«Politische Ideen kommen und gehen, die Kinder bleiben»

«Politische Ideen kommen und gehen, die Kinder bleiben»

Besuch in einer russischen Sonderschule

von Maria Koch

In Zeit-Fragen Nr. 20 berichteten wir über den Besuch in einem grossen Kinderheim in Peterhof, Nähe St. Petersburg. Wir, eine Gruppe von Pädagogen, Heilpädagogen und Sozialpädagogen, durften auch eine öffentliche Sonderschule in Peterhof besuchen. Wir wollten etwas darüber erfahren, wie im russischen Schulsystem behinderte Kinder gefördert und beschult werden.

Kaffee und Kuchen, Obst und Gebäck – ein herzlicher Empfang am Morgen im Büro der Schulleiterin. Frau Viktoria Gnezdilova und einige ihrer Mitarbeiterinnen nehmen sich Zeit, uns ausführlich über die Schule zu informieren und unsere Fragen zu beantworten. Wir erfahren, dass diese Schule von 500 Schülern besucht wird. Wir staunen: eine so grosse Schule mit lernbehinderten und verhaltensauffälligen Kindern – wie kann das gehen? Aus der Schweiz und Deutschland sind wir Förderschulen mit so vielen Schülern nicht gewohnt. Die Kinder kommen zum Teil aus dem Kinderheim Nr. 1 1, die meisten aber wohnen zu Hause – im ganzen Stadtgebiet – und kommen mit Schulbussen oder öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule. Die Schüler werden in 32 Klassen unterrichtet. Diese werden nach leichter, mittlerer und schwerer Behinderung eingeteilt.

Obligatorische Prüfungen und Vorbereitung auf das Leben

Inhaltlich lernen die Schüler den gleichen Stoff wie Schüler der Regelschulen bis zur 5./6. Klasse. Sie nehmen in den Fächern Mathematik und Russisch sogar an den obligatorischen Prüfungen teil, die alle Regelschüler Russlands absolvieren. Ihnen wird nur eine halbe Stunde zusätzliche Prüfungszeit zugestanden. Im Anschluss an die Schule werden sie auf den Beruf vorbereitet. Die Betriebe sind, das wissen wir bereits aus dem Besuch im Heim, darauf eingestellt und auch dazu verpflichtet, Sonderschüler auszubilden, und auch hier bestätigt man uns wieder, dass sie das gerne tun, weil sie gute Erfahrungen mit diesen Schülern gemacht haben. Die Schüler machen meist eine vereinfachte Lehre (Attest-Lehre) in Handwerksberufen wie Bäcker, Abwart, Metzger, Automechaniker, Coiffeur, oder sie werden Verkäufer und Logistiker. Dieses Spektrum entspricht in etwa dem, in dem auch unsere schwächeren Schüler einen Beruf erlernen, sei es, dass sie in der Regelschule integriert waren oder eine Kleinklasse oder Förderschule besuchten. Auf jeden Fall wird grosser Wert darauf gelegt, dass alle Schüler eine Anschlusslösung haben, dass sie ihr Leben selbständig meistern lernen.
Wir werden durch das ganze, grosse Schulhaus geführt. Viele Klassentüren stehen uns offen, wir können Unterrichtssequenzen beobachten, in Sportstunden Einsicht nehmen, Schüler und Schülerinnen beim Werkunterricht sehen. Die Klassenzimmer sind hell, freundlich und funktionell ausgestattet, sogar mit der neuesten Technik wie Computern und Beamern. An den Wänden hängen Schülerarbeiten und Anschauungsmaterial zum Stoff. Wir besuchen Mathematik- und Russischlektionen verschiedener Schulstufen. Mit dabei ist immer Elena, unsere Übersetzerin, die uns auch die Unterrichtsverläufe, die Dialoge zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen sowie Schülern übersetzt, so dass wir sehr genau mitbekommen, was inhaltlich verhandelt wird. Der Unterricht verläuft überall ruhig, in guter Stimmung. Die Schüler und Schülerinnen sind lebendig und unterschiedlich wie überall, aber sie sind bei der Sache.

