von Dipl.-Psych. Dr. Rudolf Hänsel, Lindau/Bodensee
Der Neurowissenschaftler und ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, Professor Manfred Spitzer, löste mit seinem neuen Bestseller «Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen» und seinen pointierten Thesen ein heftiges Presseecho aus. Spitzer hat in seinem Buch bisherige Erkenntnisse seriöser Medienwissenschaftler, dass die zu häufige Nutzung des Internets dumm machen kann, durch viele neurologische Befunde untermauert und durch neue Erkenntnisse ergänzt. Die jugendlichen und erwachsenen Internetnutzer selbst hat er nie verunglimpft. Auf die gehässigen Angriffe der Presse erwiderte er in einem Interview: «Ich pathologisiere nicht, sondern stelle fest: Wo es Wirkungen gibt, sind auch Risiken und Nebenwirkungen.»1 Spitzer warnt aber nicht nur, er zeigt auch auf, was Eltern, Lehrpersonen und Politiker zum Schutz unserer Jugend tun können.
Dass frühkindlicher und häufiger Fernsehkonsum, das stundenlange Spielen von Computer- und Killerspielen, das pausenlose Telefonieren und Simsen mit dem Handy, die unbekümmerte Verbreitung persönlicher Gefühle, Gedanken und Fotos in sozialen Netzwerken zu negativen Auswirkungen auf Gefühle, Gedanken, Verhalten und die sozialen Kontakte von Kindern und Jugendlichen führen können, ist ja keine neue Erkenntnis. Seriöse Medienwissenschaftler und verantwortungsvolle Pädagogen, Jugendrichter oder leidgeprüfte Eltern internetsüchtiger Jugendlicher weisen schon seit etwa zwei Jahrzehnten auf die unerwünschten Folgen exzessiver Mediennutzung hin. Der Neurobiologe Manfred Spitzer hat die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dieser Thematik in seinem neuen Buch gut verständlich zusammengefasst, durch neuere gehirnphysiologische Forschungsergebnisse ergänzt und mit seiner Warnung, dass die zu häufige Nutzung digitaler Medien uns und unsere Kinder um den Verstand bringt, öffentlich Alarm geschlagen.
Spitzer zitiert zu Beginn seines Buches den amerikanischen Publizisten und Internetexperten Nicholas Carr, der seine negativen Erfahrungen mit dem Internet so beschreibt: «Das Netz scheint mir meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation zu zerstören. Mein Geist erwartet nun, Informationen in genau der Weise aufzunehmen, wie sie durch das Netz geliefert werden: In Form eines rasch bewegten Stroms kleiner Teilchen […] Meine Freunde sagen dasselbe: Je mehr sie das Netz benutzen, desto mehr müssen sie kämpfen, um sich auf das Schreiben längerer Abschnitte zu konzentrieren.» (S. 14)
Ärzte aus Südkorea, einem hochmodernen Industriestaat mit der wahrscheinlich höchsten Mediatisierung überhaupt, konstatierten bei ihren jungen Erwachsenen vor fünf Jahren nicht nur ähnliche Phänomene, wie sie der erwachsene Intellektuelle aus den USA schildert, sondern darüber hinaus auch Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen, emotionale Verflachung und Abstumpfung und Probleme beim Lesen von Texten. Da die Betroffenen angaben, Computer und Internet sehr intensiv zu nutzen, stellten die Ärzte einen kausalen Zusammenhang her und nannten das Krankheitsbild «digitale Demenz».
Nach Spitzer verändern die digitalen Medien – Computer, Smartphones, Spielkonsolen und das Fernsehen – nicht nur unser Leben, sondern sie bringen uns und unsere Kinder regelrecht «um den Verstand», befördern einen Prozess des «geistigen Abstiegs» (Demenz). In vielen Kapiteln beschreibt er diesen neurologischen Prozess und zeigt auf, wie sich die Struktur des dynamischen «Informationsverarbeitungssystems» Gehirn den wechselnden Anforderungen anpasst, wie die Auslagerung des Denkens auf Maschinen dem Gehirn schadet und wie dieses dynamische Organ bei ausbleibendem Training bzw. Input verfällt.
