«Unkenntnis, Unverständnis oder bewusste Provokation?»

«Unkenntnis, Unverständnis oder bewusste Provokation?»

«Die afrikanischen Völker und Regierungen müssen ihr Denken frei machen, sich geistig entkolonisieren, um ihre Würde und ihren Stolz wiederzufinden und ihr Schicksal entschlossen in die Hand zu nehmen.»

zf. Russland hat nach den Bränden dieses Sommers das gemacht, was für jedes Land selbstverständlich ist, ob es nun der neoliberalen Globalisierung passt oder nicht: Es hat zuallererst für die Vorräte für die eigene Bevölkerung gesorgt. Die USA, die ihre Führungsrolle in den fürchterlichen Kriegen der letzten 20 Jahre verspielt haben, waren ihrerseits auch protektionistisch, haben aber von allen anderen Ländern das Gegenteil verlangt. Sie und ihre Verbündeten schimpfen denn auch am lautesten über Russlands Protektionismus und lassen keine Gelegenheit dazu aus.
Wenn wir Europäer uns aber nur ein klein wenig im grossen «Rest der Welt» umhören, dann erfährt man, dass wir unter dieser neoliberalen angloamerikanischen Belehrung beinahe ein eigenständiges Denken und ein selbständiges Hinschauen verlernt haben.
Afrika zum Beispiel hat im Band «L’Afrique répond à Sarkozy» ein aufrechtes Bekenntnis zu seinen eigenen Völkern und seiner eigenen Entwicklung formuliert, das aufhorchen lässt. Eine Arbeitsgruppe an der Universität Wien hat Teile aus dem französischen Sammelband nun in Deutsch zugänglich gemacht.
Daraus aus dem Beitrag des Wirtschaftswissenschafters Demba Moussa Dembélé einige Auszüge. Auf das Buch als Ganzes werden wir in einer späteren Ausgabe zu sprechen kommen.
Demba Moussa Dembélé, seines Zeichens in Frankreich und den USA ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler und intimer Kenner der westlichen wie auch der afrikanischen Welt, setzt sich seit längerem für die endogene Entwicklung Afrikas ein und ist ein profunder Kritiker des neoliberalen Paradigmas. In seinem Aufsatz «Unkenntnis, Unverständnis oder bewusste Provokation?» attestiert er Nicolas Sarkozy für die in seiner Rede vom 26. Juli 2007 in Dakar gemachten Äusserungen eine «nahezu unermessliche Weite von Unkenntnis der afrikanischen Geschichte». Im Gegensatz zu Sarkozys beleidigenden Aussagen sei, so Dembélé, die Geschichte des Kapitalismus von Anfang an mit dem Blut, dem Schweiss und den Ressourcen der afrikanischen Völker geschrieben worden. Es handle sich hier um den grössten Genozid in der Geschichte mit mehreren Dutzenden von Millionen Todesopfern. Die Folgen dieser Massenvernichtung bestimmten bis heute die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Afrikas. Denn nach den Menschen kamen die Ressourcen dran. So schreibt Dembélé:
«Halten wir also für Herrn Sarkozy fest, dass Afrika mit der westlichen Welt zu einem Zeitpunkt in Kontakt kam, als diese gerade das Mittelalter hinter sich gelassen hatte und ihre Renaissance zu gestalten begann. Der Kontakt erfolgte in zweierlei Form: Sklavenhandel und Kolonialismus, zwei Faktoren, die für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Afrikas ausschlaggebend werden sollten. Sie zerstörten nicht nur das sozioökonomische Gefüge der vorkolonialen Gesellschaft, sondern systematisch auch die afrikanische Kultur und Mentalität. Somit sind die heutigen Probleme Afrikas weder durch eine fehlende noch durch eine verspätete ‹Integration› des Kontinents in die Welt zu erklären, sondern durch die Art und Weise, wie er in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert und wie Letztere zum Blühen gebracht wurde, nämlich durch das Blut und den Schweiss von Afrikas Söhnen und Töchtern sowie durch die schamlose Plünderung afrikanischer Ressourcen.
