«Der Mensch ist das Mass aller Dinge!»

«Der Mensch ist das Mass aller Dinge!»

Das Machtprinzip ist dem Wesen der Genossenschaftsordnung fremd

von Helmut Faust

ts.Die humanitäre Schweiz, wie auf den vorangehenden Seiten deutlich geworden, geht vom Menschen aus, stellt ihn ins Zentrum aller Bemühungen und lehnt es ab, ihn als Mittel zum Zweck zu benutzen. Dieser Geist, den die Schweizerische Eidgenossenschaft auch im Ausland lebt, hat direkt mit der Geschichte der Schweiz und ihrer Entstehung aus dem Geiste des Genossenschaftsprinzips zu tun. Grundlage des Genossenschaftlichen ist die Würde jedes einzelnen Menschen und ein Zusammenwirken in ethischer Hinsicht. Gerade in der heutigen krisengeschüttelten Zeit lohnt sich ein Blick auf die Grundlagen dessen, was eine Genossenschaft ausmacht. Die folgenden Zeilen sind dem Grundlagenwerk von Helmut Faust entnommen und haben an Aktualität nichts verloren.

Es gibt allgemeine ethische Werte, die das gesellschaftliche Leben der Menschen erhöhen, ihre gegenseitigen Beziehungen sublimieren. Wir nennen Sittlichkeit, Gerechtigkeit, Redlichkeit, Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit, Treue, Dankbarkeit, Demut, Opferbereitschaft, Toleranz, Mitgefühl und Rücksicht auf den Mitmenschen und nicht zuletzt Solidaritätsbereitschaft. Diese Werte sind keine Privilegien der Genossenschaften; sie sollten auch in der übrigen Wirtschaft Richtschnur des Handelns sein. Aber sehr oft werden dort diese Tugenden nur geübt aus Rücksicht auf «die anderen», weil einem sonst selbst Schaden widerführe. Es kommt aber auf die Motive an, die den ethischen Werten ihren Rang im wirtschaftlichen Verhalten der Menschen verleihen. Nur wenn diese nicht egoistischen, rechnerischen, ökonomischen Ursprungs sind, sondern wirklichem sittlichem Empfinden und Bemühen entspringen oder anders ausgedrückt, wenn die ethischen Kategorien um ihrer selbst willen erkannt und befolgt werden, dann sind sie der Ausdruck einer besonderen, höheren Wirtschaftsgesinnung. Eine solche Gesinnung in den Genossenschaftsmitgliedern wirksam werden zu lassen, und der Genossenschaft damit einen eigenen Wirtschaftsstil zu verleihen, dazu sind die in den Genossenschaften tätigen Führer- und Elitenaturen seit eh und je aufgerufen gewesen; an sie als den berufenen Schöpfern und Trägern der genossenschaftlichen Gemeinschaft bleibt auch in der Gegenwart der hohe und zugleich schwere Auftrag gerichtet, das wirtschaftliche Handeln und menschliche Tun der Mitglieder im Verhältnis zueinander im Sinn einer reinen Wirtschafts- und Sozialethik moralisch zu beeinflussen. Dabei ist es selbstverständlich, dass man sich mit allen ethischen ­Postulaten stets an das Erreichbare zu halten hat. Aber, um nur ein Beispiel zu nennen, die Beeinträchtigung der genossenschaftlichen Gleichberechtigung durch Machtausübung einzelner ist mit der Genossenschafts­idee unvereinbar.
Von allen Genossenschaftstheoretikern hat das Karl Munding am deutlichsten ausgesprochen: «Die Gestalt des Machtsuchers muss aus der Genossenschaftswelt verbannt sein. Sie ist die Klippe, an der das Schiff der Liebe und des gegenseitigen Vertrauens scheitert. Das Machtprinzip ist dem Wesen der Genossenschaftsordnung fremd, und wo immer es auftaucht, hat es Entartung und Auflösung im Gefolge. Die genossenschaftliche Autorität wächst aus den Tiefen des genossenschaftlichen Glaubens, aus tätigem Pflichtgefühl, aus Selbstachtung und Selbstregierung. In allen ihren Abstufungen ist sie sich ihrer innersten Natur nach gleich.»
Das Naheliegende ist, die immergültigen ethischen Werte in den genossenschaftlichen Betrieben selbst zur Geltung zu bringen, diese zu Pflegestätten sozialer und humaner Gesinnung zu machen. Es gilt, die menschlichen Beziehungen innerhalb der betrieblichen Gemeinschaft bewusst zu fördern im Sinne einer Ethisierung des Arbeitsverhältnisses, so wie sie Wilhelm Kalveram aus christlicher Sicht gefordert hat: «Ehrfurcht vor dem Menschen als Berufsträger, Verständnis gegenüber den Forderungen, die aus gesundem Ehrgefühl und Freiheitsbewusstsein entspringen, Vermeidung eines kalten, schroffen Tones und eines absolutistischen Herrenstandpunktes.» Die Arbeitsstätte soll für jeden Mitarbeiter «eine Quelle innerer Befriedigung, persönlichen und sittlichen Reiferwerdens und einer Aufwärtsentwicklung seiner Persönlichkeit werden».
Aber der Auftrag an die genossenschaftlichen Führer geht noch weiter. Sie haben das genossenschaftliche soziale Ethos, soweit das dem Grundauftrag der Mitgliederförderung nicht zuwiderläuft, auch im Verkehr der Genossenschaft mit den ausserhalb des genossenschaftlichen Gemeinschaftsbetriebes stehenden Wirtschaftspartnern anzuwenden. Denn wenn man eine genossenschaftliche Gesinnung überhaupt bejaht, dann lässt sich diese weder teilen noch beschränken. Eine dualistische Ethik, die Moral und Sittlichkeit nur gegenüber den Gruppengenossen fordert und gegenüber Aussenstehenden völlige Willkür zulässt, entspricht nicht genossenschaftlichem Geist. Das mag manchem handelnden Pragmatiker, der sich im harten Wettbewerb des Tages behaupten muss, ungewöhnlich erscheinen oder ihn gar zum Widerspruch herausfordern, aber es ist eine Wahrheit, die angehört sein will.

