionäres Erbe und hat nichts zu tun mit einer psychopathologischen Abhängigkeit.Sie ist ein arttypisches Merkmal der Spezies Mensch und ein Ausdruck seiner auf zwischenmenschlichen Austausch und Kooperation angelegten Sozialnatur.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das Wissen um die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung (um den sogenannten «Rapport», das heisst die Wirksamkeit der Persönlichkeit des Arztes auf den Patienten) vor der Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften im gesamten Bereich der Medizin nicht nur bekannt, sondern eine Selbstverständlichkeit war, zum Handwerkszeug des Heilens gehörte und in der Fachwelt bewusst reflektiert wurde.
Erst mit der Entwicklung und Ausarbeitung der naturwissenschaftlichen Methodologie und dem Siegeszug des Positivismus im 19. Jahrhundert definierte sich die Medizin zunehmend naturwissenschaftlich. Die rasante Entwicklung auf diesem Gebiet, die zu einer beeindruckenden Apparatemedizin und einem Prozess fachlicher Ausdifferenzierung führte, brachte es mit sich, dass die Relevanz der Arzt-Patient-Beziehung vernachlässigt wurde und in der heutigen Medizin eher als ein blinder Faktor mitläuft.
Diese Entwicklung vollzog sich nicht parallel im Bereich der Psychiatrie, die, was die Methodik der Erkenntnisgewinnung anlangt, ihre geisteswissenschaftlichen Wurzeln beibehielt und auf einen hermeneutischen, auf nachvollziehendem Verstehen und Einfühlungsvermögen basierenden Zugang angewiesen war, um sich den Weg zu einem Grundverständnis psychischer Störungen und deren Heilung zu bahnen.
Die Möglichkeiten psychotherapeutischer Hilfe wuchsen auf der Basis eines personalen Menschenbildes. Die Entwicklung auf diesem Gebiet vollzog sich auf der Grundlage von sprachlichem Austausch in einem Forschungsprozess, der ideografisch das individuelle Gewordensein der Person in ihrem biographischen und kulturellen Kontext untersucht, der in die individuelle seelische Strukturbildung und in die subjektive Sinnhaftigkeit seelischer Verarbeitungsprozesse vordringt, der die unbewussten Aspekte menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns in ihren die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden einschränkenden Anteilen aufdeckt und bearbeitet und im Resultat den Weg zu einem erweiterten Spektrum menschlicher Persönlichkeitsentwicklung freilegt.
Analog zu der in den Naturwissenschaften etablierten, wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung wuchsen und wachsen die Bemühungen darum, auch seelische Phänomene mit naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen.
Bereits Freud ging von physischen oder somatischen Begleitvorgängen aller bewussten wie auch unbewussten seelischen Prozesse aus und hoffte, eine naturwissenschaftlich fundierte Erforschung des sogenannten «psychischen Apparates» – vor allem der komplexen unbewussten Prozesse – begründen zu können (vgl. Freud, S.: Abriss der Psychoanalyse, S. 18–20). Auch versuchte er, den Prozess der Psychoanalyse und die zugrundeliegende Arzt-Patient-Beziehung vermittels eines streng definierten «Arbeitsbündnisses» zu rationalisieren und zu verwissenschaftlichen, indem er sich seinen Patienten mit «freischwebender Aufmerksamkeit» und als »Projektionsfläche» im Rahmen der Gewinnung und Erforschung des unbewussten seelischen Materials und dessen Deutung zur Verfügung stellte, ansonsten jedoch als Person in bewusster personaler Distanz und Abstinenz verblieb.
In dieser Konzeption konnte die zwischenmenschliche Beziehung als zentraler Ausgangspunkt seelischer Gesundheit in einem ihrer wichtigsten Aspekte nicht zur Entfaltung kommen, nämlich – vermittels der emotional verstehenden, mitmenschlich integrierenden und bejahenden Akzeptanz der Person des Patienten – als Ressource der Entwicklung und als Agens der Heilung wirksam zu werden. So konnte Freud mit dem psychoanalytischen Instrumentarium zwar Neurosen heilen, nicht jedoch Psychosen. Es war das Verdienst der Individualpsychologie Alfred Adlers, die zentrale Bedeutung der menschlichen Sozialnatur und der damit zusammenhängenden psychischen Grundbedingungen der menschlichen Entwicklung (siehe unten) als Conditio sine qua non zur Erlangung und Erhaltung seelischer Gesundheit herauszuarbeiten.
