von Ewald Wetekamp
Auf allen politischen Ebenen melden sich in Deutschland die Menschen zu Wort und fordern Mitsprache und Selbstbestimmung. «Wir können ja doch nichts machen – die da oben machen, was sie wollen» – dieser resignative Ausdruck der politischen Bevormundung hatte wohl einmal seine Berechtigung. Aber heute dürfte sich eigentlich kein Bürger mehr so aus der Verantwortung stehlen, denn seit den 90er Jahren hat die direkte Demokratie einen Siegeszug in Deutschland angetreten. Die Bürger in Deutschland sind denn auch längst nicht so politikverdrossen, wie man ihnen oft nachsagt, eher sind sie misstrauisch gegen «Hereingelegt-Werden». Obrigkeitshörigkeit wie noch zu Kaisers Zeiten ist längst passé.
Bis 1990 waren direktdemokratische Einflussmöglichkeiten in den deutschen Ländern und Gemeinden noch sehr schwach. Auf Druck von zahlreichen Bürgern, die beharrlich ihre demokratischen Rechte auf vielen Ebenen einforderten, haben sich viele Bundesländer und Kommunen im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte auf den Weg gemacht und den Bürgern immer mehr direktdemokratische Rechte eingeräumt. Seit 2006 kennen alle 16 Bundesländer direkte Demokratie auf Länderebene und auf kommunaler Ebene. Hamburg geht voran und hat inzwischen auf einem «Volksentscheids-Ranking» des Vereins «Direkte Demokratie» den ersten Platz eingenommen. Zeit-Fragen berichtete wiederholt, wie Hamburger Bürger, Vereine und Privatpersonen sich zusammengeschlossen und die direkte Demokratie in Hamburg vorangetrieben haben.
Doch auch in anderen Bundesländern tut sich viel. Einige erfolgreiche Beispiele: Ein Volksbegehren in Thüringen setzte sich erfolgreich «Für eine bessere Familienpolitik» ein, die Berliner waren erfolgreich mit dem Volksbegehren «Schluss mit Geheimverträgen – Wir Berliner wollen unser Wasser zurück», überhaupt gibt es einige Volksbegehren gegen Privatisierungen, wie z.B. der Leipziger Bürgerentscheid, der ein umfassendes Privatisierungsverbot für alle Bereiche der Daseinsvorsorge ausgesprochen hat1: «Gesundheit ist keine Ware – gegen die vollständige Privatisierung von Krankenhäusern», Hamburg, «Unser Hamburg – unser Netz», für die Rekommunalisierung der Hamburger Energie-Netze (das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen). In diese Reihe gehört auch das jetzt per Volksbegehren durchgesetzte Transparenzgesetz, das die Hamburger Behörden zur Offenlegung wichtiger Informationen zwingt, so zum Beispiel für die Veröffentlichung aller Verträge über 100 000 Euro, die im weitesten Sinne die öffentliche Daseinsfürsorge betrifft. Ein solches Gesetz ist bis jetzt bundesweit einmalig.
Einige Volksbegehren wenden sich gegen die Fusionitis der Gemeinden, so ein Volksbegehren aus Schleswig-Holstein – «Gegen die Zusammenlegung von Kreisen ohne deren Zustimmung» –, eines aus Brandenburg – «Gegen Zwangseingemeindungen und zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung» – (beide erfolgreich), eines in Sachsen-Anhalt, das sich gegen die zwangsweise Bildung von Einheitsgemeinden im Zuge der Gemeindereform wandte, allerdings leider ohne Erfolg. Den Anfang machte schon 1974 ein Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen mit der «Aktion Bürgerwille – Gegen kommunale Gebietsreform Ruhr», das damals aber am hohen Quorum scheiterte.
