Wirkliche Gewaltenteilung täte Deutschland gut

Wirkliche Gewaltenteilung täte Deutschland gut

km. Der 29. September 2011 und die diesem Tag vorausgehenden Wochen haben Licht- und Schattenseiten der deutschen parlamentarischen Demokratie gezeigt. Für die Bürgerinnen und Bürger des Landes war es gut zu sehen, dass es auch innerhalb von Parteien und Fraktionen unterschiedliche Meinungen gibt, wenn es um Weichenstellungen für Deutschland und Europa geht, und dass diese unterschiedlichen Meinungen auch in der Öffentlichkeit und im Parlament Platz haben können und müssen.
Die Debatte des Deutschen Bundestages über die Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungschirms (mehr Geld und neue Befugnisse für die bis 2013 befristete EFSF) – unmittelbar vor der Schlussabstimmung über das entsprechende Gesetz – und deren Vorgeschichte waren allerdings auch ein Beispiel für sehr fragwürdige Entwicklungen im deutschen Parteien- und Parlamentsbetrieb.
Zu diesen fragwürdigen Entwicklungen gehört nicht nur die Häme von Abgeordneten gegenüber Andersdenkenden. Man lese dazu nur einmal das Protokoll der Sitzung vom 29. September (www.bundestag.de). Auch die Aussagen von Bundestagsabgeordneten, sie seien wegen ihrer von der Fraktionslinie abweichenden Meinung massiv unter Druck gesetzt worden, passen zur These, dass der Anstand unter den Abgeordneten wohl nicht gewahrt wurde. Jeder muss es sehr ernst nehmen, wenn Wolfgang Bosbach, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion und über viele Jahre höchst loyales Parteimitglied, davon berichtet, die Angriffe gegen ihn aus der eigenen Partei hätten «ins Persönliche» gezielt und es sei «gar nicht mehr um Zahlen, Daten, Fakten, um den richtigen Weg, die Staatsschulden zu lösen», gegangen. Bosbach sagt, er habe das, was er in den vergangenen Wochen erlebt habe, nicht für möglich gehalten, und er überlege, ob er überhaupt noch einmal für einen Sitz im Parlament kandidieren wolle.
Was soll man davon halten, wenn sich Fraktionsführungen beim Bundestagspräsidenten darüber beschweren, dass dieser auch 2 Abgeordneten (Klaus-Peter Willsch von der CDU und Frank Schäffler von der FDP – siehe die Rede auf dieser Seite) das Wort erteilt hat, deren Position von derjenigen der Fraktionsspitze abweicht und die deshalb, wäre es nach den Fraktionsspitzen gegangen, nicht hätten reden dürfen? Was soll man von diesen Überlegungen der Fraktionsspitzen halten, wenn diese 2 Redner – und das kann man mit grosser Gewissheit sagen – die einzigen in der Debatte waren, die das wiedergaben, was die grosse Mehrheit der Deutschen denkt?
Die Entwicklung der vergangenen Wochen hat noch einmal vor Augen geführt, dass es nicht gut für eine parlamentarische Demokratie ist, wenn aus wichtigen Sach- politische Machtfragen werden. Zu viele Medien und Politiker aller Parteien haben in den Tagen vor der Abstimmung nicht mehr über die Sache gesprochen, sondern nur noch darüber, ob die Fraktionen, die die Regierung stellen, eine eigene Mehrheit, eine «Kanzler-Mehrheit» im Parlament erzielen – oder ob die Regierung mit der Tatsache, dass sie in den Reihen ihrer Parteien keine eigene Mehrheit hat, von der Opposition vorgeführt werden kann. Schon allein dadurch wurde ein enormer Druck ausgeübt, der von der eigentlichen Sachfrage weggeführt hat.
Sehr wahrscheinlich haben die meisten Abgeordneten nicht mit einem guten Gewissen der Erweiterung des sogenannten Rettungsschirms zugestimmt; denn die Sachargumente dagegen wiegen schwer und werden von fast allen Fachleuten und von der grossen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger geteilt. Dass die meisten Abgeordneten trotzdem zugestimmt haben, hat offensichtlich auch etwas mit einer faktischen Auflösung der Gewaltenteilung in der deutschen Parteiendemokratie zu tun, in der die Legislative der Exekutive nicht mehr wirklich als Kontrollinstanz und eigentliches Gesetzgebungsorgan gegenübersteht, sondern in der die Parteien sowohl die Exekutive als auch die Legislative doch zu stark in den Klammergriff genommen haben.
Artikel 38 des deutschen Grundgesetzes lautet: «Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages […] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.» Dieser Verfassungsgrundsatz der deutschen parlamentarischen Demokratie lebt heute zuwenig. Hier tut eine Rückbesinnung auf die eigene Verfassung dringend not.
11 Abgeordnete aus der CDU/CSU-Fraktion und 4 Abgeordnete aus der FDP-Fraktion sind trotz allem dabei geblieben, ihre von ihrer Fraktion abweichende Meinung auch im Stimmverhalten deutlich zu machen. Diese Abgeordneten sind ein wichtiger Lichtblick. Trotz aller Widrigkeiten ist es auch in der parlamentarischen Demokratie Deutschlands möglich, zu seiner Meinung zu stehen. Das kann in die Zukunft ausstrahlen.
In den kommenden Wochen und Monaten steht die Debatte über eine erneute Änderung der bisherigen EFSF zu einem auf Dauer angelegten «Rettungsschirm», dem ESM, an. Wir haben in Zeit-Fragen mehrfach darüber berichtet und werden dies auch in den kommenden Wochen und Monaten tun.
Alles, was bislang an Kritik an der bis 2013 befristeten EFSF geäussert wurde, trifft in einem viel stärkeren Masse auf den auf Dauer geplanten ESM zu. Schon haben sich mehr als 200 000 Bürgerinnen und Bürger mit einem Aufruf an die Abgeordneten gewendet, gegen den ESM zu stimmen. Der Verein «Zivile Koalition e.V.» (www.zivilekoalition.de) leistet gemeinsam mit einem immer grösser werdenden Netzwerk wertvolle Arbeit in der Sache. Der FDP-Abgeordnete Schäffler hat gemeinsam mit Parteikollegen eine Mitgliederbefragung zum Thema in seiner Partei lanciert. Der Vorsitzende der CSU, Horst Seehofer, hat in den letzten Tagen mehrfach erklärt, mit dem jetzt verabschiedeten Gesetz zur EFSF sei das gerade noch Tragbare erreicht. Es tut sich also etwas in Deutschland, und die Debatte geht weiter.    •

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK