Welche Wirtschaft wollen wir uns einrichten?

Welche Wirtschaft wollen wir uns einrichten?

von Francis Gut, Jutta Lücking und Dr. Vera Ziroff Gut

Krisen sind Umbruchsituationen, in denen neue Gedanken entwickelt und verwirklicht werden können. In seinem aufklärenden Buch «Zivilisierte Marktwirtschaft» erläutert Peter Ulrich Grundsatzfragen des Wirtschaftens und der Wirtschaftsethik (vgl. Zeit-Fragen Nr. 48). Voraussetzung einer zivilisierten Marktwirtschaft ist ein vernünftiges, fortschrittliches und freiheitliches Wirtschaften, das in die Bürgergesellschaft eingebunden ist. Unsere Überlegungen beziehen sich auf so unterschiedliche Wirtschaftssysteme wie diejenigen von Siena im Trecento und Irland im Dezember 2010.
«Das irdische Paradies», ein Freskenausschnitt von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Publico in Siena von 1339 – besser bekannt unter dem Namen «Die Auswirkungen der guten Regierung»1 – stellt das soziale Leben und Wirtschaften in einem stadtrepublikanischen Raum dar, in dem Friede und Gerechtigkeit herrschen. In dieser Stadt, die deutlich als Kommune von Siena zu erkennen ist, gedeiht das Handwerk, blüht der Handel ebenso wie die Wissenschaft und die Kunst, wird getanzt und geheiratet. In den offenen Loggien und Gassen können wir das arbeitsteilige Herstellen und Verkaufen von Tuch, Schuhen oder Brot verfolgen. Hoch über den Dächern sind Maurer und Zimmerleute auf einer Baustelle beschäftigt, denn die wohlhabende Stadt wird ausgebaut. Eine gepflasterte Strasse führt durch das Stadttor hinaus in das Umland, wo Edelleute auf die Jagd gehen, Bauern und Bäuerinnen im Zeitraffer säen, mähen und ernten. Es ist ein notwendiges, nützliches und vergnügliches Leben, wie die Verslegende besagt, das Städter und Landleute unter der geflügelten Securitas (Sicherheit) führen, die in der einen Hand einen Galgen, an dem ein Toter baumelt, und in der anderen eine entrollte Schriftrolle hält: «Ohne Angst, gehe jedermann frei seines Weges, und es wird gesät, und die Felder werden bestellt, solange die Kommune die Herrschaft dieser Dame (Justitia) aufrechthält, denn sie hat die Bösen aller Macht beraubt.»2 Diese blühende Stadt und ihr fruchtbares Umland sind das gemeinsame Werk der arbeitsteiligen Gesellschaft, die die Grundbedürfnisse der Menschen abdeckt zum Nutzen und Vergnügen aller.
Dem «irdischen Paradies» vorausgegangen sind die Darstellungen des Inferno und des Purgatorio. In der Stadt des Inferno herrschen Gleichgültigkeit, Mord und Totschlag, Gewalt, Krieg und Tyrannei. Es ist düster in dieser zerstörten Stadt ohne Handwerk, ohne Handel, ohne Lehre, ohne Recht und Gesetz, denn Justitia liegt – vom Thron gestürzt – gefesselt am Boden; ihre Waage ist zerbrochen. Unterhalb der Justitia wird dieses Bild der Verwüstung von dem Kommentar begleitet: «Wo die Gerechtigkeit gefesselt ist, wird sich nie jemand auf das Gemeinwohl einigen noch sich am Band des Rechts halten, so dass die Tyrannia die Oberhand gewinnt […] sie verteidigt immer den, der nötigt oder raubt und all jene, die den Frieden hassen, so dass ihr gesamtes Land verwüstet daliegt.»3