Auf die Frage, welche Auswirkungen diese digitale Welt langfristig haben wird, hielten knapp die Hälfte von über 1000 Internetexperten einer amerikanischen Online-Befragung Ende Oktober 2011 die folgende pessimistische Aussage über die Zukunft des Internets und dessen Folgen für die geistigen Fähigkeiten der nächsten Generation für zutreffend:
«Im Jahre 2020 werden die Gehirne von Multitasking betreibenden Teenagern und jungen Erwachsenen [die verschiedene Tätigkeiten gleichzeitig erledigen, R.H.] anders ‹verdrahtet› sein als die Gehirne der Menschen über 35 Jahren, und dies wird insgesamt böse und traurige Auswirkungen haben. Sie können sich nichts mehr merken, verbringen die meiste Energie damit, kurze soziale Nachrichten auszutauschen, mit Unterhaltung und mit Ablenkung von einer wirklich tiefen Beschäftigung mit Menschen und Erkenntnissen. Die Fähigkeit zum grundlegenden Nachdenken haben sie nicht, die zur wirklichen Gemeinschaft von Angesicht zu Angesicht auch nicht. Sie hängen vielmehr in einer sehr ungesunden Weise vom Internet und mobilen Endgeräten ab, um überhaupt zu funktionieren. In der Summe führen die Veränderungen des Verhaltens und Denkens bei den jungen Leuten ganz allgemein zu negativen Auswirkungen.» (S. 207) Schöne neue Computerwelt!
Der Jahresbericht der Suchtbeauftragten der Bundesregierung vom 22. Mai 2012 führt auf, dass in Deutschland etwa eine viertel Million der 14- bis 24jährigen internetabhängig ist und 1,4 Millionen als problematische Internetnutzer gelten. Das ist eine Verdreifachung der Spielsucht innerhalb von nur fünf Jahren. Betroffen seien vor allem arbeitslose junge Männer. (S. 7) Unsere Jugendlichen, so Spitzer, verbringen täglich doppelt so viel Zeit mit Medien wie mit dem gesamten Unterricht. Aber nicht nur Jugendliche sind den digitalen Medien verfallen. Spitzer verweist auf das Ergebnis einer Umfrage bei 729 Müttern aus dem Jahr 2007. Danach durften schon damals «13 Prozent der unter Einjährigen, 20 Prozent der Einjährigen, 60 Prozent der Zweijährigen und 89 Prozent der Dreijährigen fernsehen». (S. 139) Auch das Resultat einer eigenen Recherche Spitzers ist kaum zu glauben: In Deutschland sitzen «um 22 Uhr noch 800 000 Kinder im Kindergartenalter vor dem Fernseher, um 23 Uhr sind es noch 200 000, und selbst um Mitternacht schauen noch 50 000 Kinder unter sechs Jahren fern». (S. 139) Die Kinder würden eben das nachahmen, was ihnen ihre Eltern vormachen, resümiert Spitzer.