Methodisch-didaktisch durchdachter Unterricht

Uns fällt der gut durchdachte didaktisch-methodische Aufbau in der Stoffvermittlung auf. Vom Leichteren zum Schwereren, vom Einfachen zum Komplexeren, vom Anschaulichen zum Abstrakteren, gut angepasst an die Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen. In allen Unterrichtslektionen, die wir sehen, findet Klassenunterricht statt, die Schüler lernen gemeinsam, die – übrigens ausnahmslos chic und elegant gekleideten – Lehrerinnen führen den Unterricht, sie sind liebevoll und sehr in Beziehung zu den Schülern, ruhig und konsequent, immer orientiert an der Sache. Wir sehen fragend-entwickelnden Unterricht, die Schüler probieren in angeleiteten Sequenzen, Lösungen für ein Problem zu finden. In der Übungsphase arbeiten sie zum Teil in Gruppen miteinander. Den Heilpädagogen unter uns fällt das für Förderschüler relativ hohe stoffliche Niveau auf. So sprechen zum Beispiel die Zweitklässler bereits in mathematisch richtiger Fachsprache wie Addition und Subtraktion, Multiplikation und Division. An der Wand hängt eine schematische Darstellung dieser Operationen mit den dazu gehörenden Fachtermini. Im Unterricht arbeiten die Schüler mit Hilfe dieser Darstellung.
Natürlich können wir uns nach diesem Besuch kein Urteil über den Stand der Schüler und Schülerinnen dieser Schule oder gar der Sonderschulen «in Russland» erlauben, doch dieser Einblick legt nahe, dass sich das Niveau in Mathematik und Sprache (Russisch) sehen lassen kann.

Umgang miteinander und im Schulhaus

Wie bereits erwähnt, sind die Schüler und Schülerinnen aufmerksam und bei der Sache. In den Klassen haben wir keinerlei Disziplinprobleme bemerkt, wenn man einmal davon absieht, dass der eine oder andere Junge mal mit seinem Nachbarn geschwätzt oder aus dem Fenster geschaut hat. Und wie sieht es in den Gängen einer Sonderschule mit 500 Schülern aus? In den Pausen bewegen sich die Schüler locker durchs Haus, einzeln oder in Grüppchen, schwätzen, lachen, sind neugierig, wer da zu Besuch ist. Die Atmosphäre ist entspannt, freundlich. Einige Schüler und Schülerinnen tragen Schuluniform oder Teile davon, andere kleiden sich nach persönlichem Geschmack. Wir erfahren, dass Schuluniformen in der ersten Klasse Norm sind, ab der zweiten sind sie freiwillig. Einige Schüler und Schülerinnen behalten sie ganz oder teilweise bei, andere nicht. Das Schulhaus ist klein für die vielen Schüler, jeder Raum ist ausgenutzt. Trotzdem bemerken wir weder Rangeleien noch Schmierereien oder Vandalismus, wie wir sie aus manchen deutschen Gesamtschulen oder Brennpunktschulen leider zu häufig kennen.

Vom Schulleben zur Weltgeschichte

Ein Raum des Schulhauses ist nur der Geschichte gewidmet. Die dafür zuständige Lehrerin zeigt und erläutert uns das Konzept, Schüler und Schülerinnen an die Historie heranzuführen: Ereignisse aus der Entwicklung der Schule und dem Schulleben werden auf Schautafeln dargestellt und mit Ereignissen aus der Geschichte der Stadt, der Region, des Landes in Zusammenhang gebracht. Auf diese Weise werden die Kinder und Jugendlichen in die Geschichte ihrer Heimat, ihrer Region und ihres Landes eingeführt. Sie erfahren Verbundenheit mit ihrer Heimat, Einblick in historische Zusammenhänge und Entwicklungen, vom persönlichen Umfeld bis zur grossen Geschichte, Stolz auf Errungenschaften.