Auf dem Läuterungsweg, im Purgatorio, jedoch, wird die Kommune Siena als Trägerin der Macht eingesetzt, die sich auf Fortitudo (Stärke), Prudentia (Weisheit), Mag­nanimatas (Freigebigkeit), Temperantia (Mässigung) und Justitia (Gerechtigkeit) abstützt. Das Band der Gesetzgebung hält die Bürger zur Eintracht zusammen. Die schöne Pax, der Friede, ruht gelassen auf ihrem Panzer und bildet als Spiegel des irdischen Glücks einen Gegenpol zum Chaos des Inferno; sie ist gleichzeitig Voraussetzung für das in hellem Licht erstrahlende «irdische Paradies», das Ziel der Darstellungen.
Mit seiner «sprechenden Malerei» hat Ambrogio Lorenzetti im «irdischen Paradies» ein Menschenbild veranschaulicht, das auf Aristoteles zurückgeht: Der Mensch ist «von Natur so geschaffen […], dass er dieses irdische Glück nicht alleine zu verwirklichen mag, sondern nur in der Gemeinschaft der Menschen als Bürger. Dem Gedanken zugrunde liegt die Definition des Menschen als zoon politikon, als politisches und soziales Wesen, das von Natur aus darauf angelegt ist, sich als Mitglied einer staatlichen Gemeinschaft zu vervollkommnen.»4
1338, zum Zeitpunkt als die Kommune von Siena diesen Auftrag an Ambrogio Lorenzetti vergeben hat, ist Siena eine selbstbewusste, politisch unabhängige Stadt, die eine Verfassung, verschiedene Institutionen und Räte hat, Machtteilung und Ämterrotation kennt. Alle Amtshandlungen sind an die von der Versammlung der Bürger verabschiedeten Gesetze gebunden. 1337/39 arbeitet die Kommune weiter am Fortschritt, an einer Totalrevision ihrer Verfassung, die zum Ziel hat, «der Herrschaft der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen»,5 klare Rechtsgrundlagen zu schaffen, um Rechtssicherheit garantieren zu können.
Ambrogio Lorenzettis Fresko zeigt Wirtschaften als Teil des bürgerlichen Lebens, Vorstellungen der Renaissance. Inzwischen haben wir Aufklärung und Moderne durchschritten und uns im politischen Bereich eine Gesellschaft eingerichtet, die auf Recht und Gesetz gründet, während wir auf dem Gebiet der Wirtschaft noch den neoliberalen Vorstellungen, dem Ökonomismus, frönen.
Wenn wir heute auf Stätten am Rande von Europa oder darüber hinaus schauen, so finden wir – 700 Jahre nach Lorenzettis Fresko – Orte, die geplagt durch die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise oder durch Kriegswirtschaft eher dem «Inferno» als dem «irdischen Paradies» und der «guten Regierung» gleichen.