«Digitale Medien sind dem Lernen und damit der geistigen Entwicklung von Babys abträglich!» mahnt der Gehirnforscher Manfred Spitzer (S. 154). Viele wissenschaftliche Untersuchungen würden belegen, dass kleine Kinder durch «Baby-TV» und «Baby-Einstein-DVDs» beim Lernen aktiv behindert werden. Eine grossangelegte amerikanische Studie aus dem Jahr 2007 kam zu dem Ergebnis: «Kleinkinder, die Baby-TV oder Baby-DVDs schauen, kennen deutlich weniger Wörter, sind also in ihrer Sprachentwicklung verzögert. […] Wenn ein Elternteil täglich vorlas, ergab sich hingegen ein positiver Effekt auf die Sprachentwicklung. Auch das tägliche Erzählen von Geschichten hatte einen signifikanten positiven Effekt […].» (S. 146)
Trotzdem hat die Fernsehwirtschaft auch in unserem Land seit einigen Jahren eine neue Zielgruppe erschlossen: das Baby-Fernsehen, eine «500 Millionen Dollar schwere Industrie». (S. 136) Wen wundert es da, dass laut aktuellem Arztreport 2012 der deutschen Krankenkasse «BarmerGEK» mit dem Schwerpunktthema «Kindergesundheit» bei 1,1 Millionen Kindern in Deutschland bis 14 Jahre – also bei nahezu 10 Prozent – Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache diagnostiziert wurden. Bei diesen Kindern ist das normale Muster des Spracherwerbs von frühen Entwicklungsstadien an beeinträchtigt, wobei explizit keine Hinweise auf schwerwiegende organische Schädigungen als Ursache der beobachteten Störungen bestehen. Am häufigsten sind Kinder im fünften und sechsten Lebensjahr betroffen: nahezu 38 Prozent der Jungen und 30 Prozent der Mädchen.2
Babyfernsehen behindert aber nicht nur die geistige und sprachliche Entwicklung, sondern macht erwiesenermassen auch noch dick, wobei Fettleibigkeit nach Spitzer einen schwerwiegenden gesundheitlichen Risikofaktor darstellt. (S. 154) Eltern sollten sich deshalb von internationalen Konzernen keine TV-Sendungen und DVDs aufschwätzen lassen, die angeblich positive Wirkungen auf ihre Babys haben.
«Kinderköpfe brauchen Ruhe», fordert heute der amerikanische Computerwissenschaftler und «World-Wide-Web-Vordenker» David Gelernter nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit mit dem Internet.3 Bereits 2004 konnten der amerikanische Kinderarzt Dimitri Christakis und seine Mitarbeiter zeigen, «dass Fernsehkonsum in der frühen Kindheit zu vermehrtem Auftreten von Aufmerksamkeitsstörungen (d.h. zu Selbstkontrollverlust) im Schulalter führt». (S. 249) Eine im Herbst 2011 in der Fachzeitschrift für Kinderheilkunde Pediatrics veröffentlichte Studie hat diesen Zusammenhang bestätigt. (S. 249f.) Spitzer findet es beschämend, dass die Wissenschaft erst im Jahre 2011 bestätigen konnte, was Eltern und Grosseltern längst wussten: dass Kinder nach stundenlangem Glotzen von Comics im Kinderkanal – z.B. am Sonntagmorgen – zu gar nichts mehr zu gebrauchen seien, weil sie ganz «kirre» sind. (S. 250f.)
