Weder Potosí noch Saudi-Arabien

Weder Potosí noch Saudi-Arabien

Bolivien und das Lithium

von Dr. Niels Peter Ammitzboell

Die Silberminen von Potosí, der Berg Cerro Rico, ausgeplündert, leer, sind durch und durch von Stollen gelöchert, so dass erwartet wird, dass der Berg zusammenstürzt. Die Zahl der ­Todesopfer unter der indigenen Bevölkerung Boliviens in den Gruben von Potosí wird auf Hunderttausende geschätzt. Die Stadt ­Potosí, einst mit London und Paris eine der reichsten Städte der Welt, heruntergekommen, von tiefster Armut geprägt – ein Symbol des Schicksals eines rohstoffreichen Landes abseits der Zentren der Industrialisierung.
Nach dem Silber wurden Kupfer und Zinn aus Bolivien herausgeholt, dann Öl und Gas. Der Reichtum wurde anderswo generiert. In Europa und später in Nordamerika entwickelten sich blühende Wirtschaften, Industrialisierung und zunehmender Wohlstand. Bolivien ist heute trotz Reichtum an fruchtbarem Land und Bodenschätzen nach Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas. Wehe einem Land, in dem Bodenschätze vorhanden sind. Es wird ein Opfer der Begehrlichkeiten der Mächtigen. Für dieses Land sind Ausbeutung und Armut vorgesehen, und Krieg.

«Gleich einem nie enden wollenden Aderlass wird der Mehrzahl der Bewohner in den Ex-Kolonien der Saft für ein Leben in Würde abgepresst. Auch Bolivien ist ein am Weltmarkt krankender Patient, die Langzeitdiagnose ernüchternd. Der angegriffene Riese, der mit nur zehn Millionen Enwohnern flächenmässig dreimal so gross wie Deutschland ist, steht Pate für die enormen psychischen und physischen Schäden von Mensch, Gesellschaft und Umwelt, die Europa und die Vereinigten Staaten über Jahrhunderte hinweg angerichtet haben.» (S. 9f)

In seinem Buch «Das weisse Gold der Zukunft – Bolivien und das Lithium» stellt Benjamin Beutler die Geschichte der letzten 500 Jahre dieses riesigen Gebietes dar, und er fesselt den Leser. Erst die Conquista, Kolonialisierung, dann die Befreiungskriege der schmalen spanischstämmigen Oberschicht, die Unabhängigkeit nach 1825, die nationalistische Revolution von 1952, eine wechselvolle politische Geschichte, mal demokratisch, mal Diktatur. Die Mehrheit der Bevölkerung, die Indios, blieben arm, ungebildet, fern der politischen Geschehnisse. Wirtschaftlich blieb man vom Export der Rohstoffe abhängig, die weitere Wertschöpfung fand anderswo statt. Der Versuch, wie in anderen lateinamerikanischen Staaten, eine nationale Volkswirtschaft und Industrialisierung mit der Entwicklungsstrategie der Importsubstitution aufzubauen, wurde abgebrochen. Diese Politik setzt auf Protektionismus durch hohe Einfuhrzölle, während öffentliche Investitionen und Steuererleichterungen für die heimische Produktion die teuren Importe aus dem Ausland zurückdrängen sollen.
Statt dessen kamen die Berater der Chicago-Schule. Jeffrey Sachs, erst 30 Jahre alt, war hauptverantwortlich, später war er als wichtigster Berater in Russland während der Jelzin-Zeit tätig. Über 20 Jahre neoliberalistische Wirtschaftspolitik im Zeichen der Deregulierung und Privatisierung folgten. Diese Zeit bildet einen Schwerpunkt des Buches. Die Ideologie der Privatisierung brachte den Ausverkauf von Gas, Erdöl, Flughäfen, Fluggesellschaften, Eisenbahn, Wasser, Telekommunikation und Strom an ausländische Firmen. Und was blieb für die Bevölkerung übrig? Jeffrey Sachs blickt 2005 auf die Ergebnisse seiner «Beratung» zurück: Die Ungleichheit sei nicht gemildert worden, die Schere zwischen arm und reich klaffe weiter auseinander denn je! Hinter sechs afrikanischen Staaten steht Bolivien bei der Ungleichverteilung weltweit auf dem siebten Rang.

Der Wendepunkt

Die Übernahme der Wasserversorgung von Cochabamba 1999 durch Bechtel bildete einen Wendepunkt. Die US-amerikanische Firma sollte nicht nur die städtische Wasserversorgung, die nur in der Lage war, einen Bruchteil der Stadt zu versorgen, sondern sämtliche Wasservorräte, alle Quellen und Flüsse übernehmen. Die traditionelle Nutzung des Wassers sollte für den Bauern kein Recht mehr sein. In vielen Stadtvierteln war in Eigeninitiative von unabhängigen Wasserkomitees eine Wasserversorgung eingerichtet worden. Auf privaten Grundstücken waren Brunnen gebohrt worden. Alle diese Einrichtungen wurden entschädigungslos enteignet und der Firma Bechtel übergeben. Auch das Sammeln von Regenwasser in Tanks für den eigenen Verbrauch wurde verboten. Als dann die ersten Wasserrechnungen mit sehr erhöhten Wasserpreisen verschickt wurden, wurde Cochabamba unregierbar. Der Kampf um das Wasser war blutig. Trotz Einsatz des Militärs musste die Regierung einlenken, die Privatisierung rückgängig machen, und Bechtel musste abziehen. Damit sind wir bei einem weiteren Schwerpunkt des Buches. Beutler schildert den Werdegang von Evo Morales und die erfolgreiche Bekämpfung von weiteren neoliberalen Privatisierungsvorhaben.