Zum Beispiel Irland

Die irische Regierung hat ihrem Volk unter dem Druck der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds eine grausame Rosskur auferlegt. Im Haushalt 2011 tragen die Schwächsten die grösste Last: Die Löhne derjenigen, die am wenigsten verdienen, die Mindestlöhne, werden um 12% von 8,65 auf 7,65 Euro gesenkt, die Gehälter der Minister dagegen nur um 6%. Die Altersrente, Sozialhilfe und das Kindergeld werden gekürzt, und mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer werden die Portemonnaies auch der Ärmsten zusätzlich ausgeräumt. Der steuerpflichtige Mindestbetrag des Jahreseinkommens wird von 18 000 auf 15 000 Euro gesenkt, so dass Steuerzahler mit tiefen Einkommen, die bisher steuerfrei waren, nun steuerpflichtig werden. Die Arbeitslosenquote ist in Irland mittlerweile auf 13,7% gestiegen (Durchschnitt im Europa der 27: 9,6%). Das veranlasste letztes Jahr 60 000 junge Iren (Gesamtbevölkerung: etwa 4,5 Millionen), das Land zu verlassen. In jeder Familie gibt es einen Angehörigen, der geht. Diese Auswanderung ist nicht nur für die Familien ein schmerzlicher Verlust, sondern für das ganze Land, da vor allem die Gebildeten Irland verlassen.
Dabei hatte Irland keine übermässigen Staatsschulden, sondern leidet darunter, dass der Staat die enormen Schulden der irischen Banken übernommen hat. Und diese Schulden sind so enorm hoch, weil von anderen europäischen Banken (mit hohen Gewinn­erwartungen) während der Hochkonjunktur grosse Kredite nach Irland flossen. Mit der Übernahme von Banken und den Schulden von in- und ausländischen Banken explodiert das irische Haushaltsdefizit auf 32% der Wirtschaftsleistung (BIP) des Landes, das bis 2015 wieder unter die erlaubte Euro-Marke von 3% gebracht werden muss.6 Damals in der Hochkonjunktur hofften die Banken vom irischen Wirtschaftswachstum zu profitieren, denn sie haben z.B. mehr noch als die amerikanischen die Baubranche gefördert. Während in den Vereinigten Staaten die Errichtung von Wohnbauten im Normalfall um die 4% der Wirtschaftsleistung (BIP) lag und im Spitzenwert auf 6,3% stieg,7 machte dieser in Irland zeitweise über 15% aus. Diese Fokussierung auf das Wirtschaftswachstum hat natürlich Folgen. Für die hohen Gewinn­erwartungen gingen die Banken ein hohes Risiko – ihr Geschäftsrisiko – ein, was jetzt auf die irischen Steuerzahler übergewälzt wird.
Die Regierung hat lange gezögert, ob sie das sogenannte Hilfspaket – ein Hilfspaket für die Banken – in der Höhe von 67,5 Milliarden Euro, das ihr EU und IWF aufdrängten, annimmt. Die irische Regierung hätte – wie die Regierung Kirchner in Argentinien – aufhören können, die ausländischen Schulden weiter zu bedienen, um das eigene Volk zu schützen. Nun hat sie sich entschieden, die Kapitaleigner, die Banken, zu schützen und das eigene Volk bluten zu lassen. Eine «gute Regierung» oder das «Inferno»?
Kapuzinerpater Kevin Crowley, Gründer des Capuchin Day Centre in Dublin, der aus Spendengeldern täglich eine warme Mahlzeit für die Ärmsten ausgibt, macht sich Sorgen: «Angst ist allgegenwärtig. Die Leute fürchten sich vor einer ungewissen Zukunft. Sie fragen sich, wie lange wird das dauern. Wie können wir unter diesen Umständen überleben?» Und später ergänzt der fromme Mann: «Was mich wirklich ärgert, ich würde die Verantwortlichen der Krise einsperren für den Rest ihres Lebens!»8 Die Wut auf die Verantwortlichen ist gross. Neun von zehn Iren sind heute gegen ihre Regierung eingestellt.9
Anders als in Sienas «irdischem Paradies» geht in Dublin die Angst um.
Was läuft schief auf dem «freien» Markt, und was müssen wir ändern?

Was läuft schief auf dem «freien» Markt? Welche Wirtschaft wollen wir?