Einen wichtigen Beitrag leisteten in der Nachfolge Freuds auch die Vertreter der Neopsychoanalyse und deren Nachfolger, die die Bedeutung der Persönlichkeit und emotionalen Beziehungsfähigkeit des Psychotherapeuten erkannten und erforschten und die in einer professionell, echt und angemessen geführten zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient eine wesentliche Grundlage und Voraussetzung seelischer Heilung sahen. Sie praktizierten auf der Basis dieses personalen Menschenbildes auch erfolgreich im Bereich der Psychosen und gaben ihre Erfahrungen und Erkenntnisse im Rahmen der Ausbildung angehender Psychiater und Psychotherapeuten weiter. In der Schweiz zum Beispiel wurde mit der sogenannten «Daseinsanalyse» (Binswanger) ein eigenständiger Ansatz aufgebaut. Ebenso suchte Gertrude Schwing einen personalen Ansatz und die Benedetti-Schule entwickelte aus diesen Anfängen eine eigenständige Herangehensweise personaler Psychotherapie. Alle diese positive Resultate aufweisenden Schulen der Psychotherapie wurden durch die Mitte der 80er Jahre vollzogene Einführung einer nomothetisch orientierten, sogenannt wissenschaftlich fundierten Diagnostik in ihrer Entwicklung gedämpft (siehe unten).
Obwohl heute die zentrale Bedeutung der psychotherapeutischen Beziehungsqualität im Rahmen der modernen Psychotherapieforschung herausgearbeitet und von der Hirnforschung neurophysiologisch bestätigt worden ist und als ein methodenunabhängiger gemeinsamer Wirkfaktor und Prädiktor für den Erfolg einer Psychotherapie gilt, findet diese zentrale Erkenntnis keinen Niederschlag mehr in den hier behandelten und weltweit dominierenden Diagnose-Instrumenten (siehe unten).
Zunächst kurz zur chronologischen Entwicklung des DSM:
1952 DSM-I, 130 Seiten, 106 Diagnosen
1968 DSM-II, 134 Seiten, 182 Diagnosen
1980 DSM-III, 494 Seien, 265 Diagnosen, deutsch 1984
1987 DSM-III-R (Revision) 567 Seiten, 292 Diagnosen, deutsch 1989
1994 DSM-IV, 886 Seiten, 297 Diagnosen, deutsch 1996
2000 DSM-IV-TR (Text-Revision), deutsch 2003
2013 DSM-V, geplantes Erscheinen 2013, seit 1999 in Arbeit
Bei näherer Betrachtung fällt ins Auge, dass die Anzahl der Diagnosen mit jeder Ausgabe steigt. Das beruht nicht immer auf einer grösseren Spezifikation im Rahmen der fachwissenschaftlichen Weiterentwicklung. Die Entstehung oder auch das Verschwinden von Diagnosen können mit fachfremden Einflüssen zusammenhängen.
So schrieben zum Beispiel die Autoren des DSM-II (1968) in dessen 7. Auflage (1974) die Diagnosen nicht nur ausschliesslich auf der Grundlage fachlicher Begründung weiter fort, sondern auch unter gesellschaftspolitischem Druck: Im Zusammenhang mit der in jener Zeit rollenden sexuellen Revolution – Stichwort mag hier der sogenannte «Kinsey Report» sein, der später als wissenschaftlicher Betrug entlarvt wurde – sowie einhergehend mit der 1970 in San Franzisko stattfindenden Homosexuellenkonferenz und weiteren Agitationen und Protesten wurde zum Beispiel die Diagnose «Homosexualität» in der Auflage von 1974 ersatzlos gestrichen.
Auch wurde und wird von verschiedenen Seiten her – so zum Beispiel im Deutschen Ärzteblatt vom 7.5.2008 – vor einer Verflechtung der Autoren des DSM mit der Pharmaindustrie und vor dadurch entstehenden Interessenskonflikten und einer damit verbundenen Gefahr der Beeinflussung des diagnostischen Instrumentariums, zum Beispiel durch Erschaffung neuer, medikamentös zu behandelnder Syndrome, gewarnt. Um dies zu vermeiden, wird nicht nur eine Beschränkung der Verdienste der Autoren bei Pharmafirmen eingefordert, sondern auch eine Offenlegung ihrer firmenbezogenen Aktivitäten, zum Beispiel als Redner oder Gutachter.
Eines der ersten psychiatrischen Manuale in den USA und Vorläufer des DSM stammt aus dem Jahr 1917 und beinhaltete 22 verzeichnete Diagnosen. Es wurde noch während des zweiten Weltkrieges 1943 im Rahmen der US-Armee überarbeitet und durch eine neue und erweiterte Klassifikation ersetzt.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg viele Soldaten wegen schwerer psychischer Schäden behandelt werden mussten, wurde von der American Psychiatric Association (APA) eine noch umfassendere Klassifikation erstellt, nämlich die 1952 erschienene erste Ausgabe des DSM-I mit 106 Diagnosen.
DSM-II erschien 1968, enthielt bereits 182 Störungsbilder und im Verlaufe der verschiedenen Ausgaben auch immer wieder aktuelle Veränderungen.
Die Ausgabe des DSM-III von 1980, in der ein diagnostischer Paradigmenwechsel stattgefunden hat, enthält bereits 265 Störungsbilder.
Mit dieser Neuausgabe wurde die bisherige ideografisch orientierte Herangehensweise im Bereich der psychiatrischen Diagnostik und Heilbehandlung aufgegeben und von einer nomothetischen Wissenschaftsauffassung mit dem entsprechenden methodologischen Instrumentarium abgelöst (siehe unten).
