Die Hybris gewisser Hirnforscher

Die Hybris gewisser Hirnforscher Gegen die Entmenschlichung des Individuums

von Eva-Maria Riester, Biologin

Obwohl laut Aussage von Wissenschaftlern eine Theorie der Neurowissenschaft überhaupt fehlt,1 ist der «Hype» um die Neurowissenschaft noch relativ gross. Ähnlich wie beim Humangenomprojekt (1990 gegründet, 2003 abgeschlossen), in welchem die genetische Information des menschlichen Erbgutes entschlüsselt wurde und welches unglaubliche therapeutische Möglichkeiten für die Medizin versprach, werden immense Summen in bestimmte Ansätze der Gehirnforschung investiert mit all den Versprechungen, die auch bei dem genetischen Projekt nicht in Erfüllung gegangen sind. Ein Ansatz, der neben bildgebenden Verfahren mit Millionen von Forschungsgeldern gefördert wird, geht von der Vorstellung aus, dass es möglich sei, die Funktionsweise des Gehirns mit dem Computer nachzubilden. Zugrunde liegt die Annahme, das Gehirn funktioniere genauso, und so müsste es möglich sein, dass sich auf Grund veränderter Hirnaktivität beispielsweise psychische Erkrankungen feststellen lassen. Der promovierte Pharmakologe und Neurowissenschaftler Felix Hasler räumt in seinem Buch «Neuromythologie» gründlich mit derart platten Vorstellungen von Hirnfunktionen auf.2 Dennoch hat zum Beispiel die Invalidenversicherung Luzern sich hinreissen lassen, als «diagnostische Methode» für psychische Erkrankungen beziehungsweise Arbeitsfähigkeit «Hirnscans» durchzuführen, die jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehren.3
Der biologistische Ansatz, den Menschen auf die angeblich digitale Funktionsweise seines Gehirns reduzieren zu wollen, bringt verschiedene Probleme mit sich. Es ist mehr als fraglich, ob man dem kranken Menschen damit irgendwie helfen kann. Der Nutzen der Neurowissenschaft wird zum Beispiel von Prof. Andreas Heinz,4 folgendermassen eingeschätzt: «Es wurde viel Geld in dieses Gebiet gesteckt – klinisch ist wenig herausgekommen.»
Ein reduktionistischer Ansatz, der den Menschen quasi als Maschine erscheinen lässt, birgt die Gefahr, ein Bild vom Menschen in die Gesellschaft zu tragen, das ihn entmenschlicht und so einem Nützlichkeitsdenken preisgeben könnte. Der Mensch als Person, seine Seele, sein Bewusstsein, sein Geist werden nicht mehr erfasst. Der psychisch Kranke hat in dieser Sichtweise ein krankes Gehirn und braucht dann ein Medikament, damit das Hirn wieder funktioniert. Wer aber fragt ihn nach seinem Leben, seinem Erleben, seinem Leid?
Auch in den verschiedenen neuen Bildungsplänen, sei es in Deutschland oder in der Schweiz, zeichnet sich ein plattes Input-Output-Denken ab, welchem dieselbe Sichtweise vom Menschen zugrunde liegt. Kinder sind hier nur noch «lernende Systeme», das Individuum nichts anderes mehr als eine leistungsfähige Lernmaschinerie. Funktioniert das «System» Kind darin nicht, wird ihm ein diagnostisches Etikett angeheftet, statt dass man es pädagogisch unterstützt, damit es wieder lernen und sich menschlich aufrichten kann.
Da eine systemisch-kybernetische Reduktion des Menschen auf seine digitale Hirnfunktion also in vieler Hinsicht problematisch ist, soll im folgenden erläutert werden, warum dies allein schon aus biologischer Sicht eine einseitige Beschränkung ist: Denn das Gehirn arbeitet nicht einfach wie ein Computer.