Dem Menschen wieder seinen Platz sichern

Der Mensch ist das Mass aller Dinge! Wenn irgendwo, so sollte dieser sozialpolitische Leitwert in den Genossenschaften gültig sein.
Es gehört in dieser Zeit der Versachlichung schon beinahe Mut dazu, solche Sätze niederzuschreiben. Aber sie sind nicht für den Augenblick bestimmt, sondern einem Denken auf lange Sicht entsprungen; sie sollen gelten für alle Zeiten. Deshalb sollte auch nicht versucht werden, sie als Emotionalismus abzutun.
Wenn man heute in die Wirklichkeit der genossenschaftlichen Betriebe hineinsieht, kommt man nicht an der Feststellung vorbei, dass sich allenthalben ein zunehmender Abbau der genossenschaftlichen Wirtschaftsgesinnung vollzieht. Angesichts eines solchen «Säkularisierungsprozesses» glauben dann manche Theoretiker resignierend feststellen zu müssen, dass die genossenschaftliche Ideologie infolge der veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umweltbedingungen an Wirksamkeit eingebüsst habe. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern einerseits und der Mitglieder zum genossenschaftlichen Betrieb andererseits seien sachlicher, ökonomischer geworden. Ja, man gelangt zu der Feststellung, dass die Genossenschaften sich in einem «Transformationsprozess befinden, der sie von ursprünglich betont sozialen Gebilden zu personengebundenen instrumentalen Organen werden lässt», in denen die wirtschaftlichen Aufgaben jetzt dominierend hervortreten.
Solche Feststellungen und Betrachtungen halten sich an den Bereich des Seins, wir aber haben im Sinn auch die Sphäre des Sollens. Einem unter dem Eindruck dieser Zeit­epoche geborenen Pessimismus stellen wir die Hoffnung entgegen. Darum glauben wir uns verpflichtet, noch einmal auszusprechen, dass die Genossenschaft keine flüchtige, veränderliche, sondern eine immerwährende Erscheinungsform ist, die in ihrer inneren geistigen Struktur, in ihrem Wesen, als Idee ganz unverändert durch die Zeiten gegangen ist. Die Tatsache, dass die meisten Genossenschaften heute mehr «gesellschafts- als gemeinschaftsstrukturiert» sind, wie Weippert feststellt, ist sicherlich recht häufig und nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass von vielen der in ihnen tätigen Führer echte geistig-sittliche Impulse nicht ausgegangen sind. Mit klaren Worten hat das auch Draheim zum Ausdruck gebracht: «Das Unvermögen, soziale Leistungen zu vollbringen, wird nicht selten dadurch begründet sein, dass die Menschen in der Geschäftsführung fehlen, die in der Lage sind, ökonomische Leistungsfähigkeit mit sozialem Verhalten in optimaler Weise zu kombinieren.» Die Wandlung der Genossenschaft im Sinne immer stärker in Erscheinung tretender Versachlichung, Ökonomisierung, ihre Entfernung von ihrer Urform bedeutet aber nicht, dass sie ihrem Ursprung und Wesen nach eine Wirtschaftsform wie jede andere sei. Das Entgegengesetzte ist richtig: mit der Ausübung ihrer ökonomischen Funktion ist ihr Sein nicht erfüllt. Die Überzeugung der Genossenschaftsmitglieder, Träger eines Gemeingeistes zu sein und einer Gesinnung, die im Wirtschaftsprozess dem Profitstreben und dem Eigennutz den Vorrang verweigert, eine ethisch erfüllte Solidarität fordert, und dem Menschlichen wieder seinen Platz zu sichern sucht, war und bleibt auch im Wandel der Zeit das Fundament des genossenschaftlichen Gebäudes.