Aber Klischees sind langlebig. Im Grunde übernimmt Nicolas Sarkozy bloss die vereinfachenden ‹Erklärungen›, die von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) gern aufgetischt werden, wenn sie nämlich das Scheitern ihrer Kuren auf die angeblich fehlende Integration Afrikas in die neoliberale Wirtschaftsordnung zurückführen. Im wesentlichen geht es bei diesem Thema um die sogenannte ‹Marginalisierung› Afrikas im Welthandel. [...] Laut UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) machte der gesamte Handel Afrikas (also Exporte und Importe zusammengerechnet) im Zeitraum 2000/2001 50,4% des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus, während er 1980/1981 45% betrug (CNUCED 2003a). Mit anderen Worten, im Jahr 2001 stammte mehr als die Hälfte des nationalen Einkommens dieses Kontinents aus dem Wirtschaftsaustausch mit dem Rest der Welt. Zum Vergleich der entsprechende weltweite Mittelwert: rund 16 %; der Mittelwert für Europa: 12,8%; und der für die USA: 13,2% (Amin 2001).
Die These von der ‹Marginalisierung› Afrikas in der Weltwirtschaft gehört somit relativiert. In Wirklichkeit hat – wie ich noch ausführen werde – ein Zuviel an ‹Integration› Afrika so anfällig für von aussen kommende Erschütterungen und zum Hauptopfer der neoliberalen Globalisierung gemacht.» (S. 155/156)
In der internationalen Arbeitsteilung wurde Afrika die Rolle des Rohstofflieferanten zugeteilt. Die neoliberale Politik, diktiert durch die internationalen Finanzinstitutionen, macht die afrikanischen Länder anfälliger für die Erschütterungen von aussen: «Laut UNCTAD sind die afrikanischen Exporte zu zwei Dritteln aus un- oder halbverarbeiteten Produkten zusammengesetzt. Auf siebzehn der zwanzig wichtigsten Exportartikel des Kontinents trifft das zu. Nun sind aber die Preise dieser Waren Senkungen zwischen 10 und 18% unterworfen, nachweislich in der Zeit zwischen 1981 und 2001. Im Jahr 2001 fielen die Preise für Kaffee um 35%, für Baumwolle um 19%, für Fisch um 21%. In den 1970er und 1980er Jahren waren die Preisschwankungen bei den afrikanischen Exportartikeln zweimal so stark wie bei den asiatischen, in den 1990er Jahren viermal so stark wie bei den Exporten der hochentwickelten Länder. Diese Fluktuationen erklären den rückgängigen Anteil Afrikas an den weltweiten Exporten (von ca. 6% im Jahr 1981 auf ungefähr 2% im Jahr 2002) bei gleichzeitig sinkendem Anteil an den weltweiten Importen (von 4,6% auf 2,1%) (CNUCED 2003b). Unter den Faktoren, die zu solchen Preisschwankungen führen, stechen zwei heraus: ein viel zu hohes Angebot auf den internationalen Märkten, das seinerseits aus der Exportorientierung der afrikanischen Nationalwirtschaften resultiert, welche vorwiegend auf den Abbau der Auslandsschulden ausgerichtet sind; und insbesondere die von den Industrieländern praktizierten Agrarsubventionen.» (S. 159/160)
Dass der Westen mit doppelten Standards und voller Heuchelei agiert, weist Dembélé am Beispiel der Subventionspolitik der Industriestaaten nach. Während die USA ihre Baumwollexporteure mit mehreren Milliarden Dollar subventioniert und damit den sonst immer freimütig propagierten und den anderen Ländern mit Kanonenbootdiplomatie aufgezwungenen Freihandel in die eigene Tasche umlügt, sind die afrikanischen Baumwollanbauer die Leidtragenden, mit Verlusten von mehreren hundert Millionen Dollar: «Schätzungen zufolge pumpen die OECD-Länder, also der Club der ‹reichsten Länder›, täglich mehr als eine Milliarde Dollar in Agrarsubventionen. Dabei entstehen jährliche Summen, die die ‹Hilfsgelder› an die Länder der südlichen Halbkugel um mehr als das Sechsfache übersteigen. Ganz zu schweigen von den durch solche Agrarsubventionen verursachten Einbussen, die die südlichen Länder bei ihren Exporterlösen hinnehmen müssen. Diese Verluste betragen mehrere hundert Milliarden Dollar und betreffen vor allem jene Produkte, für deren Gewinnung eine hohe Zahl an Arbeitskräften erforderlich ist (CNUCED 2000). Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen/United Nations Development Programme (UNDP) zieht daraus den Schluss, dass die Bedeutung eines Landes im Welthandel nicht so sehr von seinem ‹relativen [also an den Konkurrenten gemessenen] Vorteil› abhängt, sondern vielmehr von seinem ‹relativen Zugang zu Subventionen›! (PNUD 1997)
