Ein Etappensieg der pädagogischen Vernunft

Ein Etappensieg der pädagogischen Vernunft

Studie der Universität Bonn zeigt den Erfolg einer strukturierten Rechtschreibdidaktik

von Gisela Liebe

Eine ganze Generation im deutschsprachigen Raum beherrscht die Rechtschreibung mittlerweile nicht mehr ausreichend. Selbst Studenten an den Pädagogischen Hochschulen müssen Kurse zur Nachschulung belegen. Seit Jahrzehnten wird dieser Missstand von Lehrbetrieben und Universitäten beklagt, aber nicht viel dagegen unternommen. Die Hauptursache für den dramatischen Niedergang in den letzten 30 Jahren ist bekannt: die Methode «Lesen durch Schreiben» oder auch «Schreiben nach Gehör» genannt, die auf den Schweizer Jürgen Reichen zurückgeht und seit den 80er Jahren Einzug gehalten hat an den Schulen in Deutschland und der Schweiz. Dabei sollen die Kinder bereits in der ersten Klasse mithilfe einer Anlauttabelle schnell viel und frei schreiben. Schreibfehler werden über lange Zeit nicht korrigiert, mit der Begründung, dadurch würden die Kinder demotiviert und ihre Kreativität behindert. Die Methode wurde von Anfang an von vielen Fachleuten kritisiert, trotzdem aber weiter in der Lehrerausbildung propagiert.
Nun liegt eine wissenschaftlich fundierte gross angelegte Studie vor, die Konsequenzen haben muss. Ihre Ergebnisse wurden erstmals im September 2018 mündlich vorgestellt und haben ein breites Medienecho gefunden.
Von einem Forscherteam unter der Leitung von Prof. Dr. Una Röhr-Sendlmeier von der Abteilung Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie der Universität Bonn wurden von 2013 bis 2017 die Rechtschreibleistungen von über 3000 Kindern im Primarschulalter systematisch untersucht, sowohl in einer Längsschnittstudie als auch zusätzlich in einer Querschnittuntersuchung. Dabei wurden drei unterschiedliche Didaktik-Methoden miteinander verglichen. Die beteiligten Schulen wurden nach dem Zufalls­prinzip ausgewählt.
Bei der Lehrmethode «Lesen durch Schreiben» sollten die Kinder möglichst viel frei schreiben, der individuelle Lernweg des Kindes hatte Priorität vor dem Klassenunterricht. Schreibfehler wurden lange nicht korrigiert. Das Lesen sollte über das Schreiben mitgelernt werden.
Als zweite Lehrmethode wurde die «Schreibwerkstatt» (nach Norbert Sommer-Stumpenhorst) angewendet. Auch hier erlebten die Schüler keine feste Abfolge von einzelnen Lernschritten, sondern sollten die zur Verfügung gestellten Materialien selbstständig und in individueller Reihenfolge und Geschwindigkeit bearbeiten.
Mit dem «systematischen Fibelansatz» wurden schrittweise einzelne Buchstaben und Wörter eingeführt. In Fibel-Lehrwerken wird die Rechtschreibung strukturiert vom Einfachen zum Komplexen vermittelt. Die Lehrkraft leitet die Schüler an und orientiert sich an Lehrbuch und Arbeitsheft. Fehler werden von Anfang an korrigiert.
Die Erstklässler aus insgesamt 18 Klassen wurden kurz nach ihrer Einschulung auf ihre phonologische Bewusstheit und Buchstabenkenntnis einzeln getestet. Ab dem Ende der 1. Klasse und nachher bis zum Ende des dritten Schuljahres wurden die Rechtschreibkenntnisse halbjährlich weitere fünf Male erhoben mit der jeweils altersgemässen Version des standardisierten Diktats «Hamburger-Schreib-Probe». So wurde die Entwicklung der Rechtschreibfähigkeiten von 284 Kindern über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg vollständig erfasst. Zusätzlich erfolgte zur Absicherung der Längsschnittstudie eine Querschnittstudie an weiteren 2800 Erst- bis Viertklässlern in 142 Klassen.
Ergänzend wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem Fragebogen die intrinsische Schreib- und Lesemotivation der Kinder erhoben, im Anschluss an das Probediktat. Da die Methoden «Lesen durch Schreiben» und «Rechtschreibwerkstatt» sich selbst eine erhöhte Motivation der Kinder beim Lernen der Sprache zuschreiben, sollte dieser Faktor ebenfalls untersucht werden.
Vom Forscherteam wurde überprüft, ob die jeweils gewählte Didaktik von den Lehrern eingehalten wurde. Die Unterschiede in der Unterrichtspraxis der verschiedenen Lehrpersonen war nicht Untersuchungsgegenstand, da ausschliesslich die Auswirkung der konzeptionellen Unterrichtsgestaltung auf die Schülerleistungen untersucht werden sollte. Die Studie wurde ohne Drittmittel durchgeführt, um jegliche Verpflichtungen gegenüber Dritten auszuschliessen.
