Anstoss zu einer direktdemokratischen Reform der Wirtschaft

Anstoss zu einer direktdemokratischen Reform der Wirtschaft

Vor 75 Jahren

Die Volksinitiative der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz SPS von 1943 und weitere Vorlagen

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

In diesen Wochen jährt sich der Landesstreik vom November 1918 zum hundertsten Mal. Es waren schwierige Jahre am Ende des Ersten Weltkriegs. Die Versorgung der Bevölkerung war mangelhaft und schlecht organisiert – auch in der Schweiz. Es kam in vielen Ländern zu Unruhen, zu Streiks und auch zu revolutionären Umsturzversuchen wie in München, Berlin oder Budapest. Die Welt war in Aufruhr. In der Schweiz war der Landesstreik vom November 1918 das markante Ereignis. Ganz anders war die Situation am Ende des Zweiten Weltkriegs – vor 75 Jahren: Für die Schweizer Zivilbevölkerung war viel besser gesorgt. Der Plan Wahlen und die frühe Rationierung stellte die Versorgung mit Lebensmitteln sicher, und vor allem: Bereits 1943 machten sich die Behörden und Parteien Gedanken über die Zeit nach dem Krieg. 

1943 stellte die SP ihr neues Parteiprogramm «Die neue Schweiz» vor (SP Schweiz, 1988, S. 55). Dazu gehörte eine undatierte 16seitige Informationsbroschüre mit dem Titel «Neuordnung der Wirtschaft – Die Schicksalsfrage der Schweiz». Das Programm ist eingebettet in die direkte Demokratie und zeigt eindrücklich, wie sich die SP einbringt und in das politische Leben integriert. Im gleichen Jahr reichte die SP die Volksinitiative «Wirtschaftsreform und Rechte der Arbeit» mit 150 000 Unterschriften ein. Es kam sogar etwas wie eine Aufbruchsstimmung auf, obwohl der Krieg noch keineswegs zu Ende war. Die Volksinitiative war geprägt von den Erfahrungen der grossen Wirtschaftsdepression in den 1930er Jahren. Die SP ging davon aus, dass es nach dem Krieg – ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg – weltweit zu Umbrüchen kommen und eine neue Wirtschaftsordnung etabliert würde. Ihr Wirtschaftsprogramm von 1943 legt dar, wie sie sich die Ordnung für die Schweiz vorstellte.
«Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Welt anders aussehen, als sie vordem war. […] Aus diesem Krieg und aus der Not dieser Zeit muss entstehen, was früher als unerreichbar erschien: die Gemeinschaft des arbeitenden Volkes, die auf sozialistischer Grundlage Staat und Wirtschaft einer neuen Schweiz aufbauen wird. […] Das Schweizervolk wird aufgerufen, zu wählen zwischen einer Wirtschaft für die Gesamtheit des Volkes und einer Wirtschaft zum Nutzen der Einzelnen, die bis jetzt ihre Kommandohöhen besetzt hatten: – der Herren der Banken, der Monopolunternehmungen, der Grossindustrie und des Grosshandels. Die Entscheidung bestimmt darüber, ob die Schweiz den Weg einschlägt, der zur nutzbringenden Dauerbeschäftigung der Arbeitsfähigen und schliesslich zum Wohlstand aller führt, oder ob sie weiter den Krisen ausgeliefert werden soll, die mit dem kapitalistischen Wirtschafts­system untrennbar verbunden sind.»
Als Eckpunkte für die Neuordnung der Wirtschaft nennt die SP:

