Das Antlitz des Menschen

Das Antlitz des Menschen

Hätte in den Höhen des Himmels ein Auge über diese Welt gewacht

Auszug aus: «Der Richtplatz» von Tschingis Aitmatow

«Plan wird bestimmt erfüllt», antwortete die Gebietsverwaltung, «in der nächsten Dekade. Zusätzlich Reserven an Aussenstellen vorhanden, wir werden Druck machen, werden es einfordern. …»1
Und da, wahrlich wie Donner vom Himmel, erschienen jene Hubschrauber von neuem. Dieses Mal kamen sie übermässig schnell und niedrig über der Erde angeflogen und steuerten sofort bedrohlich gezielt über die aufgescheuchten Saigas, die daraufhin wild losgaloppierten, fort von dem ungeheuerlichen Unheil. Das geschah so jäh und betäubend schnell, dass viele hundert Antilopen verschreckt durchdrehten, ihre Leittiere und die Orientierung verloren und in heillose Panik gerieten, denn die harmlosen Tiere konnten der auf sie herabstürzenden Flugtechnik aber auch gar nichts entgegensetzen. Und ebendas kam den Hubschraubern gelegen, sie pressten die rennende Herde gegen die Erde, überholten sie zugleich, liessen sie mit einer anderen, ebenso zahlreichen Saigaherde, die sich in der Nähe befand, zusammenprallen und zogen immer neue, aufeinander zustürmende Herden in diesen Weltuntergang von Mujun-Kum, die Hubschrauber stürzten die panisch dahinrasende, desorganisierte Masse der Steppen­antilopen in Verwirrung, was die Katastrophe noch mehr steigerte, die über die Paarhufer hereinbrach. Das hatte die Savanne noch niemals erlebt. Und nicht nur die Paarhufer, sondern auch die Wölfe, ihre unzertrennlichen Gefährten und ewigen Feinde, befanden sich in derselben Lage.
Als vor den Augen Akbaras und ihres Rudels dieser unheimliche Überfall der Hubschrauber geschah, verbargen sich die Wölfe zuerst und krümmten sich an den Wurzelstöcken des Tschij vor Schrecken zusammen, aber dann hielten sie es nicht mehr aus und stürzten sich von der verfluchten Stätte davon. Die Wölfe mussten verschwinden und sich retten, so gut es ging, irgendwohin an einen sicheren Ort davonlaufen, aber genau das liess sich nicht verwirklichen. Sie hatten noch kaum Abstand gewinnen können, als hinter ihnen die Erde erbebte und dröhnte wie bei einem Sturm – die unzählbare Masse der Saigas wurde aufgerollt und von Hubschraubern durch die Steppe gejagt, alle in gleicher Richtung, und sie legten sich ins Zeug, mit schrecklicher, immer noch zunehmender Geschwindigkeit. Die Wölfe konnten das weder abwenden noch sich im Lauf verkriechen, da sie einem lebenden, alles niederreissenden Strom, einer riesigen, daherrasenden Masse an Tieren im Weg standen. Und wären sie auch nur eine Sekunde lang stehengeblieben, die Hufe der Saigas hätten sie unweigerlich zerstampft und zerquetscht, dermassen ungestüm war diese gedrängte tierische Naturgewalt, die jederlei Kontrolle über sich verloren hatte. Und nur weil die Wölfe ihre Geschwindigkeit nicht verringerten, sondern im Gegenteil, soweit die Kraft reichte, steigerten, blieben sie am Leben. Und jetzt waren sie schon selbst gefangen im Gewühl dieses grossen Rennens, das Unwahrscheinliche und Undenkbare war geschehen – die Wölfe waren gemeinsam auf der Flucht mit ihren Opfern, die sie noch vor wenigen Minuten zerreissen und in Stücke zerfetzen wollten, jetzt retteten sie sich vor der gemeinsamen Gefahr, Seite an Seite mit den Saigas, jetzt waren sie, angesichts einer solchen erbarmungslosen Wendung des Schicksals, Gleiche geworden. Dass Wölfe und Saigas in einem Haufen rannten, das hatte die Savanne Mujun-Kum noch niemals gesehen, nicht einmal bei den grossen Steppenbränden […]