«Wir brauchen im wörtlichen Sinne [...] eine zivilisierte Marktwirtschaft. Das heisst eben eine Marktwirtschaft, deren gutes Funktionieren gemessen wird an ihren Diensten für die Civil Society, für das Leitbild einer vollentfalteten und wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger», sagt der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich.10 Wir brauchen eine Wirtschaft in republikanischem Geist, bei der das Wirtschaften – wie im «irdischen Paradies» – in die Gesellschaft eingebunden ist und nicht umgekehrt,  wie z.B. in Irland, wo die Wirtschaft die ­Politik dominiert. Die einseitige Shareholder-Orientierung, die Konzentration auf die fetten Gewinne, das Wirtschaftswachstum und den Wettbewerbsvorteil, die vielgepriesenen Ideale der heutigen Marktgesellschaft bedeuten den Ruin der Bürgergesellschaft und haben aktuell Irland, und nicht nur Irland, ins Chaos gestürzt. Die Lösung der aus der freien Markt-Misswirtschaft entstandenen gesellschaftspolitischen Probleme liegt nicht in einer EU-Wirtschaftsregierung, in einer Konzentration von Wirtschaftsmacht, wie es Merkel und Sarkozy vorschlagen, sondern in der «Neuordnung des Verhältnisses von Bürgergesellschaft und Marktwirtschaft», wie es Peter Ulrich in seinem Buch «Zivilisierte ­   Marktwirtschaft»11 entwickelt.
Dass wir heute überhaupt vor der Neuordnung des Verhältnisses von Bürgergesellschaft und Marktwirtschaft stehen, liegt daran, dass wir das grossartige Projekt der Moderne, Vernunftgebrauch und Freiheitsidee, nicht vollendet haben. Dort liegen die Ursachen für die Misere und auch der Ausweg. Das Gebiet der Ökonomie überliessen wir dem Liberalismus bzw. dem Neoliberalismus; wir haben im wirtschaftlichen Bereich nicht gleichermassen Aufklärung betrieben wie auf politischem Gebiet. So fehlt den Persönlichkeits- und Freiheitsrechten, die auf politischem Gebiet die freiheitlich-demokratische Gesellschaft begründen, bis heute das ökonomische Pendant. Deshalb fordert Peter Ulrich Wirtschaftsbürgerrechte: einen fairen Zugang zu Bildung und Know-how, zu Kapital und Kredit, Zugang zu Erwerbsarbeit für alle Bürger und nicht zuletzt soziale Schutz- und Teilhaberechte, die «allen Wirtschaftsbürgern eine faire Chance auf ein selbstbestimmtes und kultiviertes Leben12 ermöglichen. Wie die Bürgerrechte im einzelnen aussehen sollen, welches Modell wir verwirklichen wollen, muss der Bürger als Souverän in «öffentlichem Vernunftgebrauch» aushandeln.
Den Sieg des Ökonomismus über die politische Vernunft setzt Ulrich historisch bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts an, da die elende soziale Lage des Proletariats als Folge des damaligen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs deutlich sichtbar wird. Dort haben sich politischer und wirtschaftlicher Liberalismus auseinanderentwickelt. Während die politische Emanzipation in der freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung zur Entfaltung kommt, gibt das wirtschaftsliberale Bürgertum den emanzipatorischen Gedanken gleicher Wirtschaftschancen für alle auf, beharrt auf seinen Privilegien und wird zur konservativen Kraft. Je weiter sich die Schere zwischen arm und reich öffnet, desto stärker betont der Neoliberalismus «die Botschaft ‹Wohlstand für alle dank Wachstum›, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass man die politisch-liberale Idee des Gemeinwohls längst aufgegeben hat».13

Was heisst vernünftiges, fortschrittliches und freiheitliches Wirtschaften?