1. Planmässige Ordnung auf demokratischer Grundlage

Die SP stellt sich den Wählern mit der Botschaft: Wenn ihr uns wählt, werden wir eine gerechte Wirtschaftsordnung errichten: «Ja, die SPS wendet sich ungescheut an die Wähler mit der Aufforderung: Gebt uns die Macht! Denn das ist die unerlässliche Voraussetzung dafür, dass wir in die Tat umsetzen können, was wir in unserem Programm ‹Die neue Schweiz› als Ziel gesichtet haben. […] ‹Die Notwendigkeit einer planmässigen Ordnung der Wirtschaft ist heute in aller Welt anerkannt. […] Tatsache ist – wie Augenschein, praktische Erfahrung und logische Überlegung übereinstimmend bestätigen –, dass die dirigierte Wirtschaft, wie wir sie bis jetzt kennen und erleben, sparsamer und ergiebiger ist als die nicht gelenkte›.»
Die SP nimmt auch Bezug zur Welt: «Aufhalten lässt sich auf Dauer diese Revolution, die in ihrem Schosse die Vorstellung der Demokratie durch die Entfesselung und Vergemeinschaftung der wirtschaftlichen Kräfte birgt, nicht. Auch die Schweiz kann sich dem Gebot der geschichtlichen Stunde nicht entziehen. Den Gang dieser Weltrevolution kann unser Land nicht souverän bestimmen; aber es kann ein weithin leuchtendes Beispiel geben, wenn es nach seinem Vermögen in seinen Grenzen den Forderungen friedvollen Rechts und sozialer Gerechtigkeit Genüge leistet. Nur so, nicht anders kann die Schweiz ihre Existenzberechtigung nachweisen.»

2. Vergemeinschaftung wichtiger Wirtschaftszweige

Vor allem Banken und Versicherungen sollen vergemeinschaftet werden: «Das Fundament der modernen Wirtschaft ist der Kredit. […] Soll die Kreditversorgung eines Landes einem zentralen, nach volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichteten Plan unterstellt werden, so muss die freie Verfügungsgewalt der ‹Verwahrer der Kapitalien› aufgehoben, müssen die Grossbanken tatsächlich zu Instituten des öffentlichen Dienstes werden. Sie sind daher in Gemeineigentum zu überführen. […] Das gleiche gilt grundsätzlich für die privaten Versicherungsgesellschaften, die über eine gewaltige Kapitalmacht verfügen und mit den Banken eng versippt, ein tatsächliches Monopol innehaben. […] Nur die Überführung der bisher frei ‹geldschöpfenden› Privatbanken in den öffentlichen Dienst schafft die Voraussetzungen dafür, dass die Menge der umlaufenden Zahlungsmittel kontrolliert und dem Stand der Wirtschaft und ihrer Entwicklung entsprechend reguliert wird. Stabilität der Kaufkraft des Geldes, die Höhe des Zinsfusses wie der Aussenwert der Währung sind von diesem Verhältnis abhängig.»
Diese Textpassage erinnert an die Vollgeld-Initiative, über die wir am 10.6.2018 abgestimmt haben. Auch sie setzte an bei den «geldschöpfenden Privatbanken». Aber sie wollte die private Geldschöpfung über das Vollgeld verhindern, das einzig die Nationalbank herausgeben würde – auch eine Art Vergemeinschaftung.
Auch die Produktion soll geplant werden. Etliche Grossbetriebe will die SP 1943 vergemeinschaften. KMU dagegen sollen sich vermehrt in Genossenschaften zusammenschliessen. «Die industriellen Monopole müssen der Gemeinwirtschaft unterstehen. Sie sind genau wie die Banken als öffentlicher Dienst zu führen.» Für KMU sollen Anreize geschaffen werden: «Es dürfte genügen, die Bildung von Genossenschaften zu fördern, sie durch billige Kredite, Auftragserteilung usw. reizvoll zu machen.»
Die SP erklärt, warum es notwendig sei, die Wirtschaft staatlich zu lenken. «Denn ein wirtschaftlich planmässig geordnetes Gemeinwesen kann naturgemäss viel schneller und durchgreifender auf Einflüsse von aussen reagieren als ein Land, an dem sich die verschiedenen wirtschaftlichen Interessen durchkreuzen oder entgegenarbeiten. […] Jeder Versuch, das Grundprinzip der ‹freien Wirtschaft› beizubehalten und nur seine ‹sozialen Schattenseiten› mildern zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Kein Herumdoktern mit gelegentlichen Interventionen kann da helfen.»