Die Hubschraubertreibjäger, durch Funk miteinander verbunden, achteten darauf, die Antilopenbestände von zwei Enden so herzutreiben, dass diese nicht seitwärts auseinanderstieben konnten und sie daraufhin noch einmal durch die Savanne hinter den Herden herjagen mussten, sie steigerten die Angst und erhöhten das Tempo und zwangen die Antilopen, schneller und schneller zu rennen und zu rasen. In den Kopfhörern röchelten die erregten Stimmen der Treibjäger: «Nummer zwanzig, hör mal, Nummer zwanzig! Los, gib ihm Saures! Noch eins drauf!» Die Hubschrauberpiloten konnten von oben her sehr wohl sehen, was sich unten abspielte, wie sich über den weissen Neuschnee ein schwarzer Strom des Schreckens durch die Steppe wälzte. Und als Antwort war in den Kopfhörern eine muntere Stimme zu hören: «Wir legen noch einen Zahn zu. Ha, ha, ha, schau mal da, mittendrin rennen auch Wölfe. Mann o Mann, hat’s euch erwischt, Graubrüder! Seid bald kaputt und mausetot, Brüderchen! Hier läuft nichts mehr, von wegen uns austricksen!»
So jagten und trieben sie, bis die Saigas völlig zermürbt waren, genauso hatte man es ausgeheckt, und die Berechnung stimmte.
Und als die gejagten Antilopen in die grosse Ebene strömten, empfingen sie dort jene, denen seit dem Morgen die Hubschrauber so gründlich in die Hände gearbeitet hatten. Hier warteten die Jäger, genauer gesagt – die Erschiesser. Auf Geländewagen – den «Uasiks» mit offenem Verdeck – trieben die Erschiesser die Saigas weiter und knallten sie in voller Fahrt ab, mit Maschinenpistolen, aus unmittelbarer Nähe und ohne zu zielen, wie bei der Heumahd. Und hinter ihnen kamen Anhängerwagen – man warf die Trophäen auf die Ladebühne, eine um die andere, die Menschen fuhren eine Gratisernte heim. Robuste Typen besorgten zügig und bedenkenlos das neue Gewerbe, erstachen halbgetötete Saigas, setzten den Verwundeten nach und erledigten auch sie; doch die Hauptaufgabe bestand darin, die blutbespritzten Kadaver an den Läufen hin und her zu schwingen und in einem Ruck über die Ladewand auf die Brücke zu schmeissen. Die Savanne zollte den Göttern ihren grossen blutigen Tribut dafür, dass sie es gewagt hatte, Savanne zu bleiben – auf den Ladeflächen häuften sich die Kadaver der Saigas zu Bergen.
Und das blutige Schlachtfest ging weiter. In hemmungsloser Verfolgung stiessen die Abschiesser auf den Fahrzeugen in das Gewühl der nun eingeholten, schon entkräfteten Saigas vor, mähten die Tiere rechts und links nieder und trugen damit noch mehr Panik und Verzweiflung in die Herde hinein. Die Angst erreichte eine derart apokalyptische Spannung, dass es der Wölfin Akbara, vor Schüssen taub geworden, schien, die ganze Welt würde taub und stumm und alles ringsum stürze in Chaos und Verderben, und sogar die Sonne hoch oben schien lautlos in Flammen zu stehen, als werde auch sie, zusammen mit ihnen, in dieser tollwütigen Treibjagd verfolgt und suchte taumelnd ebenfalls Rettung, als zerfiele sie in viele flimmernde Splitter, ja auch die Hubschrauber schienen plötzlich zu verstummen, stellten ihr Krachen und Pfeifen ein und kreisten jetzt geräuschlos über der in den Abgrund versinkenden Steppe, wie gigantische, stumme Milane … Und die MP-Schützen des Erschiesser-Trupps feuerten geräuschlos, in den «Uasiks» kniend, geräuschlos dahinjagend und über die Erde fliegend, lautlos sausten die Wagen, lautlos rasten irre gewordene und völlig abgehetzte Saigas, und lautlos wälzten sie sich, von Kugeln durchsiebt, schlagartig von Blut überströmt … Und in dieser apokalyptischen Lautlosigkeit erschien Akbara das Antlitz des Menschen. Es erschien so nah und so furchtbar und mit einer solchen Deutlichkeit, dass sie entsetzt die Fassung verlor und beinahe unter die Räder geriet. Ein Geländewagen jagte Seite an Seite mit ihr, dicht neben ihr. Und der Mensch sass vorne, bis zur Hüfte hinausgelehnt. Er trug eine Schutzbrille gegen den Wind vor die Augen gebunden, sein Gesicht war bläulich purpurfarben, von