Diplomatische Zweideutigkeiten

Diplomatische Zweideutigkeiten

von Jean-François Cavin, ehemaliger Direktor des Centre Patronal, Pully VD

In Libyen und in der Republik Elfenbeinküste haben ausländische Militärkräfte auf Grund eines Uno-Mandats interveniert, um die Zivilbevölkerung zu schützen. So sieht wenigstens formal das offiziell von der internationalen Organisation verkündete Ziel aus, mit dem das militärische Engagement legitimiert wird. Aber die an den Operationen teilnehmenden westlichen Staaten haben dabei nicht verheimlicht, dass Gaddafi einerseits und Gbagbo andererseits die Macht abgeben müssen. Und die Aktivitäten ihrer Truppen gehen offensichtlich über den direkten Schutz der Zivilbevölkerung hinaus. In ­Libyen haben ihre Flugzeuge Panzer bombardiert, die in Richtung der Aufständischen unterwegs waren, sowie militärische Nachschub­einrichtungen; mindestens ein Angriff galt der «Kaserne», in der der oberste Führer sich aufhalten soll. In Abidjan weiss man nicht, wer Gbagbo verhaftet hat, aber es ist sicher, dass sich französische Soldaten auf dem Operationsfeld befanden.
Früher, wenn ein lokaler Machthaber sich störend bemerkbar machte, beeilte sich die Kolonialmacht, die die Region beherrschte, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen, ein Kanonenboot in die Nähe der Stadt zu beordern, um den Hafen, die Festungsanlage oder den Palast zu bombardieren und so den Unerwünschten zu entfernen. Wie brutal das auch gewesen sein mag, die Kanonenbootpolitik war wenigstens offen und wirkungsvoll. So geschickt sie auch auf den ersten Blick erscheinen mag, bewirkt die mit humanitärem Touch verbrämte Uno-Politik nur eine Ausweitung der Schwierigkeiten.
Man sieht dies in der libyschen Angelegenheit. Die Mächte, die die Uno beherrschen, haben für den Zeitraum einer Sitzung einer bedingten Intervention zugestimmt. Bereits am folgenden Tag distanzierte sich Russland, gefolgt von anderen Ländern. Dann wurde auch das Einverständnis wichtiger arabischer Staaten – auf diplomatischer Ebene ursprünglich unerlässlich – durch zunehmende Zurückhaltung geprägt: denn die Bombenangriffe der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs wurden schnell als eine extensive Interpretation des Uno-Mandats erkannt. Man kann natürlich vorgeben, dass die beste Art, die Zivilbevölkerung zu schützen, darin besteht, eine der kriegführenden Parteien zu vernichten. Aber der Sicherheitsrat kann eine solche Position nicht ausdrücklich gutheissen; deshalb lässt er es geschehen. Wo bleibt da das Recht?
Die Idee, dass die Zivilbevölkerung aus militärischen Konflikten ferngehalten werden muss, wie dies die Genfer Konventionen festhalten, ist sicher vernünftig. Sie basiert auf der traditionellen Vorstellung eines Kriegsrechts, das die grausame Realität des Kampfes nicht leugnet, diese jedoch auf das Schlachtfeld einzuschränken versucht. Aber in der Wirklichkeit ist sie nur schwer anzuwenden, vor allem in Falle eines Bürgerkriegs oder eines städtischen Guerillakriegs, mit dem bewussten Gebrauch von «menschlichen Schutzschilden». Beim israelischen Angriff auf den Gaza-Streifen hat man nie erfahren (ausser in bezug auf einige wenige Vorkommnisse), ob die palästinensischen Opfer bewusst von Tsahal, der israelischen Armee, pausenlos bombardiert worden waren, um die Moral der Bevölkerung zu untergraben, oder ob die israelische Armee, bei Angriffen auf bewaffnete Stellungen des Feindes, die «Kollateralschäden» nicht vermeiden konnte. Die Verzahnung von Soldaten und Zivilisten wiederholt sich in vielen Städten Libyens. Und wird man je wissen, ob gewisse in der Republik Elfenbeinküste begangene Massaker das Ergebnis des Kampfes um die Präsidentschaft oder Vergeltungsakte mit ganz anderem Hintergrund waren?
Einmal mehr ermisst man die Mehrdeutigkeit der Entscheidungen der Uno, die ja dazu bestimmt ist, das internationale Völkerrecht zu garantieren, die aber in Wirklichkeit je nach Umständen und Machtverhältnissen Partei ergreift. Dies ist möglicherweise unvermeidbar, weil es sich aus der Nicht-Existenz der sogenannten «internationalen Gemeinschaft» und der andauernden Unordnung in der Welt ergibt. Aber man muss daraus Konsequenzen ziehen, indem man die Bedeutung der Entscheidungen des Sicherheitsrats relativiert. Um eine konsequente Neutralitätspolitik umzusetzen, darf die Schweiz sich nicht automatisch auf die Uno-Resolutionen berufen, wenn es darum geht, die Rechtmässigkeit einer militärischen Intervention festzulegen. Sie muss sich nach ihren eigenen, sehr restriktiv angewendeten Kriterien richten. Sie darf insbesondere weder die Durchfahrt fremder Truppen durch das eigene Territorium noch deren Überflug tolerieren, selbst wenn es darum geht, dem Tyrannen in Tripolis, dem öffentlichen Feind Nummer eins unseres Landes, seitdem er die Bundespräsidentin lächerlich gemacht hat, eine Lektion zu erteilen. Sie muss auch Abstand davon nehmen, einen Platz im Sicherheitsrat anzustreben.    •

Quelle: La Nation, Nr. 1913 vom 22. April 2011
(Übersetzung Zeit-Fragen)

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