3. Genossenschaften als zweckmässigste Organisationsform für die Schweiz

«In der Losung ‹Für den Menschen› ist die Idee der Freiheit und Demokratie unver­äusserlich eingeschlossen. Die genaue Abgrenzung zwischen persönlich-individueller Freiheit und sozialer Verpflichtung wird sich im einzelnen aus der Praxis ergeben. […] Der vor allem auf das Genossenschaftswesen sich stützende Aufbau von unten erscheint als die zweckmässigste Organisationsform der künftigen Planwirtschaft und wird die beste Garantie gegen Missbrauch, Beamtendiktatur und Zielverfälschung sein. Die Schweiz, die den schönen Namen Eidgenossenschaft führt, ist in der Beziehung in einer günstigen Lage.»
Diese Positionierung ist meilenweit von Forderungen nach einem marxistischen Umbau des Staates oder gar der Diktatur des Proletariates entfernt, wie sie in den Schriften der SP nach dem Ersten Weltkrieg – auch in Verbindung mit dem Landesstreik – vereinzelt noch vorkommen. Die Autoren von 1943 zeigen, dass sie im genossenschaftlichen Modell der Schweiz zu Hause sind.

4. Mehr und gerechtere Progression im Steuersystem

«Die volkswirtschaftlich schädliche, das Gerechtigkeitsgefühl aufreizende und den sozialen Frieden gefährdende Ungleichheit der Einkommensverhältnisse lässt sich auf dem Weg der progressiven Erfassung hoher Einkommen und Vermögen wie durch Ausbau der Erbschaftssteuer selbst unter dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem erheblich mildern.»

Grundstein für eine gerechtere Welt

«Die Befreiung aus materieller Not, so unerlässlich dies für die Zukunft der Welt, ist nicht einmal der letzte und höchste Zweck und Sinn der demokratisch-freiheitlichen Planwirtschaft. Höher steht, dass sie die Voraussetzung schafft und den Grundstein legt für eine Welt, in der nicht mehr Willkür, sondern Recht und Gerechtigkeit herrscht. […] aus diesem Willen heraus […] ist das Programm ‹Die neue Schweiz› entstanden, das von Gegebenheiten der heutigen Zustände ausgeht und eine grundlegende Neuordnung der politischen, wirtschaftlichen und damit auch der sozialen Verhältnisse anstrebt.»
Volksinitiativen sind immer auch ein Stück Parteiengeschichte. Bereits 1894 hatte die SP eine Volksinitiative «Recht auf Arbeit» eingereicht (die abgelehnt wurde). Die Sozialdemokraten damals waren noch eine schwache Partei, die mit Jakob Vogelsanger aus Zürich einen einzigen Vertreter im Nationalrat hatte. Sie hatten für ihre Volksinitiative 53 000 Unterschriften gesammelt und damit das verlangte Quorum von 50 000 nur knapp erreicht. Die Initiative war die erste Volksinitiative, nachdem dieses Volksrecht 1892 eingeführt wurde. Sie enthielt zahlreiche sozialpolitische Forderungen – jedoch kein Konzept für eine neue Wirtschaftsordnung (Kölz 2004, Quellenbuch, S. 194).
1943 – sechzig Jahre später – ist die Situation ganz anders. Die Mitgliederzahl der SP beeindruckt. Sie war mit einem Wähleranteil von etwa 30 Prozent zu einer Grosspartei herangewachsen, die für ihre Volksinitiativen jeweils ein Vielfaches der verlangten Unterschriften sammelte. 1943 war Ernst Nobs als erster Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt worden – ein längst überfälliges Ereignis.