In zahlreichen Ländern setzten sich Bürger für eine Schulpolitik ein, die ihrem Willen entspricht, neben den bekannten Volksbegehren in Hamburg auch eines in Niedersachsen: «Für gute Schulen in Niedersachsen» (Verfahren noch nicht abgeschlossen), «Für die Erhaltung der Realschule» in Schleswig-Holstein (wenn auch gescheitert), eine Initiative in Sachsen hatte einen Teilerfolg mit «Zukunft braucht Schule», die Initianten wollten Schulschliessungen verhindern und forderten kleinere Klassen.
Auffallend viele Initiativen fordern und erkämpften eine Verbesserung direktdemokratischer Möglichkeiten; auch hier zeigt sich die Hansestadt mit zahlreichen Vorstössen in dieser Richtung an der Spitze. Dieser Kampf um die Ausweitung der direktdemokratischen Rechte wird es erst ermöglicht haben, dass Hamburger Volksbegehren so zahlreich und überdurchschnittlich erfolgreich sind. Bremer Bürger forderten «Mehr Demokratie beim Wählen» und konnten ein demokratischeres Wahlrecht mit der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens durchsetzen. Thüringer Bürger erkämpften mit «Mehr Demokratie in Thüringen» eine Erleichterung landesweiter Volksbegehren und Volksentscheide. Schon 1995 errangen bayerische Bürger mit dem Volksbegehren «Mehr Demokratie in Bayern» die Einführung des kommunalen Bürgerentscheids.
Ausser den Initiativen für Volksbegehren und Volksentscheid engagieren sich zahlreiche Bürger unseres Landes in Bürgerinitiativen, um berechtigten Anliegen Gehör zu verschaffen. So kämpfen zum Beispiel in Niedersachsen und in Thüringen Bürgerinitiativen gegen das Fracking2, ein Verfahren, mit dem Erdgas aus dem Boden geholt wird. Bei diesem Verfahren werden hochgiftige Chemikalien in den Boden gepumpt und drohen verheerende Umweltschäden anzurichten. Die Anwohner der betroffenen Gebiete sind verständlicherweise geschockt und empört und leisten Widerstand. In Thüringen beispielsweise hat sich eine Bürgerinitiative, die sich bereits vor vier Jahren erfolgreich gegen den Anbau von Genmais gewendet hat, nun im Widerstand gegen diese gefährliche Technik wieder zusammengefunden. Ein Drittel dieses schönen Landes würde verseucht, ein Gebiet mit Obstbau und seltenen Pflanzen, das auch vom Tourismus genutzt wird. Die Bürger wollen das nicht und werden aktiv – hier wie in Hunderten anderen Beispielen im ganzen Land. Mit beachtlichem Erfolg im Fall von Fracking in Thüringen: Ein Gutachten des Umweltbundesamtes hat sowohl die Bedenken als auch die Forderungen der Bürgerproteste bestätigt. Die Thüringer Regierungsfraktion muss jetzt entsprechend handeln.3 Nordrhein-Westfalen will auf Grund der Bürgerproteste, die auf die Gefahren des Frackings hinweisen, diese Technik gar nicht erst zulassen. In anderen Fällen kämpfen Bürger oft vergeblich für ihre Anliegen. Die Instrumente der direkten Demokratie bieten solchen Bürgerinitiativen die Möglichkeit, ihre Anliegen auf legalem und rechtlich auch für die Politiker bindendem Weg durchzusetzen, und zwar wirkungsvoll durchzusetzen. Eine Petition, Protest, Demonstrationen, auch lange Unterschriftenlisten von protestierenden Bürgern werden von Machthabenden solange ignoriert, wie wir Bürger nicht rechtswirksame Instrumente zur Durchsetzung einsetzen.