Um nun aber zu klären, wie ein vernünftiges, fortschrittliches und freiheitliches Wirtschaften, Voraussetzung für eine zivilisierte Marktwirtschaft, aussehen soll, müssen wir klären, was uns verlorengegangen ist, was wir weiterentwickeln und was wir neu denken müssen. Peter Ulrich kann aufzeigen, wie unter dem Einfluss des Neoliberalismus die grossen Leitideen der Aufklärung «Vernunft, Fortschritt und Freiheit» zu ökonomistischen Verkürzungen geschrumpft sind: Vom Gebrauch «lebenspraktischer Vernunft» blieb «Effizienz als Inbegriff ökonomischer Rationalität», «Fortschritt» mutierte zu «Wirtschaftswachstum» und von «Bürgerfreiheit» blieb nur mehr die «Marktfreiheit».
Die Emanzipation aus fremdbestimmtem Denken und Handeln erfolgte einst durch den Appell an die Ratio. Ein modernes Grundkonzept vernünftigen Wirtschaftens muss den Menschen als Ganzes, als Person und als Bürger berücksichtigen und sich an seiner Lebensdienlichkeit orientieren. «Zur Lebensdienlichkeit gehört sowohl eine Idee vom guten Leben als auch eine Idee vom gerechten Zusammenleben der Menschen.»14 Denn der Mensch ist ein kulturelles Wesen, das sich von allen anderen Tieren durch seinen Lebensentwurf, «den Willen zum Sinn», unterscheidet. Aber nur im Spannungsverhältnis zwischen dem guten Leben und dem gerechten Zusammenleben findet der Mensch als soziales Wesen seine persönliche Lebenserfüllung, findet er sein Glück. Dies ist nicht ausserhalb der sozialen Gemeinschaft zu finden, sondern in einem Balanceakt «zwischen Autonomie und Sinngemeinschaft mit anderen». Daraus folgt ein «kulturübergreifendes Ethos der Gegenseitigkeit», dessen grundlegendes moralisches Prinzip «die unbedingte Achtung und Anerkennung aller Menschen als Wesen gleicher Würde und mit gleichen Grundrechten»15 ist. Ein modernes, vernunftgeleitetes Wirtschaften muss daher den «effizienten» Umgang mit Gütern und Ressourcen stets im Zusammenhang mit «Fragen des gerechten Umgangs mit den sozialen Konflikten zwischen allen Beteiligten und Betroffenen lösen».16 Deshalb nennt Ulrich die Leitidee vernünftigen Wirtschaftens, die diese sozialen Probleme neben der Effizienz berücksichtigt, «sozialökonomische Rationalitätsidee».17 Unter Berücksichtigung dieser Vorstellung ist eine einseitige Problemlösung auf Kosten der Schwächsten, durch Kürzung des Mindestlohnes, der Altersrente, der Sozialhilfe und des Kindergeldes keine lebensdienliche Strategie, weil sie Hunderttausenden die Lebensgrundlage entzieht. Die Ärmsten werden in Irland ausgeplündert, während wenige Kapitaleigner mit dem Gewaltmonopol des Staates geschützt werden. Eine solche Situation verlangt von uns Bürgern, unsere wirtschafts- und staatsbürgerliche Aufgabe wahrzunehmen und «eine Neuausrichtung des sozioökonomischen Fortschritts, die lebenspraktisch Sinn ergibt und zu gerechteren gesellschaftlichen Verhältnissen führt»,18 zu entwickeln.
In dieser Auseinandersetzung zwischen «Marktfreiheit» und «Zivilisierter Marktwirtschaft» geht es um die Zukunft der Menschheit, es geht darum, ob es uns gelingen wird, einen politisch-gesellschaftlichen Fortschritt einzuleiten. «Sind wir fähig, als demokratische Gesellschaft, den politischen Willen zu entwickeln, mit den produktiven Mitteln, über die wir heute verfügen, etwas lebenspraktisch Vernünftiges anzufangen oder nicht?»19