Volksinitiative «Wirtschaftsreform und Rechte der Arbeit»

Die SP Schweiz sammelte 1943 für diese Volksinitiative mitten im Krieg in kurzer Zeit über 150 000 Unterschriften – dreimal mehr als damals verlangt. Die wichtigsten Passagen aus dem neu geplanten Art. 31 Absatz 1 der damaligen Bundesverfassung lauteten (Kölz 2004, Quellenbuch, S. 319):
1.    «Die Wirtschaft ist Sache des ganzen Volkes.
2.    Das Kapital ist in den Dienst der Arbeit, des allgemeinen Aufstiegs und der Volkswohlfahrt zu stellen.
3.    Der Bund ist befugt, die zu diesem Zweck erforderlichen Massnahmen in Aufbau und Organisation der nationalen Wirtschaft anzuordnen.
4.    Die Existenz der Bürger und ihrer Familien ist zu sichern.
5.    Das Recht auf Arbeit und deren gerechte Entlöhnung sind zu gewährleisten. […]»
Kantone und Wirtschaftsorganisationen sollten bei der Umsetzung und Planung der Wirtschaftsabläufe einbezogen werden. Im Text der Volksinitiative fällt sofort auf, dass die Handels- und Gewerbefreiheit als zentraler Grundsatz der liberalen Wirtschaftsordnung in der bisherigen Form ersetzt werden sollte.
Aber die Sozialdemokraten waren nicht allein mit dem Anliegen, die Wirtschaft zu reformieren. Ihr wichtigster Gegenspieler war das Parlament. Der National- und der Ständerat hatten bereits vor dem Krieg die Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung überarbeitet und ergänzt. Ihr Reformentwurf war 1943 bereit für die Volksabstimmung, so dass die Volksinitiative der Sozialdemokraten einen Gegenvorschlag darstellte.

Reformvorschlag des Parlaments

Den liberalen Kern der Wirtschaftsverfassung in Artikel 31 der Bundesverfassung von 1874, bestehend aus der Handels- und Gewerbefreiheit, sowohl als individuelles Grundrecht wie auch als wegleitender Grundsatz für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung, tastete die Mehrheit der Volksvertreter – im Unterschied zur SP – nicht an (Kölz 2004, Quellenbuch, S. 160). Die Wirtschaftsfreiheit ist in diesem Konzept verbunden mit der direkten Demokratie. Eine Abweichung vom freiheitlichen Grundsatz ist zwar möglich – aber nur mit einer Volksabstimmung. Das heisst, dass das Volk die Eckpunkte der Wirtschaftsordnung selbst bestimmt und auch die Weichen in der Wirtschaftspolitik weitgehend selbst stellt. Genau das sollte nun erneut passieren.
Im Reformentwurf des Parlaments, der ebenfalls geprägt war von der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren, bekam der Bund in einigen wichtigen Bereichen zusätzliche Kompetenzen, um im Gesamtinteresse von der Wirtschaftsfreiheit abzuweichen – und zwar
a)    «zur Erhaltung wichtiger, in ihren Existenzgrundlagen gefährdeter Wirtschaftszweige oder Berufe […];
b)    zur Erhaltung eines gesunden Bauernstandes und einer leistungsfähigen Landwirtschaft sowie zur Festigung des bäuerlichen Grundbesitzes;
c)    zum Schutz wirtschaftlich bedrohter Landesteile;
d)    gegen volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen und ähnlichen Organisationen;
e)    über vorsorgliche Massnahmen für Kriegszeiten.»
Der Bund erhielt weitere Kompetenzen, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, die betriebliche Ausbildung zu fördern und auch, um das Arbeitsverhältnis besser zu regeln (Kölz 2004, Quellenbuch, S. 319–321). Diesem Entwurf des Parlaments stand 1943 der Reformentwurf der Sozialdemokraten als Gegenvorschlag gegenüber. Bei diesen beiden  Vorlagen blieb es jedoch nicht.