Einer der kostenintensivsten Subventionsapparate ist die gemeinsame Agrarpolitik der EU. Sie und diverse protektionistische Massnahmen wie sanitäre Bestimmungen (Menschen, Tiere und Pflanzen betreffend) oder das Regelwerk für den Herkunftsnachweis und nicht zuletzt auch die Tarifspirale bei den Fertigprodukten sind allesamt hauptverantwortlich für den starken Knick bei den Exporten aus den AKP-Ländern in die EU: Sie betrugen 1976 7% des gesamten Importvolumens der EU, 2001 waren es nur mehr 3,6% (Oxfam international 2006).» (S. 161)
Die AKP-Länder sind afrikanische, karibische und pazifische Staaten, die früher zumeist Kolonien Frankreichs oder Grossbritanniens waren und heute eine wirtschaftliche Zusammenarbeit anstreben.
Dembélé fährt wie folgt fort: «Gleichzeitig überschwemmt die Europäische Union den afrikanischen Markt unbekümmert mit ihren Produkten aus subventionierten Branchen und schadet auf diese Weise der heimischen  Produktion in Afrikas Staaten. So haben beispielsweise die europäischen Tiefkühl-Hühnerkeulen in mehreren afrikanischen Ländern (v.a. Kamerun, Côte d’Ivoire, Senegal) den gesamten nationalen Geflügelsektor in die Knie gezwungen. Im Senegal verloren zwischen 1995 und 2002 die in dieser Sparte aktiven Unternehmen in ihrem eigenen Land 70% ihres Marktanteils an die europäischen Hühnerkeulen-Importeure. Vergleichbares spielt sich in anderen Lebensmittelsektoren ab, etwa bei Milchprodukten, Tomaten oder Zwiebeln (Dembélé 2003).» (S. 161f.)
Die katastrophale Lage der Länder Afrikas ist nicht selbstverschuldet, sondern Folge des Neokolonialismus, welcher lediglich einen neuen feudalistischen Mantel umgelegt hat und heute via Weltbank und IWF die Völker Afrikas bis aufs Blut aussaugt. Der Gipfel der Unverfrorenheit: dass der Westen die eigene Korruption und Verderbtheit einzelnen von ihnen bestochenen afrikanischen Regierungen in die Schuhe schiebt und sich den Afrikanern gegenüber immer noch oberlehrerhaft gebärdet. So schlussfolgert Dembélé: «Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die heutigen Schwierigkeiten auf dem afrikanischen Kontinent Ergebnis einer bewussten Politik sind, die sich ebenso aus einer vergangenen wie aus einer aktuellen Quelle speist: aus hierarchischen Verhältnissen im Sinne von Herr und Knecht und aus der internationalen Arbeitsteilung als Erbschaft des Kolonialismus, als ungebrochene Praxis im Neokolonialismus und als Ausdruck der Polarisierungstendenz des Kapitalismus. Gewiss sind afrikanische Politiker für diese Situation in erheblichem Ausmass verantwortlich. Sie müssen vor allem verantworten, fast alle Strukturen und Formen der Einflussnahme – etwa den CFA-Franc in den meisten ehemaligen französischen Kolonien – unverändert aus dem Kolonialismus übernommen zu haben. Sie müssen sich leider vorwerfen lassen, dass sie den Politikern des Westens vertraut und daher mit zu verantworten haben, dass deren versprochene ‹Hilfe› zur Entwicklungsförderung Afrika in Wirklichkeit in die jetzige Sackgasse manövriert hat. Sie müssen sich zu Recht vorwerfen lassen, die staatliche Souveränität nicht gewahrt und verteidigt, sondern das Schicksal ihres Landes der Weltbank und dem IWF überantwortet zu haben, zum grossen Vorteil dieser beiden Institutionen und zum verheerenden Nachteil für Land und Menschen. Und was schlagen Weltbank und IWF heute vor? Die «Reduzierung der Armut». Mehr fällt ihnen nicht ein?