Und die direkte Demokratie muss es auch auf Bundesebene sein. Alle bisherigen Volksbegehren in Deutschland fanden auf kommunaler oder Landesebene statt. Bundesweite Volksentscheide sind bis heute nicht vorgesehen, obwohl es im Grundgesetz heisst: «Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt»4. Jetzt macht der Landtag von Schleswig-Holstein eine Gesetzesinitiative zur Einführung bundesweiter Volksentscheide, die er in den Bundesrat (Ländervertretung der Bundesrepublik Deutschland, analog Ständerat in der Schweiz, allerdings mit weniger Befugnissen) einbringen will. SPD, Grüne, SSW, Piraten und FDP stimmten dafür. Damit hat die Koalition die vom Bündnis für mehr Demokratie in Schleswig-Holstein gestartete Volksinitiative für zulässig erklärt. Vorstandssprecherin Claudine Nierth von «Mehr Demokratie e.V.»: «Mit der erfolgreichen Volksinitiative haben die Schleswig-Holsteiner einen Stein für ganz Deutschland ins Rollen gebracht. Erstmals in der Geschichte ist es gelungen, in einem Bundesland ein Volksbegehren für die Einführung deutschlandweiter Volksentscheide anzuschieben. Andere Länder werden diesem Schritt folgen.»5
Immer mehr Politiker sehen sich veranlasst – oder gezwungen – sich für mehr direkte Demokratie einzusetzen, auch wenn die Ablehnung noch überwiegt. In Nordrhein-Westfalen hat die neue rot-grüne Regierung im Koalitionsvertrag vereinbart, das Finanztabu für landesweite Volksbegehren aus der Verfassung zu streichen.6 Wenn sie das realisieren, ist das ein wichtiger Schritt, sind doch bisher alle Begehren, die in irgendeiner Weise die Finanzen des Landes tangieren, ausgeschlossen – für die Schweiz, in der die Bürger selbstverständlich auch darüber abstimmen, wie viele Steuern sie zahlen, ein undenkbares Tabu. Bisher besteht dieses Tabu in allen Ländern ausser in Berlin und Sachsen. Allerdings plant auch im Saarland die grosse Koalition eine Lockerung dieser Einschränkung. Ausserdem will Nordrhein-Westfalen die Unterschriftenhürde für Volksbegehren senken: Nach Volksinitiativen, die der Landtag ablehnt, soll es automatisch zu Volksbegehren und Volksentscheid kommen. Bisher war nach der Ablehnung durch den Landtag einfach Schluss – es sei denn, die Initianten haben mit dem Sammeln von Unterschriften von vorne begonnen.
Horst Seehofer, Parteivorsitzender der CSU und bayerischer Ministerpräsident, tritt für den Volksentscheid ein und betreibt damit Wahlkampf.7 Dem schliesst sich Günther Beckstein, Seehofers Vorgänger im Amt, an und spricht sich für Volksentscheide auf Bundesebene aus.8
Nur Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, ist auf diesem Ohr taub. Dabei hat er doch auf den Schwingen von «Stuttgart 21» und der Forderung nach Volksentscheid die Wahl gewonnen. Und jetzt will er davon nichts mehr wissen? Die Hamburger haben es geschafft, bessere Bedingungen für direkte Demokratie durchzusetzen, obwohl das den hanseatischen Senatorinnen und Senatoren nicht geheuer war. Mehrmals haben sie Volksentscheide ignoriert oder entsprechende Beschlüsse wieder rückgängig gemacht. Die Hamburger haben sich das nicht bieten lassen. Warum sollen die Bürger in den anderen Bundesländern sich nicht auch dazu anregen lassen? •
1 www.buergerbegehren-leipzig.de: Presseerklärung der Initiative Bürgerbegehren Leipzig vom 28.1.2008
2 www.bergauf-bergkamen.de
3 Das Gutachten: www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/14346.pdf
4 Grundgesetz Artikel 20, Abs. 1
5 www.mehr-demokratie.de: Kieler Landtag für Volksentscheide, 13. Juni 2012
6 www.mehr-demokratie.de: Landesfinanzen sollen vors Volk, 25. August 2012
7 www.mehr-demokratie.de: Seehofer macht Volksentscheid zum Wahlkampfthema, 12. Mai 2012
8 www.mehr-demokratie.de: Günther Beckstein, Bayerischer Ministerpräsident a.D., 6. März 2012
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