«In der neuen Magna Charta, die gegen den erbitterten Widerstand der regionalen Oligarchen im Januar 2009 per Volksentscheid in Kraft trat, erhalten die indigene Weltsicht und der Schutz nationaler Bodenschätze und Ressourcen erstmals Verfassungsrang.» (S. 16f)

Nach mehr als 20 Jahren Neoliberalismus wurde Evo Morales 2005 als erster Vertreter der Bevölkerungsmehrheit der Indigenen zum Präsidenten gewählt. Die Regierung will die Selbstbestimmung des Landes und dass Reichtum nicht wie seit 500 Jahren dem Ausland und einer kleinen Elite, sondern der Bevölkerungsmehrheit im Lande zugute kommen soll. In den weltweit grössten ­Lithiumreserven im Salar de Uyuni – dem getrockneten Salzsee hoch in den Anden – sehen die Bolivianer eine besondere Chance. Für die Aufrechterhaltung des Automobilverkehrs ohne Benzin werde weltweit die Entwicklung von Elektroautos mit Lithium-­Ionen-Batterien forciert. Der Bedarf nach dem Leichtmetall Lithium würde enorm zunehmen. In Bolivien liegt die Hälfte der Weltreserven. «Bolivien könnte das Saudi-Arabien des 21. Jahrhunderts werden», geht durch die Weltpresse.
Aber Morales will kein Saudi-Arabien. Nicht einen Raubbau der Bodenschätze wie im Cerro Rico, dem Silberberg von Potosí, und nicht eine Gesellschaft wie Saudi-Arabien, weiterhin exklusiv vom Rohstoffabbau abhängig. Die Verarbeitung des Lithiums bis zur Herstellung der Batterien, ja vielleicht bis zur Produktion von Elektroautos, soll in Bolivien vor sich gehen. Die Wertschöpfung durch die verarbeitende Industrie soll Bolivien und der einheimischen Bevölkerung zugute kommen. Industrialisierung soll stattfinden. Jetzt haben die Bolivianer den ersten Schritt in die Richtung gemacht, selbst das Lithium zu gewinnen. Für die Industrialisierungspläne werden jedoch ausländische Partner benötigt, die bereit sind, gleichwertig mit den Bolivianern zusammenzuarbeiten und den Gewinn fair zu teilen. Firmen aus Frankreich zum Beispiel haben Interesse am Rohstoff, wollen aber bisher auf die Bedingungen der bolivianischen Regierung nicht eingehen. Also geben die Bolivianer das Lithium nicht her. Vielleicht bestehen Möglichkeiten mit Iran, mit Japan, China oder Südkorea. Schon früher, z.B. in Algerien, wurde die Strategie verfolgt, die ganze Produktionskette des Öls im Lande selbst aufzubauen und somit die Wirtschaft auf eine gesunde Grundlage zu stellen. Wird es in Bolivien gelingen?

«Die Zwangsjacke des Weltmarkts mit seinem Prinzip von Angebot und Nachfrage hat sich das Bolivien von heute allerdings abgestreift. Alles kann, nichts muss, scheint das neue Motto in Sachen Lithium-Geschäft. Denn auf bolivianischer Seite ist allen Beteiligten klar vor Augen: Einen erneuten Ausverkauf des Landes gilt es um jeden Preis abzuwenden. Dieses Mal will man den Reichtum, der im Salar de Uyuni schlummert, im eigenen Haus halten, anstatt weiter auszubluten. Dieses Mal soll der wertvolle Rohstoff nicht ausser Landes geschafft werden. Dieses Mal soll alles anders werden. Tatsächlich stehen die Chancen für einen Neuanfang im Augenblick so gut wie noch nie. Der Wandel der Politik ist wie überall eine Frage des Bewusstseins. Die koloniale Demut der Bolivianer, enstanden durch jahrhundertelang ausgeübte Gewalt und Unterdrückung in Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft, ist Vergangenheit.» (S. 25)


Muss Reichtum an Rohstoffen zu einem Fluch für das damit gesegnete Land werden? Norwegische Forscher untersuchten das Phänomen der entwicklungshemmenden Wirkung von grossen Rohstoffvorkommen ausgiebig: «Der Rohstoff-Fluch gilt nur für Länder mit schwachen Institutionen.» ­Boliviens Bodenschätze wurden nationalisiert. Ist die Politik in Bolivien links? Marxistisch? Möglicherweise. Boliviens Botschafter in Italien jedoch betonte 2008 gegenüber Zeit-Fragen, dass keine traditionelle linke Politik, wie zum Beispiel in Venezuela, sondern vielmehr traditionelle Werte, Kultur und Gesellschaftsformen der Indios bestimmend seien. Nach Jahrzehnten der «einzigen Wirtschaftstheorie» gibt es in der Volkswirtschaft wieder verschiedene Auffassungen. Bolivien wurde aber kurzerhand in die «Achse des Bösen» eingereiht. Ganz einfach wird in der Weltpolitik verfahren.
Für denjenigen, der verstehen will, wo unsere unsägliche Wirtschafts«ordnung» heute angelangt ist und welche Aufgaben angegangen werden müssen, ist das Buch von Benjamin Beutler ein sehr anregender Beitrag.    •

Benjamin Beutler. Das weisse Gold der Zukunft – Bolivien und das Lithium. Berlin 2011, ISBN 978-3-86789-126-4

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