Die Autoren begründen diesen Paradigmenwechsel mit der mangelhaften Wissenschaftlichkeit der vormaligen Auflagen des DSM und deren Verwurzelung und unangemessenen Nähe zu den Geisteswissenschaften.
In der deutschsprachigen Ausgabe des DSM‑III von 1984 ist zu lesen, es gehe um eine «[…] entschieden kritische Haltung gegenüber vorbestehenden Theorien und Theoriegebäuden» (DSM-III, S. IX), das heisst um einen «streng empirische[n] Ansatz» mit der Hoffnung, auf diesem Weg zu objektiven, realwissenschaftlichen Erkenntnissen zu kommen. Das Anliegen sei eine fortzuschreibende, theoriefreie klinische Deskription und «möglichst vorurteilsfreie und präzise Abgrenzung aller als psychiatrisch relevant und unterscheidbar angesehener Syndrome» (DSM-III, S. V). Die Hauptaufgabe der psychiatrischen Diagnose wird darin gesehen, «[…] die einzelnen Patienten in geeignete Positionen eines klassifikatorischen Systems einzuordnen, und zwar auf der Basis derjenigen auszuwählenden Kategorien, die sich in Hinblick auf bestimmte wissenschaftliche und praktische Ziele als sinnvoll und nützlich gezeigt haben» (DSM-III, S. IX). Des weiteren soll «frei von historischen Konnotationen, nosologischen Vorurteilen und schulgebundenen Akzentuierungen» (DSM-III, S. XI) eine «übereinstimmende Terminologie und geeignete Methoden zur Quantifizierung der psychiatrischen Sachverhalte» – einschliesslich der Diagnose – «erreicht werden» (DSM-III, S. IX).
Die nomothetische Basis der Diagnostik soll eine präzisere Diagnostik ermöglichen und «[…] Einfluss darauf gewinnen, wie in Zukunft die psychiatrische Behandlung durchgeführt wird. Dies betrifft zum Beispiel die Notwendigkeit, die zahlreichen heute verfügbaren psychotropen Substanzen spezifischer einzusetzen» (DSM-III, S. XI).
Neben den im Zentrum stehenden Symptombeschreibungen bietet das DSM-III statistische Angaben zum Beispiel über die geschlechtliche Verteilung der psychischen Störungen, über das typische Alter des Ausbruchs, über die Wirkung von Behandlungen, Behandlungsarten und anderem mehr.
In diesem auf strengen positivistischen Maximen beruhenden Ansatz erfolgt die Diagnostik auf der Grundlage von aufgelisteten und abzufragenden Symptomen, von deren Kombination die Benennung der Diagnose abhängt. Damit haben die Autoren die frühere, in der Psychiatrie praktizierte personale Grundorientierung aufgegeben: nämlich vermittels des geschulten psychotherapeutischen Gesprächs als zentralem Instrument – sowohl im Rahmen der Diagnostik als auch der Heilung – bereits von der ersten Begegnung an die hohe Individualität der seelischen Entstehungszusammenhänge des komplexen Einzelfalls im Rahmen einer prozessual fortschreitenden und bereits heilsame Wirkmomente befördernden Diagnostik immer genauer zu erforschen, nachzuvollziehen und in ihrem individuellen Funktionszusammenhang auf der Grundlage einer explizierten Theorie verstehen zu lernen.
Dementsprechend finden sich im DSM‑III keinerlei über die Symptombeschreibung hinausführende nosologische oder ätiologische Zuordnungen, noch anamnestisch bedeutsame Hinweise, die der Erforschung der ursächlichen und auslösenden Faktoren, zum Beispiel im lebensgeschichtlichen Kontext, dienlich sein oder zum Verständnis der hochindividuellen Verarbeitung der funktionalen Dynamik und Finalität seelischer Bewegungen beitragen könnten.
Statt dessen enthält das DSM-III ein auf Multiple-choice beruhendes, «ausgeklügeltes multiaxiales System» (DSM-III, S. XIV), das einen Informationshintergrund für die Einschätzung der jeweiligen Störung, für deren Behandlung und für die zu erwartende Prognose des Patienten auf verschiedenen Ebenen vermitteln soll und für den Einzelfall eine Einordnung der beschriebenen Symptome in einen Rahmen abzufragender, individueller Lebensumstände ermöglicht (DSM-III, S. V).
Mit dieser radikalen, sich als Einführung von Wissenschaftlichkeit legitimierenden Umorientierung im Bereich der Diagnostik wurde der bis anhin in der Psychiatrie und klinischen Psychologie erarbeitete kasuistisch-ideographische Ansatz und damit der Reichtum an Wissen und Erfahrung vieler Forschergenerationen zugunsten des psychometrischen Ansatzes als unpräzise und unwissenschaftlich entwertet und verworfen. In Konsequenz dieses Ansatzes zeigt sich fortan eine gravierende Vernachlässigung oder sogar Streichung des personalen Faktors in der Ausbildung zum Psychiater.
Durch diese Missachtung des zwischenmenschlichen Faktors wird der Forschungsgegenstand und die Aufgabe der Psychiatrie, nämlich die Erfassung individueller seelischer Tätigkeit und die darauf aufbauende Hilfeleistung nicht nur um ihren zentralen, individuumszentrierten, personalen Faktor verkürzt und verfremdet, sondern geradezu essentiell verfehlt.
