In Griechenland setzt sich der Hunger fest

In Griechenland setzt sich der Hunger fest

von Gerd Höhler

Die Durchhalteparolen der Politik klingen für viele Griechen nur noch zynisch. Nach Jahren der Rezession und unzählbaren Sparprogrammen sind sie verzagt und zermürbt. Hunger und Verzweiflung breiten sich aus.

Athen. Sotiris Panagopoulos zählt das Geld noch einmal. Aber davon wird es nicht mehr. 599,95 Euro: Damit soll er in den nächsten vier Wochen seine Frau und seine beiden kleinen Kinder durchbringen. «Wie soll das gehen?» fragt der 35jährige verzweifelt. Allein 320 Euro gehen für die Miete drauf, dazu kommen die Rechnungen für Strom und Heizung. «Unter dem Strich bleiben uns nicht mal 7 Euro am Tag zum Leben. Vor fünf Monaten hat er seinen Job als Schweisser verloren. Die Firma hat von einem Tag auf den anderen dichtgemacht, 23 Leute standen auf der Strasse.
Panagopoulos ist nicht der einzige, der an diesem regnerischen Morgen auf dem Arbeitsamt von Perama sein Arbeitslosengeld abholt. Die Schlange der Wartenden wird jeden Monat länger. Perama liegt eine knappe Autostunde westlich Athens am Saronischen Golf, früher war die Stadt das Zentrum der griechischen Schiffbauindustrie. Heute hat der 25 000 Einwohner zählende Ort eine der höchsten Arbeitslosenquoten Griechenlands: rund 60 Prozent. Die meisten Betriebe hatten seit Jahren Probleme, weil sie mit den grossen Werften in Asien nicht mehr konkurrieren konnten. Die Rezession hat ihnen den Rest gegeben.
«Hier läuft nichts mehr», sagt Panagiotis Kosmas. Er sitzt in seiner Imbissbude an einer Bushaltestelle und wartet auf Kunden. Aber die meisten Werkstore hier unten an der Uferstrasse sind längst verriegelt. Nur noch von wenigen Werften tönen die Stimmen von Arbeitern, die Schläge ihrer Hämmer und das Zischen der Schweissbrenner. «Perama stirbt einen langsamen Tod», sagt Kosmas. Er will weg von hier, sucht nach einem neuen Standplatz für seine Bude.
Die Griechen im Jahr drei der Krise: ein verzagtes, verzweifeltes Volk, zermürbt von immer neuen Sparauflagen. Seit Beginn der Krise ist die Wirtschaft um fast 15 Prozent geschrumpft. Nach Berechnungen der EU-Statistikbehörde Eurostat leben bereits 28 Prozent der 18- bis 64jährigen Griechen an der Armutsgrenze. Jeder vierte Kleinunternehmer und Mittelständler fürchtet laut einer Umfrage, dass er seinen Betrieb «in nächster Zeit» schliessen muss.
Die griechische Gesellschaft nähert sich der Grenze ihrer Belastbarkeit. Zumindest gilt das für die ärmeren Menschen und für die Mittelschicht. Denn nicht alle Griechen sind am Boden – vor den Nachtclubs an der Iera Odos, der Heiligen Strasse, und den teuren Strandcafés im Küstenvorort Vouliagmeni parken immer noch die dicken Geländewagen.
73 Milliarden Euro haben Euro-Staaten und Internationaler Währungsfonds seit Mai 2010 bereits nach Athen überwiesen, jetzt werden im zweiten Rettungspaket weitere 130 Milliarden bereitgestellt. Wenn sich die Regierungschefs der EU-Staaten heute mal wieder in Brüssel versammeln, werden sie erneut betonen, wie wichtig ihnen die Förderung des Wachstums in den Mitgliedsländern ist. Konkrete Massnahmen dafür werden sie wohl nicht beschliessen.