Marktfreiheit versus Bürgerfreiheit

Von uns Bürgern einer freiheitlichen Gesellschaft, die auf der gegenseitigen Anerkennung von freien und gleichberechtigten Personen beruht, verlangt dies, dass wir einen gewissen Gerechtigkeitssinn20 besitzen und im öffentlichen und privaten Bereich gleichermassen integer handeln. Peter Ulrich nennt dies, einen «Bürgersinn» entwickeln. Ansonsten ist der Mensch als moralische Person nicht fähig, Mitverantwortung für die res publica zu übernehmen. Denn der homo oeconomicus kennt nur sein eigenes Vorteilsstreben und den «wechselseitigen Vorteilstausch»;21 davon geprägt sind auch seine sozialen Beziehungen. Wie man am Beispiel Irland sieht, sind die Hilfsmassnahmen von EU und Währungsfonds so strukturiert, dass sie diejenigen belasten, die nicht ursächlich am Zustandekommen dieser Krise mitgewirkt haben, während die Verursacher die Entscheidungen so einzurichten wissen, dass sie die Folgen möglichst nicht treffen.22 Daran sieht man deutlich, dass nicht der freie Markt die grösstmögliche reale Freiheit aller Bürger begründet, sondern erst die Einrichtung einer modernen, vollentwickelten Bürgergesellschaft. Deshalb muss eine vollentfaltete Bürgergesellschaft, die aus Bürgern mit ausgeprägtem Bürgersinn besteht, starke Bürgerrechte kennt und in der Lage ist, die Marktkräfte in die republikanisch-liberale Gesellschaftsordnung einzubinden, unser erstes Ziel sein.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, dass die freie Marktwirtschaft aus dem Ruder gelaufen ist. Der Euro droht zu scheitern mit relativ unübersehbaren Folgen für grosse Teile Europas. Die Frage stellt sich, wo Abhilfe zu erwarten ist, in einem Mehr an Wirtschaft wie Merkel und Sarkozy es in ihrer EU-Wirtschaftsregierung vorschlagen, oder in einem Mehr an Demokratie, an öffentlichem Vernunftgebrauch, an wohlgeordneter Bürgergesellschaft? Wollen wir Wirtschaftsabsolutismus, oder wollen wir Demokratie? Das «irdische Paradies», wie es Lorenzetti für die Sieneser Kommune im 14. Jahrhundert realisiert hat, zeigt uns die Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft. Irland und Griechenland zum Beispiel widerspiegeln das drohende Inferno, wo Recht und Solidarität sich aufzulösen drohen. Es ist an uns, eine Entscheidung zu treffen und den politischen Willen zu entwickeln, uns in einer Bürgergesellschaft zu organisieren, in der ein wohlgeordneter Rechts- und Solidaritätszusammenhang entsteht, um mehr Freiheit und Gerechtigkeit für alle zu schaffen.    •

1    Der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Pubblico in Siena von 1339 war seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts als die «Allegorie der guten Regierung und ihre Auswirkungen auf Stadt und Land» bzw. die «Allegorie der schlechten Regierung und ihre Auswirkungen auf Stadt und Land» bekannt. Eine jüngere Dissertation von Doris Schmidt, die an der Universität St. Gallen am staatswissenschaftlichen Lehrstuhl bei Prof. A. Riklin eingereicht wurde, konnte jedoch nachweisen, dass die drei Wandbilder einen Teil des von Dante in seiner «Commedia» vorgezeichneten Läuterungsweges verarbeiten, der den Menschen durch Inferno und Purgatorio den Weg zur irdischen Glückseligkeit aufzeigt. Vgl. Doris Schmidt: Der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti über die gute und schlechte Regierung. Eine danteske Vision im Palazzo Pubblico von Siena. St. Gallen 2003. Dissertation Nr. 2656
2    a.a.O., S. 71
3    a.a.O., S. 75f
4    a.a.O., S. 147
5    a.a.O., S. 163
6    Aus der Statistik der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Juni 2010) geht hervor, dass Irlands Schulden gegenüber europäischen Gläubigern jetzt 508,6 Milliarden Dollar betragen, 148,5 Milliarden gehen dabei auf britische und 138,5 Milliarden auf deutsche Gläubiger zurück. Der Rest verteilt sich auf deutlich kleinere Beträge.
7    S. Walter Meier: Irland und seine Banken als Opfer des Immobilienbooms, in: «NZZ» vom 26. November
8    Kapuzinerpater Kevin Crowley, in: Spanien und Irland: Die Mechanik der Krise». Wirtschaftssendung eco vom 6. Dezember, 22.20 Uhr,
<link http: www.sendungen.sf.tv eco>www.sendungen.sf.tv/eco 
9    Laut «Irish Times» vom 15. Dezember, Umfrage vom 13. und 14. Dezember
10    Peter Ulrich im Gespräch mit Roger de Weck in der Sternstunde Philosophie: Moralspritze für die Wirtschaft. 7. Juni 2009, um 11.04 Uhr. Abgedruckt in Zeit-Fragen Nr. 25 vom 22. Juni 2009
11    Peter Ulrich: Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung, Bern 2010,
S. 169. ISBN 978-3-258-07604-1. S. 84
12    a.a.O., S. 83
13    a.a.O., S. 53
14    a.a.O., S. 28
15    a.a.O., S. 29f.
16    a.a.O., S. 40
17    a.a.O., S. 41
18    a.a.O., S. 42
19    a.a.O., S. 63
20    vgl. Peter Ulrich, S. 68f.
21    a.a.O., S. 74
22    Wenn der irische Ministerpräsident 6% seines Monatseinkommens von 19 000 Euro einbüsst, bleibt ihm genug zum Leben. Wenn der Arbeiter von 1380 Euro im Monat 12% weniger bekommt, dann wird die Sicherung des Lebens mehr als fraglich.

