Die Zauberlehrlinge

Die Zauberlehrlinge

von Reinhard Koradi, Dietlikon

Die Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise hat inzwischen geradezu groteske Formen angenommen. Vor allem wird tunlichst vermieden, die Ursachen der Krise anzugehen. Würden die Ursachen angegangen, dann müssten schwerwiegende Versäumnisse, Denk- und Handlungsfehler eingestanden werden. Entsprechend stellte sich zwingend die Frage nach den Verursachern, was deren Bemühen erheblich erschwert, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach müssten dann nicht die Bürger der Staaten mit noch einigermassen intakten Staatsfinanzen für den angerichteten milliardenschweren Schaden aufkommen, sondern die Verursacher selbst. Noch verschanzen sich die EU-Schwergewichte Deutschland und Frankreich, aus welchen Motiven auch immer, hinter dem Euro-Rettungsschirm. Allerdings geht es auch hier einmal mehr um einen Etikettenschwindel, gelten doch die Rettungsanstrengungen nicht wirklich den notleidenden Euro-Ländern, sondern den in die Sackgasse geratenen Banken.
Die Finanz- und Weltwirtschaft geriet unter der Schuldenlast einiger Euro-Länder und der Vereinigten Staaten von Amerika in eine äusserst dramatische Lage. Die tiefgreifende Krise der Industrieländer hat vielfältige Ursachen. Neben einem gehörigen Mass an Überheblichkeit der herrschenden Eliten, eines völlig ausser Kontrolle geratenen Wirtschaftscredos der grenzenlosen Märkte ist es primär die nicht mehr zu überbietende Schuldenwirtschaft der sogenannten «ersten Welt». Die USA zeigen mit dem Finger auf Europa und fordern eine rasche Lösung der Euro-Krise. Dies wohl, um von den eigenen Problemen abzulenken und vor allem um einmal mehr die Finanzwelt zu retten. Primär liegen die Wurzeln der aktuellen Notlage aber in den USA (Überschuldung in ungeheurem Ausmass) und der Fehlkonstruktion der Gemeinschaftswährung Euro.
Sollte noch grösserer Schaden auch nur halbwegs vermieden werden, dann sind schmerzliche und tiefgreifende Korrekturen absolut dringend. Übrigens lassen sich die Korrekturen weder durch Vertuschen noch Zuwarten vermeiden. Die grosse Frage ist nur, ob diese chaotisch oder geordnet ablaufen werden. Die Welt – besser gesagt – die EU, die USA, aber auch Frau Merkel und Herr Sarkozy, einige Notenbankchefs und der IWF entscheiden über Chaos mit sehr unerfreulichen Begleiterscheinungen oder über ein Krisenmanagement, das ebenfalls erhebliche Opfer fordert, sich aber doch an ordnungspolitischen Rahmenbedingungen orientiert.
Erstes Gebot ist, dass das Verursacherprinzip entscheidend aufgewertet wird. Die Regierungschefs und Vertreter internationaler Organisationen haben sich an die Fakten zu halten und sollen aufhören, den Bürgern weiter Sand in die Augen zu streuen.

Das Unwahrscheinliche denken

Die hochverschuldeten Länder müssen ihre Souveränität zurückholen. Sie müssen in der Bewältigung der masslosen Überschuldung «Entscheidungsfreiheit» haben. Die ausser Kontrolle geratenen Staatshaushalte sind als nationales Problem zu akzeptieren und auch zu lösen. Die Hochstufung der nationalen Schuldenpolitik auf eine europäische oder gar Weltebene verunmöglicht die ursachenbezogene Lösung der Schuldenkrise. So sind nun einmal geographische Grenzen eine absolute Notwendigkeit, um die räumliche Eingrenzung der Krise und damit auch effektive und realistische Lösungsansätze zu entwickeln und umzusetzen.
Jeder Jungwald muss vor dem Wildfrass geschützt werden. Und notleidende Staaten sind nichts anderes als Jungwälder, die einen besonderen Schutz benötigen. Die grenzenlosen Märkte haben ihre Berechtigung in derart dramatischen Situationen längst verloren. Schutz und Kontrollen sind Voraussetzung für einen Wiederaufbau, der den nationalen Interessen entspricht und damit auch von den Bürgern mitgetragen wird. Ein Europa der Vaterländer wird wohl am ehesten über die notwendige Vernunft und Kraft verfügen, um den vollständigen Absturz in das Chaos zu vermeiden.
Weder ein Schuldenschnitt noch der Austritt aus der Euro-Zone, vielleicht sogar eine Kündigung der EU-Verträge, ja die Rückkehr zu nationalen Währungen dürfen ein Tabu bleiben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise nimmt vor allem durch die Sippenhaftung der Euro-Länder dramatische Ausmasse an. Der Euro, die Gemeinschaftswährung der EU, ist seit seiner ersten Stunde ein währungs- und wirtschaftspolitischer Sündenfall. Eine Volkswirtschaft funktioniert nicht, wenn Ungleichgewichte jeglicher Art dominieren, wie dies bei dem Nord–Süd- und West–Ost-Gefälle in Europa der Fall ist. Brüssel versucht zwar, durch Transferzahlung das Gefälle künstlich auszugleichen; doch die Transfer-Union EU hat die Grenzen der Machbarkeit schon längst überschritten.
Auf nationaler Ebene besteht die reale Chance, die Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben, Wirtschaftsentwicklung und Geldmenge oder Importen und Exporten, Arbeitseinkommen und Konsumausgaben wiederzufinden, denn die relative Kleinräumigkeit erlaubt eine auf die Bedürfnisse der Bevölkerung abgestimmte Landes- und damit auch Wirtschafts- und Währungspolitik.