Die Zielstellung des DSM-III besteht erklärtermassen in einem Regelwerk wissenschaftlich fundierter, theoriefreier, rein beschreibender Diagnostik. Das zugrundeliegende wissenschaftliche Instrumentarium beruht auf der Auffassung, dass die mathematischen Grundlagen sowohl klassischer als auch stochastischer Messmodelle zum Zweck einer verbindlichen Einordnung, Systematisierung und Klassifizierung von klinischen Symptomen sowie für die individuelle Diagnostik seelischer Störungen und deren Behandlung taugen. Die Zusammenstellung der Symptome – die realiter selten in abgegrenzter Form erscheinen, vielmehr in fliessenden Übergängen und Überlappungen – und die Kombination der Symptome zu Syndromen geschieht jedoch nicht nur auf einer rein empirischen Ebene, sondern beruht auf hypothesengeleiteten Definitionen dessen, was als klinisch relevantes psychisches Verhalten gelten soll.
Weder die darauf aufbauende Operationalisierung noch die Wissenschaftskriterien für die Gültigkeit und Verlässlichkeit der Ergebnisse haben einen objektiven Charakter. Vielmehr beruhen die sogenannten «harten Daten» auf den vereinbarten statistischen Gütekriterien der Scientific community.
Um den Gegenstand der Forschung adäquat abbilden zu können, muss das angewandte Forschungsinstrumentarium ihn in seinen konstituierenden und relevanten Dimensionen abbilden. Hier bewährt sich der im DSM praktizierte sogenannte objektive, realwissenschafliche Ansatz nicht, da Subjektverhalten in seinen psychischen Dimensionen keinem Determinismus unterliegt. Zwar lässt es sich nachvollziehen, entzieht sich jedoch grundsätzlich nomothetischen Kausalzusammenhängen und ist nicht verallgemeinerbar. Daher lässt sich psychisches Verhalten auch in kein Skalenniveau pressen, das jedoch die Voraussetzung für die Mathematik der statistischen Operationen ist.
Auch gehen die angewandten statistischen Verfahren mit ihrer zugrundeliegenden analytischen Zergliederung und Quantifizierung seelischer Prozesse am ganzheitlichen Gesamtzusammenhang psychischer Prozesse vorbei. Ebenso gehen durch die Standardisierung die individualen, personalen Zusammenhänge verloren, die den Kern einer angemessenen Individualdiagnostik und einer darauf aufzubauenden Heilbehandlung bilden. Als Resultat entsteht statt dessen ein auf dem Boden der Anonymität und im Rahmen einer sogenannten Normalverteilung gewonnener, repräsentativer Mittelwert, eine Art Phantom-Individuum. Das konkrete Individuum erscheint als eine Abweichung dieses Mittelwertes, jedoch nur unter einzelnen Aspekten und nicht in seiner personalen Identität.
Da die angewandten Methoden den Gegenstand der Forschung nicht erfassen – weder die Qualität des Psychischen noch das Individuum in den psychischen Dimensionen seiner Lebensaktivität und in den konstituierenden Aspekten seiner Einzigartigkeit und Ganzheitlichkeit – handelt es sich um pseudowissenschaftliche Ergebnisse.
Unter dem Verdikt einer Verwissenschaftlichung und Internationalisierung, vornehmlich in den USA und in Europa, wurde der nosologisch orientierte und ideografische Ansatz psychiatrischer Diagnostik von den Autoren mit der Ausgabe des DSM von 1980 paradigmatisch aufgegeben. Die zu stellenden, standardisierten Diagnosen werden von nun an auf dem Boden einer Liste rein empirisch beschriebener, unterschiedlicher Symptome gebildet und ergeben sich aus einer jeweils spezifischen Kombinationen dieser Merkmale.
Der Standardisierung der Diagnostik über testtheoretische Messverfahren liegt eine mathematisch fundierte, künstlich erzeugte Vergleichbarkeitsgrösse zugrunde. Anders als in den Naturwissenschaften, wo Zahlen einen analogen Ausdruck real vorhandener Gesetzmässigkeiten spiegeln, lassen sich psychische Inhalte und Qualitäten nicht mit einem solchen Instrumentarium wissenschaftlich abbilden, so dass mit dieser diagnostischen Methode der Zugang zur Einmaligkeit und Subjekthaftigkeit eines jeden Individuums verschlossen bleibt und die etablierte einheitliche Nomenklatur die Frage, was hinter der Begrifflichkeit steckt, nicht zu beantworten vermag.
Die Folge der Überarbeitungen des DSM war jeweils ein starkes Anwachsen diagnostischer Störungen und der diagnostizierten Menschen. Dies führte dazu, dass federführende Herausgeber – Robert Spitzer (DSM-III) und Allen Frances (DSM-IV) – heute alarmiert sind. Sie kämpfen gegen das Erscheinen von DSM-V und räumen explizit Fehler mit schlimmen Konsequenzen ein, die ein im diagnostischen System selbst begründetes, hohes Risiko falsch-positiver Diagnosen zeitigten (siehe unten).