Auch «Multitasking», das gleichzeitige Verrichten verschiedener Tätigkeiten bzw. die gleichzeitige Nutzung mehrerer Medien und ein damit verbundenes gleichzeitiges Erledigen mehrerer Aufgaben, führt nach Spitzer zu gestörter Aufmerksamkeit und zum aktiven Antrainieren von Oberflächlichkeit und Ineffektivität. (S. 222–235) Ein 15jähriger «Multitasker» beschreibt seinen Alltag so: «Über Kurznachrichten (SMS) unterhalte ich mich permanent mit Leuten, schaue zugleich in meine E-Mails, mache Hausaufgaben oder spiele Computerspiele, während ich gleichzeitig telefoniere.» (S. 223)
Die Digitalisierung unserer Welt hat nach Spitzer nicht nur vielfältige schädliche Auswirkungen auf den Geist, sondern auch auf den Körper. Er stellt eine Reihe von Studien vor, die belegen, dass Schlaflosigkeit, Depression und Sucht äusserst gefährliche Auswirkungen des Konsums digitaler Medien sind, «deren Bedeutung für die gesamte gesundheitliche Entwicklung der jetzt noch jungen Generation kaum überschätzt werden kann». (S. 272)
Eine körperliche Folge von Suchtverhalten – so neuere Daten aus der Gehirnforschung in den letzten Jahren – sei Übergewicht. «Sozialer Rückzug und Ängste sind häufige Begleiterscheinungen», so Spitzer, «es entwickelt sich eine Abwärtsspirale, an deren Ende nicht nur Depression und soziale Isolation stehen, sondern auch vielerlei körperliche Erkrankungen, beispielsweise des Herz-Kreislauf-Systems, des Bewegungsapparats (Bewegungsmangel, falsches Sitzen) bis hin zur Demenz.» (S. 272) Da Kinder und Jugendliche «hierzulande täglich den grössten Teil ihrer wachen Zeit mit Medien verbringen, muss man sich über die langfristig zu erwartenden geistigen und körperlichen Schäden Gedanken machen». (S. 273)
Noch immer werden Eltern von der Computerindustrie mit enormem Werbeaufwand dazu überredet, ihren Kindern einen Laptop zu kaufen («Ein Laptop für jeden Schüler» oder «Laptop statt Ranzen»), weil sie mit dessen Hilfe ihre schulischen Leistungen verbessern würden. Das Gegenteil ist der Fall, und das weiss man eigentlich seit langem. Die moderne Informationstechnik, so Spitzer, «führt zu oberflächlicherem Denken, sie lenkt ab und hat zudem unerwünschte Nebenwirkungen, die von blossen Störungen bis zu Kinderpornographie und Gewalt reichen». (S. 95) Auch andere seriöse Wissenschaftler sehen das so.
Spitzer zitiert u.a. eine Interviewaussage des ehemaligen amerikanischen «Internetgurus» Clifford Stoll, der bereits 1995 Computer in der Schule mit den früher dort gezeigten Filmen verglich: «Wir liebten sie, denn wir brauchten für eine Stunde nicht zu denken. Die Lehrer liebten sie, denn sie brauchten eine Stunde lang keinen Unterricht zu halten, und die Eltern liebten sie, weil es anzeigte, dass ihre Schule technisch auf der Höhe war. Aber gelernt haben wir nichts.» (S. 91). Vier Jahre später begründete Clifford Stoll in seinem vielbeachteten Buch «Log out. Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere High-Tech-Ketzereien» seinen Standpunkt ausführlich.
Auch den ehemaligen Präsidenten der Amerikanischen Vereinigung für Unterrichtsforschung und Professor für Erziehungswissenschaften an der Stanford University Larry Cuban erwähnt Spitzer. Dessen Buch trägt den vielsagenden Titel «Zuviel versprochen und zuwenig genutzt» mit dem Untertitel «Computer im Klassenzimmer»: «Wer die Bereitstellung von digitalen Medien in Schulen mit öffentlichen Geldern befürwortet», so dessen Forderung, «der muss hierzu zunächst den Nachweis positiver Wirkungen durchführen.» (S. 94)
Bildung, so Spitzers Fazit, sei der wichtigste Faktor für die Gesundheit eines Menschen. (S. 61) Und die Grundlage für lebenslanges Lernen wird in der Kindheit gelegt. Deshalb sollten Schulen für eine gute Bildung sorgen und dafür anstatt in Laptop-Klassen in gute Lehrer investieren, da Bildung Personen brauche, zu der eine Beziehung aufgebaut wird.