Weitere Volksinitiativen folgten

Noch im gleichen Jahr – 1943 – kamen zwei Volksinitiativen mit einer ähnlichen Stossrichtung dazu – etwas später noch eine dritte: 1. «Recht auf Arbeit» des Landesrings, 2. «Zum Schutz des Bodens und der Arbeit durch Verhinderung der Spekulation» der Jungbauern und Bauernheimat-Bewegung und 3. die «Kaufkraft-Initiative» aus der Freiwirtschaftsbewegung. Diese drei Initiativen sollen ebenfalls kurz vorgestellt werden (Linder 2010, S. 208, 223, 228):
«Recht auf Arbeit» (Landesring): Die prägende Persönlichkeit des Landesrings der Unabhängigen war Nationalrat Gottlieb Duttweiler. Jedermann kennt die Migros, die heute schweizweit ein flächendeckendes Netz von Läden und Dienstleistungsbetrieben betreibt und der grösste Arbeitgeber in der Schweiz ist. Duttweiler hatte die Migros vor dem Krieg als Aktiengesellschaft gegründet. 1941 wandelte er sie in eine Genossenschaft um, indem er den treuen Kundinnen und Kunden, die eine Kundenkarte besassen, einen Anteilschein an der Genossenschaft im Wert von Fr. 30.- schenkte. Gottlieb Duttweiler verfolgte ein ähnliches Ziel, das er auf einem anderen Weg erreichen wollte als die Sozialdemokraten. Zwar fand auch er, der Abbau der Arbeitslosigkeit müsse in den Gemeinden, in den Kantonen und im Bund das oberste Ziel sein. Das sei zu erreichen, jedoch nicht mit mehr Vorschriften und «mehr Staat», sondern mit weniger Gesetzen und mit mehr Wirtschaftsfreiheit. Auch der Entwurf des Parlaments für die neuen Wirtschaftsartikel würde viel zu viele Gebote und Verbote enthalten. Der «alte» Wirtschafts­liberalismus sollte nicht mit einer Vielzahl neuer staatlicher Regeln korrigiert werden, sondern sich verbinden mit einem Mehr an ethischer Gesinnung und sozialer Verantwortung. «Soziales Kapital» war sein politischer Kampfruf und auch Programm für sein eigenes Unternehmen. Ein Prozent des Umsatzes sollte für soziale und kulturelle Projekte eingesetzt werden. (Das ist heute noch der Fall.) Die Migros sollte zu einem der grössten Aufbauwerke in der Wirtschaftsgeschichte der Schweiz werden. Die Botschaft von Duttweiler war klar: Die Bürger sollen die soziale Ausgestaltung der Wirtschaftsfreiheit selbst in die Hand nehmen.
«Schutz des Bodens und der Arbeit durch Verhinderung der Spekulation» (Bauern-Heimatbewegung): «Landwirtschaftlich nutzbaren Boden soll nur noch erwerben dürfen, wer ihn selbst bearbeitet und ihn als Grundlage für seiner Existenz selbst bebaut.»
«Zur Sicherstellung der Kaufkraft und der Vollbeschäftigung» (Freiwirtschaftsbewegung, Liberalsozialistische Partei LSP): Die Freiwirtschaftsbewegung orientierte sich am Gedankengut von Silvio Gesell. Die aus der Bewegung entstandene Liberalsozialistische Partei LSP, die nach dem Krieg je einen Vertreter im National- und im Ständerat hatte, lancierte die Initiative. Sie wollte über eine Geldreform eine Wirtschaftsreform herbeiführen. Die Vollgeld-Initiative, über die wir am 10. Juni 2018 abgestimmt haben, steht in dieser Tradition. Im Umfeld der Freiwirtschaftsbewegung war 1934 die WIR-Genossenschaft gegründet worden, die heute noch existiert und gegen 60 000 KMU als Mitglieder sowie über eine eigene, selbst geschöpfte Genossenschaftswährung verfügt – den WIR-Franken.