Mit der ersten Untersuchung des Vorwissens der Kinder kurz nach der Einschulung wurde gleichzeitig auch die Bildungsnähe des Elternhauses erfasst, denn bildungsnahe Eltern führen ihre Kinder in der Regel schon vor der Einschulung an Bildungsinhalte heran. Dieser Faktor wurde in der Längsschnittuntersuchung statistisch kontrolliert, denn er wirkt sich bis ins dritte Schuljahr in den Rechtschreibleistungen aus. Die «Lesen-durch-Schreiben»-Kinder waren den anderen Gruppen zufällig in ihren Vorkenntnissen kurz nach der Einschulung überlegen, ebenso von ihrem sozioökonomischen Status her.
Die Ergebnisse von Längs- und Querschnittstudie sind eindeutig: Der Fibelansatz ist den beiden anderen Methoden deutlich überlegen. In jeder Klassenstufe schnitten die systematisch angeleiteten Kinder besser ab als die der anderen Gruppen. Interessant ist auch, dass die Leistungsdifferenzen innerhalb der Fibel-Gruppe deutlich kleiner waren als bei den anderen. Auch auf Kinder mit nicht deutscher Familiensprache traf dies zu. Besonders viele Kinder mit sehr schlechten Rechtschreibkenntnissen gab es in der Rechtschreibwerkstatt-Gruppe.
Die «Lesen-durch-Schreiben»-Kinder machten am Ende des 4. Schuljahres 55% mehr Fehler als die «Fibel»-Kinder. Noch schlechter schnitten die «Rechtschreib-Werkstatt»-Kinder ab: Sie machten sogar 105% mehr Fehler. Wenn man die leistungsmässige Verteilung der gesamten Stichprobe der Viertklässler mit insgesamt 947 Kindern betrachtet, schnitten 42,1% der Fibel-Kinder so gut ab, dass sie zu den 25% der besten gehörten. Nur 10,3% von ihnen gehörten zu den 25% der Schwächsten, d.h. fast 90% der Fibel-Kinder beherrschen nach 4 Jahren einigermassen die Rechtschreibung.
Die Lesen-durch-Schreiben-Kinder schnitten mit 26,1% im oberen Viertel ab und mit 20% in der Gruppe der Schlechtesten. 53,9% lagen in der Mitte, ähnlich wie bei den Fibel-Kindern mit 47,6%. Von den Kindern, die mit der Rechtschreib-Werkstatt-Methode gelernt hatten, gehörten 34,4% zur leistungsschwächsten Gruppe, während nur 17% bei den Leistungsstärksten landeten.
Interessant ist auch, dass die intrinsische Lesemotivation wie auch die intrinsische Schreibmotivation bei allen drei Gruppen gleich hoch waren. Das heisst, das oft gehörte Argument, die Kinder würden durch ein frühes Korrigieren von Rechtschreibfehlern demotiviert, wird mit den Ergebnissen der Studie eindeutig widerlegt.
Als Fazit der Studie wird die Verwendung eines strukturierten Ansatzes vom Einfachen zum Komplexen mit der unmittelbaren Korrektur von Fehlschreibungen empfohlen, so wie er in der Fibel-Didaktik angewendet wird.
Die vollständige Studie liegt derzeit noch nicht in schriftlicher Form vor.
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An den Ergebnissen der wissenschaftlich fundierten Studie der Universität Bonn wird man in Zukunft nicht mehr vorbeikommen: Kinder lernen besser richtig schreiben, wenn sie Schritt für Schritt gemeinsam vom Lehrer angeleitet werden, systematisch aufgebautes Schulmaterial haben und ihre Fehler korrigiert werden, und sie haben Freude daran. Dies sind elementare pädagogische Erkenntnisse, die keineswegs neu sind und auch jedem Nicht-Lehrer einleuchten. Dass an den Pädagogischen Hochschulen bis heute die Methode Schreiben nach Gehör, wenn vielleicht auch nicht mehr in Reinkultur, den Studenten vermittelt wird, trotz besseren Wissens, ist wohl nur erklärbar mit sehr starken ideologischen, politischen oder finanziellen Interessen, die einer Umkehr zur Vernunft bisher im Wege stehen. Wie viele tausend «Schein-Legastheniker» sind wohl mit dieser falschen Didaktik produziert worden, die zum Teil ihr Leben lang unter ihrem Unvermögen leiden?
In den deutschen Bundesländern Hamburg und Baden-Württemberg ist die Methode Schreiben nach Gehör bereits untersagt, am Brandenburgs Schulen darf ab Sommer 2019 nur noch die Fibel-Methode angewendet werden. Auch in der Schweiz beginnen einzelne Kantone wie Nidwalden langsam abzugehen von der Reichen-Methode, wenn auch noch sehr zaghaft (erst ab der 2. Klasse sollen Fehler korrigiert werden).
Die Rechtschreib-Studie ist allerdings nur ein Etappensieg über viele untaugliche Schulreformen. Die Rechtschreibung ist nur eines von vielen Fächern, das zudem noch relativ einfach bei den Schülern zu beurteilen ist. Für die Mathematik-Didaktik wäre eine ähnliche Studie überfällig. Mit dem unstrukturierten «selbstorganisierten» Lernen können viele Kinder nicht rechnen lernen. Woher sollen dann die heissersehnten Informatiker kommen?    •

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