Was für Schulen zutrifft, gilt seines Erachtens auch für Kindergärten. In beiden hätten Computer und Internet nichts verloren. «Wer möchte, dass aus seinen Kindern Mathematiker oder Spezialisten für Informationstechnik werden», so Spitzer, «der sorge für Fingerspiele statt für Laptops in den Kindergärten. Und wer die Schriftsprache ernst nimmt, der sollte eher für Bleistifte als für Tastaturen plädieren.» (S. 184)
Auf die Frage eines Journalisten, wie man kompetent wird im Umgang mit Medien, zieht Spitzer den Alkohol zum Vergleich heran: «Nicht durch Einübung, sondern durch längstmögliches Fernbleiben von ihm eignet man sich den gesündesten Umgang an.» […] «Beides macht süchtig und brauchen wir nicht.»4
Speziell verunsicherten Eltern aus sozial eher schwachen Schichten wird nach Auffassung Spitzers mit dem Schlagwort «Medienkompetenz» suggeriert, «sie würden etwas Gutes tun, wenn sie ihr knappes Geld in rasch veraltende Hard- und Software stecken». (S. 307) Würden sie ihr Kind von klein auf vor den Computer setzen, würden diese nicht das schwere Arbeiterschicksal der Eltern erdulden müssen. Dabei wüssten diese Eltern ja nicht, «dass der neue Computer zu Hause der schulischen Entwicklung ihres Kindes, an der ihnen ja so viel liegt, schaden wird». (S. 308)
Digitale Spiele beeinträchtigen Schulleistungen, Sozialkontakte und die Bindung zu Eltern und Freunden
Wenn Kinder und Jugendliche sich allzu häufig mit Videospielen die Zeit vertreiben, die an Spielkonsolen gespielt werden oder mit Online-Rollen-Spielen an Computern, führt das ohne Zweifel zu schlechteren Schulleistungen, weil an den Nachmittagen oder Wochenenden sehr viel weniger Zeit für die Erledigung der Hausaufgaben und die Vertiefung des Unterrichtsstoffes zur Verfügung steht. «Kinder, die Videospiele spielen», schreibt Spitzer, «verbringen im Vergleich zu Kindern, die dies nicht tun, 30 Prozent weniger Zeit mit Lesen und 34 Prozent weniger Zeit mit der Erledigung ihrer Hausaufgaben.» (S. 186) Die Problemgruppe unter den Spielern sind die Jungen. Spitzer sieht ihre intellektuellen Fähigkeiten durch Video- und Computerspiele massiv gefährdet. (S. 188)
Auf diese Gefahr wies der Kriminologe Christian Pfeiffer bereits 2004 hin, zwei Jahre nach dem Schulmassaker von Erfurt. Er sprach von «Medienverwahrlosung» und warnte: «Jeder dritte Junge drohe ‹in die Falle von Fernsehen, Internet und Videospielen› abzurutschen».5 Drei Jahre später sprach er gar von der «verlorenen Generation der jungen Männer». (S. 188)
Jungen sind auch deshalb so gefährdet, weil sie verstärkt Baller- bzw. Killergames spielen mit den allseits bekannten Folgen wie zunehmende Gewaltbereitschaft, Abstumpfung gegenüber realer Gewalt, soziale Vereinsamung und Suchtgefährdung.6 Der amerikanische Militärpsychologe Dave Grossman bezeichnete diese Killerspiele nach dem Massenmord in Norwegen «Massenmord-Simulatoren».7 Der norwegische Amokläufer hat nach eigenen Aussagen dieses geplante Massaker ein Jahr lang mit Hilfe von Killerspielen trainiert.