Was passiert nach einem Euro-GAU? – Die «Planspiele» laufen schon

Da wird es auch deutschen Finanzexperten schlecht: Rund eine halbe Billion (500 Milliarden) Euro schulden die vier Krisenländer Spanien, Irland, Griechenland und Portugal der Bundesrepublik Deutschland. Spanien ist mit 216,6 Milliarden Euro (alles Stand Mitte 2010, letzte offizielle Zahlen) Spitzenreiter, gefolgt von Irland (!) mit satten 186,5 Milliarden Euro. Das am meisten im Rampenlicht stehende Griechenland steht mit 65,5 Milliarden Euro in der Kreide vor dem «Schluss­licht» Portugal mit 44,2 Milliarden Euro. Fachleute weisen denn auch geisselnd darauf hin, dass «damit über eine halbe Billion Euro Auslandsschulden ‹in Frage gestellt› sind». Das würde sogar eine stramme D-Mark, wie sich viele wieder wünschen, in Frage stellen.
Rechnet man in der Bundesrepublik Deutschland in Sachen Eurokrise mit dem grössten GAU? Glaubt man Fachleuten, liegt ein entsprechendes Strategiepapier in grossen Zügen bereit. Für den Fall einer sich ausweitenden Euro-Schuldenkrise und eines möglichen Ausscheidens eines Landes aus dem Euro-Verbund oder eines Staatsbankrotts hat man in Deutschland und anderen europäischen Ländern vorsichtshalber vorgesorgt. Für diesen Fall ist auch in Deutschland mit der zeitweisen Schliessung der Bankschalter und der Stilllegung aller Geldautomaten für einige Tage zu rechnen. Insgesamt haben deutsche Privatpersonen und Unternehmen (einschliesslich der Versicherungen) Vermögenswerte von rund 4,8 Billionen Euro «gebunkert». Eine Summe, die die US-amerikanischen Auslandsschulden (umgerechnet rund 3 Billionen Euro) bei weitem übertrifft. Die Deutschen könnten mit anderen Worten sowohl die US-Auslandsschulden wie auch die gegenwärtige Verschuldung Deutschlands (Bund, Länder und Gemeinden) mit einem Schlag bezahlen.
Neben der Schliessung der Bankschalter und Geldautomaten ist auch mit einem Aussetzen des Börsenhandels für einige Tage und mit einer «Störung» des Internets zu rechnen – damit soll verhindert werden, dass sich grössere Menschenmengen über dieses Medium zu Protestkundgebungen verabreden. Auch an eine mögliche Einbeziehung der Bundeswehr (zum Schutz der Banken?) wird gedacht. Es ist nicht sicher, dass Deutschland ein derartiges Szenario droht, aber die wachsende Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Die «Planspiele» laufen jedoch schon.
Eine diversifizierte Vermögensanlage, bei der man sich nicht alleine auf «Sparbuch und Festgeld» verlässt, ist daher mehr denn je angeraten! Auch empfiehlt es sich, einen – nach den persönlichen Lebensumständen bemessenen – Bargeldvorrat anzulegen, der mindestens für die während eines Monats üblichen Ausgaben reicht.

Quelle: Vertraulicher Schweizer Brief vom 30.12.2010

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