Ursprünglich angetreten mit der Intention einer weitestgehenden Erfassung und hilfreichen Versorgung aller von psychischen Problemen Betroffenen, warnen ehemalige Autoren heute vor ihrem jetzigen Erfahrungshintergrund vor dem Ausbau weiterer Diagnosen und der Aufnahme von Klassifikationen im DSM-V, die Menschen, welche nie ernsthafte psychische Probleme hatten, pathologisieren und normale Lebenskrisen und Entwicklungsschwankungen zu pathogenen Ereignissen machen.
So soll zum Beispiel im DSM-V die tiefe Trauer um verstorbene Menschen, «Complicated Prolonged Grief», die bisher kein speziell psychiatrisches Leiden war, nun als ein pathologischer Zustand eingeführt werden. Auch sollen im Rahmen individuell empfundener Belastungssituationen prämorbide Symptome – als Risikosyndrom «Praepsychotic Disorder» genannt – im Sinne der Früherkennung erhoben werden. Dabei ist bekannt, dass selbst von den sogenannten Hochrisikopatienten nur ein Bruchteil erkrankt.
Dies bedeutet neben den finanz- und gesundheitspolitischen Implikationen eine drohende Pathologisierung des Normalen, eine Flut medikamentöser Behandlungen und nicht zuletzt eine Rasterung und Normierung der menschlichen Persönlichkeit. «DSM-V könnte die Welt mit zehn Millionen neuer, aber falscher Patienten füllen» (Allen Frances, zitiert nach «Süddeutsche Zeitung» vom 9./10. Juli 2011, S. 22).
Insbesondere die Kinder werden mit immer mehr Diagnosen überzogen. So gibt es bereits für Säuglinge Diagnosen wie «Temper-Dysregulation Disorder» oder «Feeding Disorder». Die Definition des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADHS) ist so allgemein gehalten, dass diese Störung geradezu epidemisch anschwoll und zu einem ungeheuren Verbrauch von Psychopharmaka führte. Laut Frances («Tagesspiegel» vom 27. Juli 2011) sollen Studien erwiesen haben, dass allein in den USA über eine Million Kinder falsch diagnostiziert und pharmazeutisch behandelt worden sein sollen.
Aus Präventionsgründen werden Kinder immer öfter Tests unterzogen und sind in Gefahr, dass Entwicklungsschwankungen fälschlicherweise pathologisiert und medizinisch behandelt werden. «Auf jeden jungen Patienten, der richtig diagnostiziert wurde, kommen zwischen drei und neun Menschen, die fälschlicherweise zu Patienten gemacht werden» (Allen Frances, zitiert nach «Tagesspiegel» vom 27. Juli 2011).
Bedenkt man die Wirkung des DSM und ähnlich aufgebauter Manuale im Hinblick auf den hippokratischen Eid – der besagt, als erstes keinen Schaden anzurichten – so erbringen sie keine adäquate Hilfe zur erhofften Linderung individuellen psychischen Leids, sondern fungieren eher als institutionalisierte Instrumente, die für die Betroffenen und deren soziales Umfeld zur Quelle von Leid, sozialer Diskriminierung, Etikettierung und Stigmatisierung werden können.
Historisch war die Entwicklung der Diagnostik eingebunden in den Zusammenhang der fachlichen Entwicklung der Psychiatrie. Im Rahmen expliziter theoretischer Fundierungen verschiedener Schulen stand sie als ein Instrument der Praxis im Dienst des Verstehens und der Heilung seelischer Krankheiten. Den neuen pseudowissenschaftlichen Manualen liegt weder eine Theorie seelischer Gesundheit noch eine der seelischen Krankheit zugrunde. Die Ernennung von Verhaltensweisen zu psychischen Störungen und die Benennung von Symptomen beruht auf Übereinkunft und statistischer Bearbeitung und bietet keinen Zugang zu den vorhandenen Problemen.
Die angestrebte Objektivität und Vereinheitlichung der diagnostischen Terminologie mag die fachinterne Kommunikation vereinfachen, vernachlässigt jedoch den der menschlichen Psyche innewohnenden subjektiven Faktor. Als relevant und produktiv für den Prozess der Heilung hat sich gerade das Verständnis für die hinter der Nomenklatur vergleichbarer Symptome und Syndrome stehenden individuellen, vielfältig ausdifferenzierten Entstehungs-, Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge seelischer Reaktionen erwiesen. So warnen selbst Befürworter der nomothetischen Umorientierung vor einer Fortschrittsgläubigkeit, die in den klinischen Deskriptionen objektive Befunde sieht (vgl. DSM-III, S. V, VI).
Geistige Prozesse sind nicht messbar. Sie sind nur zugängig, wahrnehmbar und erfassbar durch intersubjektive Prozesse der Verständigung und gegenseitiger Interpretation. Dabei geht es um ein genaues Erfassen des individuellen Kontextes des Gewordenseins und des Erlebens. Dieses Basiswissen ist nicht mit standardisierten Fragebögen im Ja/Nein-Ankreuzverfahren zu erlangen, sondern nur in einem entfalteten, fachlich fundierten und menschlich zugewandten Prozess der individuellen Annäherung an die relevanten Inhalte, die hinter einer sogenannten Störung stehen.