Demokratische Ausmarchung nach dem Krieg

Herausgefordert von den drei Volkinitiativen nahm das Parlament nach dem Krieg an seinem Entwurf noch kleinere Präzisierungen vor. Danach wurde abgestimmt:
Das Volk entschied wie folgt:

  • August 1946: Die Stimmbürger und alle Kantone lehnten die Volksinitiative des Landesrings «Recht auf Arbeit» ab. Sie erhielt etwa 20 Prozent der Stimmen.
  • Mai 1947: Die Stimmbürger und alle Kantone lehnten die Volksinitiative der Sozialdemokraten «Wirtschaftsreform und Rechte der Arbeit» ebenfalls ab. Sie erhielt etwa 30 Prozent der Stimmen.
  • Juli 1947: Die Stimmbürger nahmen den Entwurf des Parlaments für eine neue Wirtschaftsverfassung mit 53 Prozent der Stimmen und einer deutlichen Mehrheit der Kantone an.
  • Oktober 1950: Die Stimmbürger lehnten die Volksinitiative der Bauernheimat-Bewegung deutlich ab, nachdem das Parlament das bäuerliche Bodenrecht bereits im Vorfeld der Abstimmung im Sinne der Initianten reformiert und Massnahmen zur Raumplanung eingeleitet hatte.
  • April 1951: Die Stimmbürger lehnten die Kaufkraftinitiative der Freiwirtschaftsbewegung für eine neue Geld- und Wirtschaftsordnung ab, nachdem es bereits im Mai 1949 einen vom Parlament fast einstimmig beschlossenen Verfassungsentwurf verworfen hatte. Er hätte der Nationalbank die Möglichkeit gegeben, fast beliebig Geld zu drucken – ähnlich wie sie es heute tut.
  • Ebenfalls im April 1951 stimmten das Volk mit über 70 Prozent und alle Kantone einem Verfassungsartikel zu, der verlangte: «Die ausgegebenen Banknoten müssen durch Gold und kurzfristige Forderungen gedeckt sein.»

Damit waren im Bereich der Wirtschafts- und Geldordnung die Weichen für die Nachkriegsjahrzehnte weitgehend gestellt, wobei nicht eine einzelne Volksabstimmung im Zentrum stand, sondern das fruchtbare Zusammenspiel der Behörden mit dem Volk über eine längere Zeitperiode. Die vier Volksinitiativen sind zwar abgelehnt worden, hatten aber alle Einfluss auf die Politik und Gesetzgebung.

Abbild der schweizerischen Demokratie

Die freiheitliche Wirtschaftsordnung der Schweiz stand in den Nachkriegsjahren auf dem Prüfstand. Die Wirtschaftsfreiheit als individuelles Grundrecht und auch als Grundsatz bzw. Leitlinie für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung galt in der Bundesverfassung weiterhin – und gilt bis heute. Das Freiheitsrecht ist jedoch verbunden mit den Volksrechten des Referendums und der Volksinitiative – über die das Volk die Eckpunkte des Ordnungsrahmens und auch die Weichen in der Wirtschaftspolitik weitgehend selbst bestimmt. Der Bund hat zudem mit der Reform von 1947 zusätzliche Möglichkeiten erhalten, von der Wirtschaftsfreiheit abzuweichen, die er auch genutzt hat – zum Beispiel in der Landwirtschaftspolitik. Insgesamt haben in der Geschichte des Bundesstaates etwa 100 Wirtschaftsabstimmungen stattgefunden zu vielen Themen wie Unternehmenssteuern, Steuern ganz allgemein, Schuldenbremse, Konjunktur- und Industriepolitik, Bankkundengeheimnis, Kartellwesen, Bildungspolitik, Landwirtschaft usw. Wenn man korrekterweise auch die sozial- und umweltpolitischen Abstimmungen zur Wirtschaftsverfassung dazuzählt wie die Sozialversicherungen, Schutz der Familie, Umwelt-, Gewässer- und Tierschutz, Preisüberwachung, Mieterschutz, Mindest- oder Höchstlohn, Mitbestimmung, mehr Ferien, kürzere Wochenarbeitszeiten usw. sind es deutlich mehr als 200. Ohne die direkte Mitsprache des Volkes auch auf kantonaler und kommunaler Ebene wäre die Schweiz mit Sicherheit nicht das, was sie ist. Sie ist heute das einzige Land, das die Wirtschaftsfreiheit als Freiheitsrecht anerkennt – verbunden mit der direkten Demokratie. (Kölz 2004, S. 870)