Wiedergeburt der Genossenschaft aus dem Geist

Nur eine Denkweise solcher Art ist dazu angetan, den Menschen unserer Zeit aus der Selbstentfremdung in einer technisierten Welt wieder zum Menschlichen hinzuführen, der Entpersönlichung unseres Lebens Einhalt zu gebieten. Aber eine solche Gesinnung, die der verwahrlosenden Wirtschaftsgesinnung unserer Zeit entgegenzustellen ist, bedarf der ständigen Förderung, dies um so mehr, weil das Genossenschaftswesen mit dem Grundsatz der Freiwilligkeit steht und fällt. Nun gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, auf die Gesinnung der Genossenschaftsmitglieder einzuwirken, insbesondere zu versuchen, ihr Verhältnis zu der sie vereinigenden Genossenschaft enger zu gestalten. Dazu gehört in erster Linie, wir wiederholen es noch einmal, die der Genossenschaft innewohnenden gemeinschaftsbildenden Kräfte zu suchen und zu nutzen. Die genossenschaftlichen Führer stehen vor der grossen Aufgabe, die Genossenschaftsmitglieder auf höherer geistiger Ebene wieder zu einer einigenden Liga zusammenzuführen. Die geistige Bindung, die alle der Genossenschaftsbewegung angehörigen Menschen eint, müssen die gemeinsamen, höheren geistigen und sozialethischen Wertvorstellungen sein.
Solche Bemühungen können vor allen anderen gestützt werden durch eine Intensivierung genossenschaftlicher Bildungsarbeit, deren Wert die Genossenschaften von ihrer Entstehungszeit an erkannt haben und deren bewusste Pflege eine Voraussetzung für den Erfolg genossenschaftlicher Betätigung geworden ist. In diesem Zusammenhang sei aber auch auf die Erhaltung der historischen Geistesgüter verwiesen. Die Erweckung des geschichtlichen Bewusstseins allein schon vermag den Mitgliedern der Genossenschaften jene geistige Haltung zu verleihen, die auch dem sittlichen Wollen der Genossenschaft gerecht wird, weil sie sich immer wieder nähren kann aus dem, was wir Tradition nennen. Tradition, wenn sie als Verpflichtung aufgefasst wird, ist eine gewaltige Kraft; es ist ein Irrtum, sie fortschrittsfeindlich zu heissen. Tradition und Fortschritt lassen sich wohl miteinander vereinen. Zur Bewahrung der Zeugnisse eines denkwürdigen historischen Vermächtnisses und zur Pflege eines genossenschaftlichen Geschichtsbewusstseins einen Beitrag zu leisten, sollte die Aufgabe dieses Buches sein.
Wir sind der Überzeugung, dass die Genossenschaften eine Beseelung, eine Aktivierung, eine Dynamisierung erfahren würden, wenn es gelänge, das starke Bewusstsein, von dem in der Anfangszeit die Anhänger der Bewegung durchdrungen waren, dass es nicht nur die Solidarität der wirtschaftlichen Interessen ist, welche die Genossen zusammenführt, sondern darüber hinaus die Solidarität menschlicher Interessen, die sie zu Gliedern einer Gemeinschaft macht, zu neuem Leben zu erwecken. Wird den genossenschaftlich verbundenen Menschen darüber hinaus die Erkenntnis nahegebracht, dass eine höhere geistige Gemeinschaft nicht nur die edelste Form menschlichen Zusammenlebens allgemein ist, sondern auch das wirtschaftliche Handeln im Sinne echter Solidarität zu beeinflussen vermag, dann werden diese auch die überkommene Ideologie, oder wie man auch sagen kann, die überlieferte geistige Gedankenwelt oder die alten Ideale, nicht einfach über Bord werfen wollen; vielmehr werden sie versuchen, sie innerlich neu zu erwerben und, wo es sinnvoll ist, sie in zeitgemässer Form einer veränderten Wirtschaft und Gesellschaft entgegenzustellen. Dabei werden sie nicht umhinkönnen, sich des Vorbildes und des Beispiels jener Menschen zu erinnern, denen der Glaube an den Fortschritt teuer war und die ihr Denken und Streben eingesetzt haben für die grosse genossenschaftliche Idee. Dann wird der Feuerfunke der Assoziation, den diese Pioniere einst entzündeten, zu neuem Glühen und Strahlen entfacht. Dann wird die Genossenschaft ihre Wiedergeburt finden aus dem Geist, aus dem sie hergekommen ist.    •

Quelle: Helmut Faust. Geschichte der Genossenschaftsbewegung. Frankfurt a.M. 1977. S. 701 – 704

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