Die einseitig ausgerichtete Bemühung um eine Vermessbarkeit des Psychischen sowie um Treffsicherheit und Abgrenzbarkeit der Symptome und Diagnosen vernachlässigt den der menschlichen Natur zugehörigen Beziehungsaspekt als Agens der Heilung. Die Hoffnung dabei ist, dass mit fortschreitender Erkenntnis und wachsendem Verständnis der komplexen neurochemischen Regelkreise und Funktionsmechanismen der Hirntätigkeit – analog zu den körperlichen Krankheiten –auch die psychischen Vorgänge auf einer materiellen Basis zu erfassen sind und mit einem – gegenüber der personalen Psychotherapie weit weniger aufwendigen – zielgerichtet symptomorientierten Behandlungsansatz vermittels Psychopharmaka «normalisiert» werden können.
Auf diesem Weg wird die hirnorganische Tätigkeit zwar in ihren neurobiologischen Korrelaten erfasst, jedoch um die Aspekte und Resultate ihrer geistig-seelischen Dimensionen verkürzt, und der Mensch erscheint in dieser Reduktion als ein neurochemisch gesteuertes Reflexwesen. Mit dieser Ignoranz gegenüber der Vieldimensionalität psychischer Verarbeitungsprozesse und psychischer Strukturbildung, gegenüber der schöpferischen Eigenaktivität jedes Individuums im Hinblick auf die subjektive Sinn- und Bedeutungsgebung seines Erlebens und Verhaltens, werden alle die Person eines Menschen konstituierenden Elemente ausgeschaltet.
Bis heute gibt es aus der neurowissenschaftlichen und genetischen Forschung keine harten Daten für biologisch fundierte Diagnosen. Auch die Entwicklung der Psychopharmaka und ihre symptomorientierte Wirkung lässt noch viele Fragen offen. Obwohl ihr Einsatz gegebenenfalls in Notfällen wirksam sein kann oder zum Beispiel und auch in bestimmten Fällen eine Psychotherapie erst ermöglicht, verkennt eine ausschliesslich auf psychotrope Substanzen angelegte, reine Symptombehandlung die Ganzheitlichkeit seelischer Strukturen und die Chance einer strukturellen Persönlichkeitsentwicklung, die mit einer gelungenen personalen Psychotherapie einhergeht.
So wird in einer rein medikamentös angelegten Behandlung ohne personale Psychotherapie der Mensch zum Objekt, und die jedem Menschen innewohnenden Fähigkeiten und Möglichkeiten werden vernachlässigt, im Rahmen eines emotional tragenden, professionellen Arbeitsbündnisses an der Überwindung der Probleme und der damit zusammenhängenden Umbildung seiner seelischen Strukturen aktiv mitzuwirken und sich aus bisherigen Beschränkungen herauszuentwickeln.
Die Wechselwirkung von unbewussten und bewussten Prozessen ist heute ein von der Forschung vielfach belegtes Faktum. Dies gilt sowohl für die Existenz unbewusster Verarbeitungsprozesse und ihre Einflussnahme auf das menschliche Verhalten als auch für den umgekehrten Prozess, nämlich die Beeinflussbarkeit unbewusster Vorgänge über eine Lenkung des Bewusstseins.
Dieses kooperative Wechselspiel zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein bildet den Ausgangspunkt menschlicher Persönlichkeitsentwicklung und die Chance neuer nervaler Bahnungen in einem personal angelegten psychotherapeutischen Entwicklungsprozess. Um bisher unbewusste, eingefahrene Muster verändern zu können, bedarf es der Erarbeitung eines erweiterten Selbstverständnisses durch Reflexion und Bewusstseinsbildung im Rahmen des psychotherapeutischen Forschungsprozesses sowie der bewussten Umsetzung und Einübung der neuen Perspektiven im Rahmen des täglichen Erlebens und Verhaltens.
Veranlasst durch die die Lebensqualität beeinträchtigende Symptombildung, findet im Rahmen der Notwendigkeit eine gezielte psychotherapeutische Aufarbeitung des Gewordenseins und der zwischenmenschlichen Erlebnisse innerhalb der relevanten zwischenmenschlichen Bezüge des Klienten statt. So entsteht ein emotionaler Zugang zu wirksamen, bisher unbewussten Anteilen des Erlebens und Verhaltens und eine Erweiterung des bisherigen Bewusstseinshorizontes in bezug auf die subjektiven Beweggründe und Zusammenhänge der Gefühlsbildung und der Reaktionsweisen.
Für einen solchen Prozess wachsenden Bewusstseins stellt von Anfang an der gelingende, zwischenmenschlich getragene, verlässliche therapeutische Kooperationsprozess eine notwendige Voraussetzung und Grundlage dar, und zwar sowohl im Hinblick auf die Diagnostik als auch hinsichtlich der Erarbeitung der hochindividuellen psychisch relevanten Inhalte und der darauf aufbauenden Hilfeleistung zur Überwindung der psychisch einschränkenden Störungen.