Mehr Sonderschüler

Mit einem üppigen und sehr feinen Mittagessen werden wir in einem der Schulräume grosszügig bewirtet. Zwischen Suppe und Hauptgang entspinnen sich interessante und zum Teil überraschende Gespräche. Wir erfahren, dass die Anzahl der Sonderschüler zunimmt. Nach dem Grund gefragt, zählt Frau Gnezdilova einige Entwicklungen auf, die denen in unseren Ländern zum Teil überraschend ähnlich sind:
Mehr früh geborene Kinder überleben infolge besserer medizinischer Möglichkeiten. Das ist bei uns auch so. Babys, die zu früh auf die Welt kommen, tragen häufig eine geistige Beeinträchtigung oder Entwicklungsstörung davon. In den Familien, so die Schulleiterin weiter, gäbe es immer mehr Probleme, auch, weil Eltern weniger aufmerksam seien. Zusätzlich sei die Tradition der Schule unterbrochen: Früher hätte man mehr Zeit gehabt, ein Thema gründlich zu behandeln, heute würden immer nur Teile eines Themas behandelt, dann würde man schon zum nächsten gehen. Das führe zu vermehrten und komplizierteren Lernproblemen. Auch die familiären und schulischen Ursachen vermehrter Lernprobleme ähneln Entwicklungen unserer Länder. Es würde sich lohnen, dem genauer nachzugehen. Ein Grund für einen Folgebesuch, auf den wir uns schon freuen.

Mehr Knaben als Mädchen

Weiter erfahren wir, dass auch in Russland mehr Jungen als Mädchen eine Sonderschule besuchen. Das ist auch bei uns seit Jahren eklatant. In anderem Zusammenhang erfahren wir, dass auch in Russland wie bei uns Mädchen generell besser lernen und höhere Schulabschlüsse erreichen als Jungen. Wieso ist das so? Und sind die Gründe dafür in beiden Ländern vergleichbar? Und was kann man tun, um Jungen mehr zu fördern? Auch diese Fragen sind offen und laden zur Diskussion ein.
Beim Gang durch die Schule fällt uns auf, dass wir kaum männlichen Lehrpersonen begegnen. Die Schulleiterin bestätigt unseren Eindruck: Auch in Russland gibt es mehr Lehrerinnen als Lehrer. Auch sie ist der Meinung, mehr Männer in der Schule würden den Schülern guttun. Auch diese Diskussion ist uns bekannt.
Beim Dessert sind wir bei der unvermeidlichen Frage nach der Inklusion angelangt. Wir erfahren, dass diese auch in Russland heftig diskutiert wird. Frau Gnezdilova vertritt die Meinung, dass es problematisch ist, wenn ein Kind in eine Schule kommt, wo es nicht mitkommt. Sie erzählt, in Moskau habe man die Inklusion ausprobiert, der Versuch sei gescheitert, man habe ihn abgebrochen. «Politische Ideen kommen und gehen, die Kinder bleiben», meint die Schulleiterin abschliessend pragmatisch.
Wir hoffen, dass sie Recht hat. Einige Monate später erfahren wir, dass in der Region Vladimir die Inklusion nun verpflichtend eingeführt wird. Auch diese Frage lädt also dazu ein, weiter im Gespräch zu bleiben.

Erdung in der eigenen Kultur

Nach dem Essen sind wir eingeladen, ein Theaterstück, das extra für uns aufgeführt wird, zu geniessen. Ein altes russisches Märchen wird gespielt, mit volkstümlichen Kostümen und entsprechender Musik. Auch hier wie schon im Kinderheim fällt uns Besuchern aus der Schweiz und Deutschland auf, mit welcher Selbstverständlichkeit immer wieder Volksgut und die Kultur der Heimat gepflegt werden, dass Kinder und Jugendliche im Stolz darauf ins Leben eingeführt werden. In unseren Ländern mangelt es daran, in Deutschland noch mehr als in der Schweiz. Lieber übt man Musik aus dem angelsächsischen Kulturbereich ein, oder man organisiert Multi-Kulti-Feste. Es ist ja nichts dagegen zu sagen, andere Kulturen kennenzulernen, aber müssen Heranwachsende nicht zunächst in der eigenen Kultur verwurzelt sein, um von da aus die Welt zu erkunden? Wieder eine Frage, der nachzugehen sich lohnt.
Es war ein voller Tag, wir durften interessante Einblicke nehmen, wir haben noch viele Fragen. Wir sind dankbar für die gross­artige Gastfreundschaft und Offenheit, die uns entgegengebracht wurde, und hoffen sehr auf eine Fortsetzung im nächsten Frühjahr.    •

1    Vgl. Zeit-Fragen Nr. 20, S. 6f [ ]

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