Im Gegensatz zu den Jungen verbringen nach Spitzer die Mädchen «insgesamt deutlich weniger Zeit mit Videospielen als Jungen; sie neigen weniger dazu, Gewaltspiele zu spielen, und vernachlässigen nur etwa halbsooft wie Jungen ihre Hausaufgaben wegen der Spiele». (S. 188)
Dieses unterschiedliche Freizeitverhalten bezüglich Nutzung digitaler Medien führt dazu, dass Mädchen seit geraumer Zeit bessere schulische Leistungen und Abschlüsse erbringen als ihre gleichaltrigen männlichen Kollegen. Da nach Spitzer heute vor allem arbeitslose junge Männer aus prekären Verhältnissen die statistisch gesehen höchste Stundenzahl mit digitalen Medien verbringen und deshalb auch noch suchtgefährdet sind, bringen Medien «nicht den Ausgleich, wie oft behauptet wird, sondern verstärken bestehende Ungleichheiten und wirken dadurch unsozial statt sozial».8 Der Psychiatrieprofessor Manfred Spitzer fordert deshalb: «Die Gesellschaft müsste dies dringend mehr reflektieren, denn sie hat bisher noch gar nicht gelernt, mit den resultierenden Problemen umzugehen, zu denen sich Studien aus der Neurowissenschaft längst häufen.»9
Digitale Spiele haben noch weitere problematische Auswirkungen als die bisher genannten. So erwähnt Spitzer experimentelle Untersuchungen und Studien zum Langzeitverlauf der Persönlichkeitsentwicklung, die belegen, dass die zunehmende Nutzung von Bildschirmmedien dem Einfühlungsvermögen und den sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Kindern und Jugendlichen schaden und die Qualität der Beziehungen zu Familie und Freunden verändert: Die Bindung zu den Eltern wird geringer und die Beziehung zu den Gleichaltrigen und Freunden beeinträchtigt. (S. 195f.)
Der Medienwirkungsforscher Manfred Spitzer geht in seinem 367 Seiten umfassenden Werk natürlich auch auf Wirkungen und Nebenwirkungen der digitalen sozialen Netzwerke ein und kann auch darüber nur Unerfreuliches berichten, was Eltern und Erzieher aber unbedingt wissen und überdenken sollten. Das Fazit, das Manfred Spitzer am Ende des Kapitels «Soziale Netzwerke: Facebook statt face to face» zieht, soll wegen seiner Deutlichkeit ausführlich zitiert werden:
«Das Internet ist voller scheiternder Sozialkontakte, die vom Vorgeben, dass man ein anderer sei, über Schummeln, Betrügen bis hin zur groben Kriminalität reichen. Es wird gelogen, gemobbt, abgezockt, aggressiv Stimmung gemacht, gehetzt und diffamiert, dass sich die Balken biegen! Wen wundert es, dass soziale Netzwerke bei den jungen Nutzern vor allem zu Einsamkeit und Depression führen?
Mangelnde Selbstregulation, Einsamkeit und Depression sind in unserer modernen Gesellschaft die wichtigsten Stressoren. Sie bewirken das Absterben von Nervenzellen und begünstigen damit langfristig die Entwicklung einer Demenz. Bei unseren Kindern kann die Ablösung echter zwischenmenschlicher Kontakte durch digitale Online-Netzwerke langfristig mit einer Verkleinerung ihres sozialen Gehirns verbunden sein. Langfristig besteht die Gefahr, dass Facebook & Co. zur Schrumpfung unseres sozialen gesamten Gehirns führen werden. So gesehen, ist es äusserst beunruhigend, dass mittlerweile etwa eine Milliarde Menschen Facebook benutzen.» (S. 128)