Insbesondere das sorgfältig geführte diagnostische Gespräch gerade am Beginn einer Behandlung zeitigt gegenüber einer rein standardisierten, unpersönlichen Diagnostik vermittels Checkliste einen Bonus, der gerade in Fällen grosser Mutlosigkeit oder Resignation durch die erlebte fachliche und menschliche Vertrauenswürdigkeit, in der sich der Patient als Person vorbehaltlos entgegengenommen und gewertschätzt fühlt, zum Tragen kommen kann: nämlich das häufig mit dem Erstgespräch und der Anfangsphase der Therapie verbundene Aufkeimen einer vielleicht noch so verborgenen Hoffnung auf Hilfe und Veränderung. Dies bedeutet, durch die Methode der personalen Diagnostik von Anfang an die Beziehung zum Patienten als ein Agens der Heilung und als Ressource gerade auch für kritische Entwicklungsphasen im Rahmen der Psychotherapie aufzubauen, zu gestalten und zu nutzen.
Da die Qualität des zwischenmenschlichen Beziehungsgeschehens und der emotionalen Eingebundenheit in jeder Phase und Situation des Lebens nachgewiesenermassen von essentieller Bedeutung sind für die menschliche Persönlichkeitsentwicklung und die seelische Befindlichkeit, ist es eine zentrale Aufgabe geschulter Fachlichkeit, eine adäquate psychotherapeutische Beziehung anzubieten und zu entwickeln und die ihr innewohnenden Ressourcen professionell im Rahmen von Diagnostik und Heilung seelischer Störungen auszuschöpfen.
Dieser personale Prozess geht im gelungenen Fall einher mit einem Persönlichkeitswachstum des Hilfesuchenden, was sich als gefühlte Stärkung und Ermutigung in dessen gesamter Persönlichkeit niederschlägt und sich objektiv im Rahmen der Lebensbewältigung in einer deutlichen Linderung oder sogar Überwindung der Probleme zeigt. Durch den verstehenden Zugang zu sich selbst und die mit der personalen Therapie einhergehende zwischenmenschliche Absicherung in einer Vertrauensbeziehung erweitern sich die subjektiven Erlebensräume und der individuelle Handlungsradius in der Auseinandersetzung mit den Realitäten des Lebens.
Dies führt zu dem Schluss, dass die im DSM-III kritisierte sogenannte Unwissenschaftlichkeit der alten Psychiatrie mit ihren den Geisteswissenschaften nahestehenden Methoden des Verstehens, Nachvollziehens und einer geschulten Empathie als Grundlage eines heilsamen und persönlichkeitserweiternden psychotherapeutischen Forschungs- und Beziehungsgeschehens durchaus ein adäquates methodisches Rüstzeug darstellen, mit dem es möglich ist, den individuellen Kern psychischer Störungen und psychischen Leids zu erfassen und im Rahmen einer heilsamen therapeutischen Beziehung zu bearbeiten.
Eine gelungene personale Psychotherapie manifestiert sich in ihren wesentlichen Aspekten in einer die ganze Person erfassenden seelischen Beruhigung und geht einher mit einer Festigung und Bereicherung der Gesamtpersönlichkeit, mit wachsendem Selbstvertrauen, mit einer vermehrten seelischen Flexibilität und Schwingungsfähigkeit, mit einer zunehmenden emotionalen Eingebundenheit und Sicherheit unter den Mitmenschen, mit einer wachsenden mitmenschlichen Verantwortlichkeit, mit einem grösseren Spektrum an Handlungsmöglichkeiten zur Bewältigung der anstehenden Lebensaufgaben, einer Balance im Geben und Nehmen und anderem mehr.
Psychotherapie in diesem Sinne bedarf – anders als eine rein psychotrope Behandlung – neben der wissenschaftlichen Fachausbildung einer besonderen Persönlichkeitsschulung des Psychotherapeuten. Dies betrifft insbesondere seine Beziehungsfähigkeit und sein Vermögen, sein Gegenüber grundsätzlich als Person zu bejahen, entgegenzunehmen und mit geschulter Empathie ohne parataktische Verzerrungen wahrzunehmen. Es bedeutet auch, zu einer permanenten Selbstkorrektur bereit zu sein, um das entstehende Bild und Verständnis des seelischen Erlebens und der Reaktionen des Hilfesuchenden im Verlaufe des intersubjektiven Forschungsprozesses immer wieder falsifizierend zu überprüfen.
Dieses zwischenmenschliche Instrumentarium ist die fachliche Grundlage, um die seelischen Prozesse zu erhellen und einer Reflexion und Veränderung zugängig zu machen. Durch diese gemeinsame Arbeit kann sich der Patient durch ein wachsendes Verständnis seiner selbst stärken, das Vertrauen in sich selbst entwickeln und stabilisieren, sich die im psychotherapeutischen Gespräch entgegengebrachte Achtung und Bejahung zu eigen machen und auf diesem Weg an seiner seelischen Gesundung und mitmenschlichen Verbundenheit aktiv mitwirken.