Die Chancen auf Entwicklung in Afrika werden verbaut, afrikanische Staaten werden zugrunde gerichtet, über die Privatisierungspolitik werden Ressourcen und Reichtum des Kontinents zu einem westlichen Selbstbedienungsladen umfunktioniert, über Schuldendienst und Kapitalflucht werden die Ressourcen systematisch aus Afrika hinausgeschaufelt, die intellektuelle Ausdünnung wird begünstigt ... und nach alledem der Vorwurf an Afrika, es sei selbst schuld, wenn es der Weltentwicklung so ‹hinterherhinke›!
Wir stellen uns entschieden gegen die Aussagen der internationalen Finanzinstitutionen und der westlichen Politiker vom Typ des Nicolas Sarkozy, der versucht, die Hauptverantwortung für Afrikas Krise auf die afrikanische Bevölkerung und die afrikanischen Regierungsverantwortlichen abzuwälzen. Wer das tut, beleidigt die Intelligenz der Afrikaner.» (S. 171f.)
Aber was bräuchte Afrika, so man denn die Afrikaner selber machen liesse? In einem Punkte könne man Sarkozy zustimmen, meint Dembélé, wenn jener betone, dass Afrika Solidarität, Verständnis und Respekt verdiene: Die Frage stelle sich nur, was man darunter verstehe. Dembélé: «Ja, gewiss, Afrika braucht keine milde Gabe. Es braucht die Freiheit, seine eigene Vision von seiner Entwicklung und vom Weg bzw. den Mitteln zu ihrer Verwirklichung zu definieren. Dieser Weg verläuft notwendigerweise über die Beendigung des Kolonialpakts und der Françafrique. Die fast einhellige Ablehnung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen durch die afrikanischen Länder ist das Zeichen einer Bewusstwerdung: Afrika darf nicht mehr hinnehmen, dass man ihm eine Politik aufzwingt, die gegen seine Interessen verstösst. Herr Sarkozy und Eu­ropa sollen merken, dass Afrika aufgehört hat, ‹naiv› zu sein, dass es seine Entscheidungen ohne wie auch immer geartete Steuerung von aussen treffen wird und dass es nie wieder Beute für gegenwärtige oder künftige ‹Raubtiere sein will›.
Auf diesem Weg gilt es weiterzugehen. Die afrikanischen Völker und Regierungen müssen ihr Denken frei machen, sich geistig entkolonisieren, um ihre Würde und ihren Stolz wiederzufinden und ihr Schicksal entschlossen in die Hand zu nehmen. Die Afrikaner müssen die Debatte über die Entwicklung ihres Kontinents an sich ziehen und dürfen nicht zulassen, dass andere in ihrem Namen sprechen bzw. Afrika sein Verhalten diktieren. Es gilt, die von der Kolonisation überkommenen Strukturen abzuschaffen und die Einmischung der internationalen Finanzbehörden zu beenden. Es ist notwendig, die von der Abhängigkeit vom Ausland geprägte Mentalität zu überwinden und die Idee, Afrikas Entwicklung beruhe auf der ‹Hilfe› von aussen, unglaubwürdig werden zu lassen.» (S. 182f.)    •
Aus: Peter Cichon, Reinhart Hosch, Fritz Peter Kirsch (Hg.): Der undankbare Kontinent? Afrikanische Antworten auf europäische Bevormundung. ISBN 978-3-88619-474-2

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