EU-Politik der Schweiz

Die direkte Demokratie hat seit 1874 bis heute einen hohen Stellenwert: Eine wirtschaftspolitische Weichenstellung in neuerer Zeit war 1972 das sehr deutliche Ja von Volk und Ständen zum grossen Freihandelsvertrag mit der Europäischen Gemeinschaft EG – ohne politische Einbindung – und das deutliche Nein des Volkes und vor allem der Stände zum EWR von 1992 – mit politischer Einbindung. Die Botschaft des Volkes war klar: Festhalten am vielfach bewährten direktdemokratisch abgestützten freiheitlichen Wirtschaftskonzept als Grundlage für eine souveräne Schweiz. Politiker, die den EU-Beitritt anstreben oder die Schweiz politisch in die EU einbinden wollen, wollen dies leider nicht verstehen.
Das Fazit ist eindeutig: Eine Wirtschaftsordnung und eine von Experten und erfahrenen Politikern geleitete Wirtschafts- und Sozialpolitik mag noch so gut sein, wirklich erfolgreich ist sie nur, wenn sie im Volk abgestützt ist. Der Zustand der Schweiz ist dafür Beweis, und es wäre fahrlässig, davon abzuweichen. (Wenn dieser Begriff nicht so abgegriffen wäre, könnte man diesen Weg zu Recht als «dritten Weg» bezeichnen.)
Heute lässt sich in vielen Ländern mit repräsentativer Demokratie beobachten, dass sie politisch instabil sind, weil die Politik der Volksvertreter viel zu wenig im Volk verankert ist – selbst wenn regelmässig Wahlen und vereinzelt Volksabstimmungen stattfinden. Würden die Völker gefragt, wären die vielen sinnlosen Kriege mit ihren endlosen Flüchtlingsströmen nicht möglich.

Aktuell

Heute steht ein Rahmenvertrag mit der EU zur Diskussion, der EU-Recht automatisch übernehmen will. Ein merkwürdiges Projekt, weil mit den Volksrechten eine tragende Säule der bald 150jährigen Wirtschaftsverfassung herausgebrochen würde. Der Bundesrat behauptet zwar, das Volk könne trotzdem abstimmen, und schiebt nach, falls es Nein stimme, würde Brüssel mit Retorsions- bzw. Strafmassnahmen reagieren – eine unwürdige Vorstellung für ein souveränes Land. Die Antwort kann nur ein Nein sein.
Das Schweizervolk hat in den letzten Jahrzehnten in der Politik an Einfluss verloren. Volksabstimmungen werden vom Bundesrat und Parlament nicht oder nur halbherzig umgesetzt. Das sogenannte «Völkerrecht» (gemeint ist nicht das zwingende) und das EU-Recht sollen über der Verfassung, das heisst auch über dem Volk, stehen – so will es eine Abteilung im Bundesgericht. Die Selbstbestimmungsinitiative, über die wir im November abstimmen, will Gegensteuer geben. Die Antwort kann nur ein Ja sein.    •

1    Die zahlreichen im Text erwähnten Volksinitiativen sind im Wortlaut im Quellenbuch aufgeführt von: Kölz, Alfred. Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte – ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848 – mit Quellenbuch. Bern 2004. Für die neuere Zeit auch unter admin.ch/Volksinitiativen
2    Für weitere Einzelheiten und zusätzliche Informationen zu den einzelnen Abstimmungen: Linder, Wolf; Bolliger, Christian; Rielle, Yvan. Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 – 2007. Bern 2010

Quellen:
Sozialdemokratische Partei der Schweiz (Hsg.). Rote Revue, Sozialistische Monatsschrift, April 1943
Sozialdemokratische Partei der Schweiz (Hsg.).
100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz, Zürich 1988

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