Die Resultate einer solchen personal fundierten Psychotherapie fussen auf der Kenntnis der menschlichen Sozialnatur, den Eigenschaften menschlicher Hirntätigkeit, der lebenslangen Plastizität des menschlichen Gehirns und der damit verbundenen Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Die Veränderungen sind objektiv sowohl in der Praxis des Lebensvollzugs des Patienten nachzuweisen als auch mit bildgebenden Verfahren im Rahmen der Hirnforschung als neurostrukturelle Veränderungen.
Diagnostische Manuale, deren wissenschaftliche Konstruktion so angelegt ist, dass wesentliche Parameter der seelischen Tätigkeit – wie Subjektivität, Intersubjektivität und Ganzheitlichkeit – keine kategoriale Abbildung finden, sind der menschlichen Psyche nicht angemessen und erfassen nicht die seelische Individualität einer Person.
Die zugrundeliegende Aufspaltung des Zusammenhangs von Diagnostik und Therapie, der rein deskriptive Ansatz und der Verzicht auf einen übergreifenden theoretischen Rahmen, selbst die Vereinheitlichung der Nomenklatur haben allenfalls ein für soziologische, administrative, gesundheitspolitische oder sonstige gesellschaftspolitische Fragestellungen dienliches Instrument hervorgebracht, jedoch kein der menschlichen Psyche angemessenes, subjektwissenschaftlichen Kriterien genügendes Instrument der Hilfeleistung.
Die zentralen Inhalte und Zusammenhänge geistig-seelischer Prozesse, die hinter den beschriebenen Symptomen und der Nomenklatur der Diagnosen stehen, können mit der angewandten Methodologie nicht erfasst werden und sind sowohl inhaltlich als auch in ihrer subjektiven Relevanz nur in einem menschlich tragenden, fachlich fundierten, intersubjektiven Forschungsprozess innerhalb eines psychotherapeutischen Arbeitsbündnisses kooperativ zu erschliessen.
Hinter dem DSM steht ein positivistisches, gewissermassen entseeltes und auf neurobiologische Strukturen verkürztes Menschenbild, bei dem die geistigen, subjektkonstituierenden Faktoren bewusst ausgeschaltet werden und als Ziel eine immer perfektere medikamentöse Steuerung psychischer Störungen angestrebt wird.
Da die menschliche Psyche als geistig verarbeitendes und selbstreflexives Organ sich nicht in ein manipulierbares, reduktionistisches Reiz-Reaktions-Schema pressen lässt, führt eine ausschliesslich medikamentöse Behandlung ohne fundierte zwischenmenschliche Psychotherapie häufig dazu, dass der betroffene Mensch trotz einer wahrgenommenen Erleichterung seines Zustandes sich nicht heimisch mit sich fühlt, verunsichert bleibt in bezug auf seine Person und häufig den medikamentösen Einfluss als etwas ihm Fremdes und Unangenehmes erlebt und innerlich ablehnt. Erst wenn er sich in einem psychotherapeutischen Prozess als Person angesprochen und einbezogen fühlt, menschliche Wertschätzung erfährt, sich einen verstehenden Zugang zu sich selbst und auch erweiterte Erlebensperspektiven und Handlungsmöglichkeiten erarbeitet, kann er die Medikamentengabe integrierend als Hilfe zuordnen, einen selbstbejahenden Umgang mit sich pflegen und sich als Macher und Gestalter seines Lebens und Herr seiner Person erfahren und fühlen.
Solange es diagnostische Manuale wie das DSM gibt und sie Verwendung finden, ist meines Erachtens eine Sensibilisierung der Fachwelt für die in der menschlichen Sozialnatur verankerten, sozio-emotionalen Grundlagen menschlicher Persönlichkeitsentwicklung und seelischer Hilfeleistung unabdingbar, um Schaden auf diesem Gebiet zu vermeiden.
Der hochsensible Bereich seelischer Hilfeleistung, der beurteilend und prägend in die Lebensgeschichte und den Lebensaufbau bereits von Kindern und Jugendlichen hineinwirkt, bedarf des Schutzes vor Überformung durch Ideologien und Fremdinteressen und darf nicht einer letztlich ökonomisch und politisch motivierten Dominanz – im Falle des DSM amerikanischer Auffassungen – zum Opfer fallen.
Es ist und bleibt die zentrale Aufgabe dieses Zweiges der Humanwissenschaften, Menschen auf den unterschiedlichen Stationen ihres Lebensweges bei der Bewältigung ihrer jeweiligen Lebensprobleme im Rahmen ihrer Lebensaufgaben, beim Hineinwachsen ins Leben, in Liebe, Gemeinschaft und Beruf, im Alter und in Krisen die notwendige psychische Hilfe und Unterstützung zu bieten, zur Entwicklung eigener Ressourcen beizutragen und die Hilfesuchenden wieder der Verfügung über sich selber zuzuführen. Das sind wir uns und dem hippokratischen Eid schuldig. •
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