Im letzten Kapitel seines Buches «Was tun?» betont Manfred Spitzer noch einmal – wie in vorangegangenen Kapiteln –, dass die digitalen Medien Teil unserer Kultur sind, unsere Produktivität erhöhen, unser Leben erleichtern und ein grosser Unterhaltungsfaktor sind. Deshalb könne es nicht darum gehen, sie zu bekämpfen oder sie sogar abzuschaffen. (S. 296) Aber wegen der gravierenden Auswirkungen speziell auf die heranwachsende Generation rät er allen Eltern, den Medienkonsum auf ein notwendiges Minimum zu beschränken. Wörtlich schreibt er: «Meiden Sie die digitalen Medien. Sie machen, wie vielfach hier gezeigt wurde, tatsächlich dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich. Beschränken Sie bei Kindern die Dosis, denn dies ist das einzige, was erwiesenermassen einen positiven Effekt hat. Jeder Tag, den ein Kind ohne digitale Medien zugebracht hat, ist gewonnene Zeit.» (S. 325) Und er ergänzt: «Für unsere ganze Gesellschaft gilt: Wir haben nichts ausser den Köpfen der nächsten Generation, wenn es um unseren Wohlstand und den Erhalt unserer Kultur geht. Hören wir auf, sie systematisch zu vermüllen!» (S. 326)
Die Gründer der sozialen Netzwerke wie auch die Spielehersteller haben es geschafft, unseren Kindern mit der Internetwelt eine Abschottungsmöglichkeit vom elterlichen Zugriff und einen Unterscheidungsgewinn gegenüber den Erwachsenen zu bieten, einen Raum, den sie nach ihren eigenen Regeln gestalten. Da von diesem Raum, dieser Internetwelt aber Gefahren für ihre seelische, geistige und körperliche Entwicklung ausgehen, sollten Eltern und Erzieher diese abgeschottete Welt der Jugend verstehen lernen, damit sie ihnen in der Auseinandersetzung darüber gewachsen sind. Und sie sollten versuchen – da sich Heranwachsende heute nur schwer etwas verbieten lassen und ausserdem jeder heute zur Vorbereitung auf den zukünftigen Beruf den Computer vernünftig handhaben können muss –, ihre Kinder konstruktiv anleitend und je nach Alter mehr oder weniger eng kontrollierend ans Internet heranzuführen. Bezüglich der Nutzung von sozialen Netzwerken sollten Jungen wie Mädchen unbedingt darüber aufgeklärt werden, dass sie, wenn sie jedes ihrer Gefühlchen und jedes ihrer Körperteilchen der ganzen Welt bekannt geben, danach Ware seien. Eine Ware, die sie an die Internetfirmen verkauft hätten und mit der diese grosse Gewinne machen würden. Und das will unsere Jugend dann doch nicht. •
1 www.pressetext.at, Manfred Spitzer: «Internet macht dumm» vom 18.8.2012.
2 www.barmer-gek.de, BARMER GEK Arztreport 2012 vom 31.1.2012.
3 Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ, «Kinderköpfe brauchen Ruhe» vom 19.10.2011.
4 www.pressetext.at, Manfred Spitzer: «Internet macht dumm» vom 18.8.2012.
5 www.spiegelonline.de, «Ein Drittel der Jungen droht abzurutschen» vom 27.4.2004
6 s. Hänsel, R. (2011) Game over! Wie Killerspiele unsere Jugend manipulieren. Berlin 2011.
7 persönlicher Schriftverkehr
8 www.pressetext.at, Manfred Spitzer: «Internet macht dumm» vom 18.8.2012.
9 www.pressetext.at, Manfred Spitzer: «Internet macht dumm» vom 18.8.2012.
«Meiden Sie die digitalen Medien. Sie machen tatsächlich dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich. Beschränken Sie bei Kindern die Dosis, denn dies ist das einzige, was erwiesenermassen einen positiven Effekt hat. Jeder Tag, den ein Kind ohne digitale Medien zugebracht hat, ist gewonnene Zeit.» (S. 325)
«Schlaflosigkeit, Depression und Sucht sind äusserst gefährliche Auswirkungen des Konsums digitaler Medien, deren Bedeutung für die gesamte gesundheitliche Entwicklung der jetzt noch jungen Generation kaum überschätzt werden kann.» (S. 272)
Beratungs- und Suchthilfe-Portal rollenspielsucht.de – eine Initiative betroffener Eltern – ein Selbsthilfeportal:
«Wir haben unseren Sohn ans Internet, an World of Warcraft verloren.»
Mehr zu diesem Thema finden Sie auf unserer Homepage (www.zeit-fragen.ch) unter der Dokumentation: «Schule und Bildung Schweiz»
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