Übergriff internationaler Organisationen auf das schweizerische Bildungswesen

Übergriff internationaler Organisationen auf das schweizerische Bildungswesen

Brief des Schulforums Schweiz an die Bildungsdirektoren der Kantone, eidgenössische Parlamentarier/innen, ausgewählte Medien

Aarau, 17. November 2011

Sehr geehrte Damen und Herren
Seit über zehn Jahren wird das schweizerische Bildungswesen in seiner ganzen Breite (vom Kindergarten bis zur universitären Stufe) zugunsten globaler Vereinheitlichung beeinflusst und verändert – ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist und der sich weitgehend unbemerkt an unseren föderalistischen Gepflogenheiten vorbei bewegt. Was heute im Bereich Bildung verdeckt praktiziert wird, kann Türöffner für Eingriffe auf weitere Staatsdomänen werden (z.B. Gesundheitswesen oder Sicherheitspolitik) und zielt letztlich auf die Auflösung unserer demokratischen Traditionen.
Gesteuert wird diese Gleichschaltung durch harmlos wirkende internationale Bürokratien (EU, OECD) und NGOs in der Absicht, das Bildungswesen ihrer Mitgliedsstaaten in den Dienst der globalen Wirtschaft zu stellen. Dies erfordert Ökonomisierung und Gleichschaltung der Bildungsziele. Diese sind bei uns jedoch in kantonalen Gesetzen festgeschrieben und vom Volk abgesegnet. Die angestrebte globale Vergleichbarkeit dieser Ziele setzt einheitliche Bildungsstandards voraus, welche nationale, kulturelle, ethnische und religiöse Eigenheiten ausgrenzen und damit die übergeordneten Grundwerte preisgeben.
Die Schamlosigkeit, mit welcher unsere Souveränität (wie auch die anderer Länder) von dazu nicht legitimierten internationalen Organisationen untergraben wird, zeigt eine 30seitige Studie der Universität Bremen mit dem Titel: «Soft Governance in Education. The PISA Study and the Bologna Process in Switzerland, 2010».*
Die Studie untersucht die Bedeutung internationaler Organisationen (IOs) für die Steuerung der Schweizer Bildungspolitik und beschreibt in geradezu atemberaubender Offenheit die Instrumente, mit denen die OECD und die EU sich als «neue internationale Akteure» im Bildungswesen der föderalistischen Schweiz etablieren konnten; für den Hochschulbereich ist dies der Bologna-Prozess (EU) und für die Volksschule PISA (OECD). Durch PISA «wurde die ökonomische Begründung der Bildung eingeführt. In diesem Sinne werden die Leitprinzipien mehr auf Bildung als Humankapital und weniger auf Bildung als Grundrecht abgestützt», heisst es auf Seite 20. Und zu Bologna steht auf Seite 21: «Bologna wird in der Schweiz als die ‹grösste Reform seit Humboldt› wahrgenommen, insbesondere, weil sie dazu geeignet ist, gleichzeitig die internationale wie auch die innerschweizerische Harmonisierung von Strukturen und Zielsetzungen zu fördern. Ihre Macht kann ohne den Bezug zur Europäischen Kommission nicht erklärt werden. Der internationale Akteur musste das ‹verbotene› Gebiet der nationalen Hochschulbildung äusserst vorsichtig oder auf Umwegen betreten, weil er über keine gesetzlichen Kompetenzen oder Zwangsmechanismen gegenüber den Unterzeichnerstaaten von Bologna verfügt.» [sic!]
Die Studie kommt zum Schluss, dass die Governance-Instrumente auf die Schweizer Bildungspolitik einen unerwartet hohen Einfluss ausübten und wertet den Erfolg bei der Transformation der Schweizer Bildungssouveränität als Vorbild für den politischen Wandel auch in andern Ländern!
Nicht nur die hinterhältige «Transformation» der schweizerischen Souveränität durch nicht legitimierte fremde Bürokratien muss zurückgewiesen werden; gravierender sind die damit anvisierten Inhalte.