Selbstverantwortung für die notleidenden Staaten

Die notleidenden Staaten müssen in ihre Unabhängigkeit entlassen werden und sich eigenverantwortlich der Schuldenkrise annehmen. Schulden mit neuer Verschuldung aus der Welt zu schaffen, hilft höchstens den Banken, bestimmt aber nicht den betroffenen Staaten. Der ins Uferlose gewachsene Schuldenberg muss rigoros abgebaut werden. Das tut weh, vor allem den Gläubiger-Banken. Zum Schuldenschnitt kommen bestimmt auch Sparprogramme. Die Regierungen werden ihre Politik gegenüber den Bürgern offenlegen und ihre Ernsthaftigkeit, im Interesse ihres Landes zu handeln, durch Taten beweisen müssen.
Den Schuldenschnitt, den Erlass von Schulden, haben die Gläubiger zu tragen. Das trifft die Banken hart. Doch im Gegensatz zu den aktuellen Plänen der EZB (Europäische Zentralbank) ist es ein Gebot der Stunde, dass die Banken die Folgen ihrer allzu risikoreichen Kreditvergabe und damit die Abschreiber auf den Schrottpapieren selbst zu tragen haben. Nicht die Steuerzahler kaum beteiligter Länder sollen für das Hochrisikogeschäft der Banken geradestehen, sondern allein die involvierten Banken.

Schuld der Banken oder der Steuerzahler?

Warum sollen Steuergelder für die Fehlspekulationen und die Kasinomentalität der Banken eingesetzt werden? In Konkurs zu gehen mag zwar für die einzelnen Bankhäuser schmerzlich sein und dürfte auch erhebliche volkswirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Aber was wiegt wohl schwerer? Der Zusammenbruch der Staaten Europas oder der Untergang einiger überdimensionierter Banken? Strukturbereinigungen sind wiederkehrende Ereignisse in der Wirtschaftsgeschichte. Die Maschinen- und Textilindustrie hat diese Prozesse über sich ergehen lassen müssen, und für die Landwirtschaft wird eine Strukturbereinigung gar politisch erzwungen. Die heutige Banken- und Finanzwirtschaft hat wohl ihren Zenit überschritten und muss sich dem Schrumpfungsprozess stellen. Je schneller diese Tatsache akzeptiert und das Veto gegen das eigenmächtige Handeln der Finanzwelt, des IWF, der EZB und einiger wirtschaftshöriger Exponenten aus Regierung und andern Chefetagen eingelegt wird, desto eher kann eine Gesundung der sehr bedrohlichen Lage in Gang kommen.
Die von IWF und EZB verschriebene Medizin zur Schuldenwirtschaft ist blosse Symptombekämpfung mit unkontrollierbaren Spätfolgen. Schulden mit neuen Schulden in den Griff zu bekommen, ist ein Hochrisiko- wagnis, das die noch halbwegs gesunden Volkswirtschaften mit in den Abgrund reissen dürfte. Wäre nicht ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vorzuziehen? Mit anderen Worten: Was spricht gegen einen geordneten Konkurs von «kranken Volkswirtschaften und Banken»?
Der Euro-Rettungsschirm zielt in die falsche Richtung. Er wird Europa wirtschaftlich ausbluten, ohne die geringste Chance auf eine Bereinigung der Finanz- und Wirtschaftsmisere. Dagegen waschen die Banken ihre «giftigen Darlehen» rein, indem sie das eingegangene Risiko an die Bürger der Euro-Länder abtreten. Allein über die nationale Souveränität, Eigenverantwortung und durch die Anwendung bewährten volkswirtschaftlichen Wissens gibt es einen – wenn auch beschwerlichen – Weg aus der Finanz- und Wirtschaftskrise der einzelnen autonomen Nationalstaaten.
Die Zeit ist reif, dem uniformen, neoliberalen Diktat aus Übersee, der EU und dem IWF eine eindeutige Absage zu erteilen. Sie haben mit ihren Theorien und Massnahmen (grenzenlose Märkte und Notenpresse ankurbeln) gleich dem Zauberlehrling gehandelt, der seinen Zauberstab und -spruch vergessen und damit die Kontrolle über das Geschehen verloren hat.    •

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