Wie arbeitet das Gehirn denn wirklich? Wo stimmt der Vergleich mit einem Computer nicht? Oder liegt der Funktion von Nervenzellen doch eine Art binärer Code zugrunde? Lässt sich ein Gehirn so gesehen über kurz oder lang nachbauen, wenn nur die Datenmenge und ihre Verarbeitung optimiert werden können?
Wenn der Arzt die Gehirnaktivität eines Menschen testen möchte, kann er ein EEG (Elektroenzephalogramm) durchführen. Er misst dabei die elektrischen Spannungsänderungen, welche in den Nervenzellen entstehen. Deren Arbeit basiert auf elektrischen Impulsen im Bereich von Millivolt, die messbar sind. Wenn man die Spannungsänderungen an einer Nervenfaser grafisch darstellt, sieht man «Spikes». Diese sind immer gleich hoch, ihr Wert also stets gleich. Bei der Weiterleitung von elektrischen Impulsen entlang einer Nervenfaser gibt es nur die Alternative: Spike oder Nicht-Spike, nur «ja» oder «nein» ist möglich. Dieses Alles-oder-Nichts-Prinzip entspricht der Funktionsweise eines Computers. Hierbei gibt es auch nur zwei alternative Zustände: entweder 0 oder 1, und alle Informationen werden damit verschlüsselt. Der Buchstabe A hat beispielsweise in diesem Binärcode (binär = aus 2 Einheiten bestehend) die Codierung 00001, B ist 00010 usw. Diese Art der Informationscodierung (Verschlüsselung) nennt man digital. Die Informationsweitergabe an den Nervenfasern entspricht mit nur zwei Alternativen (Spike ja – Spike nein) der digitalen Codierung eines Computers. Damit ist jedoch nur der Ablauf an den Nervenfasern erfasst, nicht aber an der kompletten Nervenzelle.
Bei der Übertragung der Information von einer Nervenzelle zu einer anderen findet ein Wechsel der Codierung (Verschlüsselung der Information) statt, und zwar von digital zu analog. Wie muss man sich das vorstellen? Eine Nervenzelle besteht aus einem Zellkörper – man kann ihn sich wie einen Stern vorstellen. Von den «Zacken-Enden» aus gehen Nervenfasern. Manche davon leiten einen elektrischen Impuls zum Zellkörper hin, und oft ist nur eine Faser vorhanden, welche ihn vom Zellkörper wegleiten kann, hin zu einer anderen Nervenzelle. Diese ableitende Faser (Axon) endet mit einer kleinen Verdickung, welche mit der nachfolgenden Nervenzelle keine Berührung hat. Es besteht ein kleiner Spalt. Wenn nun ein elektrischer Impuls entlang einer Nervenfaser geleitet wird, kommt er über diesen Spalt nicht hinweg, genauso wenig wie Strom bei einem durchgeschnittenen Kabel noch weiterfliessen kann. Die Lücke in der Leitung setzt einen Stopp. Wie wird nun der Spalt zwischen dem Ende der Faser und der nachfolgenden Nervenzelle – man nennt diese Schaltstelle Synapse – überbrückt?
Gelangt der elektrische Impuls an eine Synapse, bewirkt er, dass Überträgerstoffe (die in der Verdickung am Ende der Faser gelagert sind) in den Spalt ausgeschüttet werden. Sie wandern zur gegenüberliegenden Zelle und lösen dort eine chemische Reaktion aus. Dadurch tritt in der nachfolgenden Nervenzelle wiederum eine Änderung der elektrischen Spannung ein. Die Funktion einer Nervenzelle folgt also immer dem Schema: elektrisch (Nervenfaser) – chemisch (Synapse) – elektrisch (Nervenfaser) – usw. und wandert so von einer Nervenzelle zur anderen.
Der chemische Vorgang stellt nun aber eine analoge Codierung dar. Was heisst das? Analog bedeutet, dass Reiz und Signal einander entsprechen, sie sind proportional. Früher konnte man zum Beispiel bei einem analogen Telefon hören, welche Nummer man gewählt hatte. Wählte man eine Drei, so waren 3 Klicks im Hörer zu vernehmen, bei der Sieben waren es eben 7 Klicks. Analog heisst: Je stärker der Reiz, desto stärker das Signal. Bei einer Nervenzelle bedeutet das: Je mehr Überträgerstoffe ausgeschüttet werden, desto stärker die Veränderung der elektrischen Spannung an der nachfolgenden Nervenzelle. Auf eine bestimmte Reizgrösse folgt eine genau entsprechende Reizantwort, die kontinuierlich alle möglichen Zwischenwerte haben kann (also nicht nur 2 Alternativen).