Die Abkehr von der abendländischen Tradition des Humanismus stellt einen Paradigmenwechsel mit tiefen und weitreichenden Auswirkungen auf die Zukunft der Nation Schweiz dar. Das beginnt damit, dass in «Soft Governance» von Bildung gesprochen wird, wenn Ausbildung gemeint ist. Bildung aber schliesst immer das Menschsein und die geistigen Fähigkeiten des Menschen mit ein. Das Humboldtsche Bildungsideal verlangt mehr als die reine Aneignung von Wissen. Die dazugehörende Reifung des Individuums und Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Entwicklung von Talenten spielen eine ebenso grosse Rolle. Ein moderner Bildungsbegriff steht für den lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen, bei dem er seine geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Fähigkeiten und seine personalen und sozialen Kompetenzen erweitert. Eine derart umfassende Bildung lässt sich nicht mit global vergleichbaren, nivellierten Bildungsstandards oder Kompetenzen vermitteln. Sie stellt jedoch eine Schlüsselgrösse dar für die Entwicklung der Identität eines Volkes und damit für dessen Lebenskraft – Voraussetzung für jede direkte Demokratie. International harmonisierte Bildungsstandards auf der Basis von «credits» (Bologna) oder Länder-Ranking à la PISA haben deshalb bereits den qualitativen Abstieg des pädagogischen Erfolgsmodells «Schweiz» eingeläutet.
«Soft Governance» bearbeitet seit einiger Zeit weitgehend unbemerkt, aber erfolgreich unsere Schulen. Dies ist für das schweizerische Selbstverständnis aus zwei Gründen gefährlich:
Das damit von aussen eingepflanzte neue Bildungswesen entspricht in keiner Weise der bisherigen, auf humanistischer Tradition beruhenden Bildung und Erziehung – dies vor allem deshalb nicht, weil an die Stelle der Menschenbildung eine inzwischen überholte ökonomistische Zielsetzung tritt, die offensichtlich gescheitert ist. Die Überwindung der gegenwärtigen und künftigen Krisen benötigt starke Führungspersönlichkeiten im Dienste der Menschen, wie sie das bisherige Bildungssystem schon immer hervorgebracht hat.
Die Art und Weise («sanfte Steuerungsmechanismen»), wie dieses Ziel heimlich erreicht werden soll oder bereits erreicht worden ist, verletzt massiv unsere Souveränität, weil Regierung, Parlament, Volk und Stände übergangen werden. Dies kommt einer Aushebelung unserer Demokratie gleich und droht in Zukunft auf weitere politische Bereiche überzugreifen.
Es ist höchste Zeit, dass die politische Schweiz davon Kenntnis nimmt und wirksam Gegensteuer gibt.

Mit bestem Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit und freundlichen Grüssen

Bruno Nüsperli,
Präsident Schulforum Schweiz, Aarau

*Download des englischen Originals unter:
<link http: www.sfb597.uni-bremen.de homepages bieber>www.sfb597.uni-bremen.de/homepages/bieber/arbeitspapierBeschreibung.php?ID=159&SPRACHE=de&USER=bieber.
Die deutsche Übersetzung «Sanfte Steuerungsmechanismen in der Bildungspolitik» können Sie auf <link http: www.schulforum.ch>www.schulforum.ch  abrufen.

«Die Art und Weise (‹sanfte Steuerungsmechanismen›), wie dieses Ziel heimlich erreicht werden soll oder bereits erreicht worden ist, verletzt massiv unsere Souveränität, weil Regierung, Parlament, Volk und Stände übergangen werden. Dies kommt einer Aushebelung unserer Demokratie gleich und droht in Zukunft, auf weitere politische Bereiche überzugreifen.

Es ist höchste Zeit, dass die politische Schweiz davon Kenntnis nimmt und wirksam Gegensteuer gibt.»

Bruno Nüsperli

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