Wind und Bewegung entstellt, am schwarzen Mund hielt er ein Mikrofon und brüllte unsäglich und doch unhörbar über die ganze Steppe hin, während er von seinem Platz aufhüpfte. Das war wohl der Führer der Treibjagd; und hätte in jenem Augenblick die Wölfin die Geräusche und Stimmen hören und die menschliche Sprache verstehen können, dann hätte sie erfahren, was er über Funk hinausschrie: «Schiesst an den Rändern! Tötet am Rand! Nicht in die Mitte knallen, die zerstampfen es! Zermanschen! Hol’s der Teufel!» Er befürchtete, die Kadaver der getöteten Saigas würden von den Hufen der hinterherrennenden Tiere zerstampft werden …
Und da merkte plötzlich der Mensch mit dem Mikrofon, wie neben ihm, beinahe Seite an Seite mit dem Auto, inmitten der flüchtenden Antilopen ein Wolf galoppierte und dahinter noch einige Wölfe. Er zuckte zusammen, brüllte unartikuliert heiser und hämisch auf, er warf das Mikrofon weg und holte von unten eine Flinte, legte sie über den Arm und lud durch. Akbara konnte nichts tun, als der Mensch mit dem gläsernen Augenschutz auf sie zielte, sie begriff das nicht, und hätte sie es auch verstanden, sie war in der Treibjagd gefangen und konnte nichts unternehmen, sie hätte durch keine Wendung ausweichen oder anhalten können, und er zielte, wollte sorgfältig zielen, und dies rettete Akbara. Unter ihren Läufen schlug es jäh ein, die Wölfin überschlug sich und sprang sogleich wieder auf und weiter, um nicht zerstampft zu werden; und im folgenden Augenblick sah sie, wie ihr Grossschädel, der stärkste ihrer Erstlinge, im Lauf angeschossen durch die Luft hochflog und heruntersank, blutüberströmt, langsam zur Seite rollend, langgestreckt und die Pfoten seitwärts schlenkernd, vielleicht hat er noch einen Schrei des Schmerzes ausgestossen, mag sein, es war das Klagegeheul vor dem Tod […]
Hätte in den Höhen des Himmels ein Auge über diese Welt gewacht, würde es wohl gesehen haben, wie dies alles geschah und welche Wendung es für die Savanne Mujun-Kum nahm, doch auch es hätte wohl kaum voraussehen können, was dem noch folgte und ausgeheckt wurde. …
Die Treibjagd in der Mujun-Kum wurde erst gegen Abend abgebrochen, da alle – Verfolgte und Verfolgende – entkräftet waren und die Dämmerung über der Steppe heraufzog. Am anderen Morgen sollten die Hubschrauber vom Wartungsstützpunkt zurückkehren und die Treibjagd von neuem beginnen, diese Arbeit würde wohl noch an die drei Tage dauern, vielleicht auch vier, wenn man bedachte, dass im sandigen Westteil der Mujun-Kum-Steppen nach ersten Meldungen der Hubschrauberaufklärung angeblich noch viele nicht aufgescheuchte Saigaherden vorhanden waren, unerschlossene Reserven des Gebiets, wie man es offiziell bezeichnete. Und falls unerschlossene Reserven existierten, ergab sich mit zwingender Notwendigkeit die Aufgabe, die genannten Reserven möglichst rasch zu erschliessen und im Interesse des Gebiets in die Planung mit einzubeziehen. Ebendas war die offizielle Begründung des «Unternehmens» Mujun-Kum. Bekanntlich stehen aber hinter jederlei offiziellen Verlautbarungen immer diese oder jene Lebensumstände, die den Gang der Geschichte bestimmen. Und die Umstände der Geschichte sind letztendlich die Menschen mit ihren Antrieben und Leidenschaften, Lastern und Tugenden, mit den unvorhersehbaren Windungen und Widersprüchen ihres Geistes. So gesehen war die Tragödie der Mujun-Kum auch keine Ausnahme. In der Savanne waren in jener Nacht Menschen. Bewusste oder unbewusste Vollstrecker dieser Greueltat.2    •

1    Tschingis Aitmatow. Der Richtplatz. Unionsverlag, Zürich 2007, S. 38, ISBN 978-3-293-20381-5
2    Auszug aus: Tschingis Aitmatow. Der Richtplatz. Unionsverlag, Zürich 2007, S. 39–46, ISBN 978-3-293-20381-5

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