Nervenleitung, also auch Gehirntätigkeit, bedeutet also immer einen Wechsel von digitaler und analoger Verschlüsselung (Codierung) der Information: digital (Nervenfaser) – analog (Synapse) – digital – analog … Die Arbeit des Gehirns beruht auf komplizierten Verrechnungsvorgängen dieser Abläufe. An einer Nervenzelle liegen zwischen 1 und 200 000 (!!!) Synapsen.
Ein Beispiel dazu: Wir alle kennen die Erfahrung, dass man sich auf eine Arbeit konzentriert und gleichzeitig Radio hört. Das Gehirn kann den Hörreiz jedoch so stark ausblenden, dass man sich gar nicht erinnert, ein Lied überhaupt gehört zu haben. Das heisst, die Nervenzellen verrechnen die eintreffenden elektrischen Signale analog, bewerten die Information, und nur ein Teil der empfangenen Reize wird tatsächlich ans Grosshirn weitergeleitet. Hier finden ganz genau solche Verrechnungsprozesse statt, welche zum Beispiel die Konzentration auf etwas Bestimmtes ermöglichen.
Wenn man zu Forschungszwecken eine Beschränkung der Gehirnuntersuchung auf die digitale Codierung vornimmt, muss man eingestehen, dass man damit einen wesentlichen Teil der Gehirntätigkeit des Menschen ausgeblendet hat. Propagiert man etwas anderes, trägt man zur Konstruktion eines Menschenbildes bei, in welchem das menschliche Gehirn letztlich als eine Maschine erscheint, dessen Nachbau in greifbare Nähe gerückt zu sein scheint, wenn nur noch ein paar methodische Probleme gelöst sind. Dabei war jetzt noch nicht einmal davon die Rede, dass das Gehirn seine Strukturen verändern kann und in enger Verbindung mit dem zweiten Steuerungssystem unseres Körpers arbeitet: dem Hormonsystem.
Die Reduktion der Gehirnfunktion auf den Bereich der digitalen Codierung an der Nervenfaser kann man aus Forschungszwecken vornehmen, aber man muss dies dann auch dazusagen und nicht vorgeben, dadurch zu einer umfassenden Erkenntnis zu gelangen. Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht darum, sinnvolle medizinische Grundlagenforschung zu torpedieren, sondern darum, die im Raum stehende Verabsolutierung eines Forschungsansatzes zu beleuchten, als werde hier der Mensch in seinem Wesen als Ganzes erfasst. Doch das Gehirn funktioniert nicht wie ein Computer, der Mensch ist keine Maschine. Der Mensch hat ein Gehirn, er ist aber nicht sein Gehirn. Andere Wissenschaften – Philosophie, Anthropologie und Psychologie beispielsweise – haben sehr viel mehr zum Verständnis des Wesens Mensch beigetragen als die Neurowissenschaften.
Ein Freund formulierte es einmal so: Man glaubt ja auch nicht die Mondscheinsonate zu finden, wenn man das Klavier zerlegt.    •

1    «Es fehlt eine Theorie der Neurowissenschaft», Interview in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 16.4.2014 mit Felix Tretter, dem Ärztlichen Leiter der Suchtabteilung am Isar-Amper-Klinikum München Ost
2     Felix Hasler, Neuromythologie, transcript Verlag, Bielefeld 2012
3    «Allein angewandt wären sie Mumpitz», Neue Zürcher Zeitung, 18.1.2014
4    Prof. Andreas Heinz ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin; <link http: www.nzz.ch wissenschaft bildung das-gehirn-ist-ein-wunderbares-organ-1.18295786>www.nzz.ch/wissenschaft/bildung/das-gehirn-ist-ein-wunderbares-organ-1.18295786, 5.5.2014

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