«Wir sind mit einer humanitären Krise konfrontiert – hier, im eigenen Land»

Die meisten Griechen haben ohnehin nicht das Gefühl, dass die Hilfe ihnen hilft. Sie haben genug von Hoffnungen, die sich nicht erfüllen. Von den Versprechungen der ­Politiker, der wirtschaftliche Absturz werde bald gestoppt. «Ende 2011» werde die Wirtschaft wieder wachsen, versprach der damalige Finanzminister Giorgos Papakonstantinou vor zwei Jahren. Tatsächlich geht es immer schneller bergab, um fast 7 Prozent schrumpfte die Wirtschaftsleistung vergangenes Jahr. Dann hiess es, 2012 werde das Jahr der Wende. Auch das stellt sich schon jetzt als Illusion heraus.
Die Schicksale hinter diesen Zahlen erlebt Nikitas Kanakis von der griechischen Sektion der Hilfsorganisation «Ärzte der Welt» jeden Tag. Seit der Gründung vor 22 Jahren haben die 600 Mitglieder in rund 50 Ländern der Erde geholfen. Jetzt konzentrieren sie sich auf Griechenland. Sie betreiben in vier Städten Krankenstationen, in denen Bedürftige kostenlos behandelt werden. Ein Brennpunkt ist die Arbeitslosenmetropole Perama.
«Wir sind mit einer humanitären Krise konfrontiert – hier, im eigenen Land», sagt der Arzt Kanakis. Während des Irak-Krieges schickte seine Organisation 150 Lastwagen mit Hilfsgütern nach Bagdad. Vergangenes Jahr noch hat sie sechs Container mit Nahrungsmitteln nach Uganda verschifft. «Jetzt brauchen wir alle Lebensmittel hier», sagt Kanakis.
Täglich kommen mehr Menschen zu der Krankenstation in Perama. Wer in Griechenland arbeitslos wird, verliert nach spätestens einem Jahr auch seine staatliche Krankenversicherung. Aber die Menschen, die täglich in grösserer Zahl zu den «Ärzten der Welt» kommen, brauchen nicht nur medizinische Hilfe. «Immer mehr Besucher fragen nicht nach Medikamenten», berichtet Kanakis. «Sie sind hungrig und bitten um etwas zu essen.» Was sich in seinem Land abspielt, sei «schockierend und beschämend», sagt der Arzt.

Athens grösste Armenküche

Beschämend für ein EU-Land sind auch die Szenen, die sich in der Athener Piräus-Strasse abspielen. Haus Nummer 35, ein altes, zweistöckiges Gebäude. Hinter der blauen Holztür befindet sich Athens grösste Armenküche. Die Schlange der Menschen, die hier für eine warme Bohnensuppe oder einen Teller Nudeln anstehen, wird von Tag zu Tag länger. Fast 15 000 Menschen werden täglich allein in den Suppenküchen der Stadt Athen verköstigt. Die orthodoxe Kirche versorgt im ganzen Land sogar 250 000 Bedürftige pro Tag. «Gemeinsam können wir es schaffen»: Unter diesem Motto wird in den griechischen Supermärkten zu Lebensmittelspenden aufgerufen, eine Aktion des Rundfunksenders Skai. Neben den Kassen stehen Behälter, in denen jene, die noch genug haben, Konserven oder Olivenöl, Kartoffeln, Nudeln oder Reis für die Armenspeisungen hinterlassen können.

«Kauen Sie Ihr Essen möglichst lange» – Rezepte aus der Zeit der deutschen Besetzung 1941–1944

«Die Rezepte des Hungers» – so heisst ein Buch, das sich in Griechenland zum Bestseller zu entwickeln beginnt. Immer mehr Griechen zahlen bereitwillig 12,90 Euro für den Band – viele in der Hoffnung, mit der Lektüre Geld sparen zu können. Geschrieben hat das Buch die Historikerin Eleni Nikolaidou. «Die Idee kam mir, als ich zufällig in einer Zeitung aus den Kriegsjahren auf die Überschrift ‹So sammelt man Brotkrumen› stiess», erzählt die Autorin. 18 Monate lang sichtete Nikolaidou in den Archiven griechische Zeitungen aus den Jahren 1941–44, der Zeit der deutschen Besetzung. Sie sammelte Rezepte, mit denen man unter schwierigsten Bedingungen eine Familie einigermassen satt bekommen kann. «Kauen Sie Ihr Essen möglichst lange, dann fühlt sich der Magen länger voll an», lautet einer der Tipps.
Im Winter 1941/42 verhungerten und erfroren in Griechenland 300 000 Menschen, weil die deutschen Besetzer Brennstoffe und Nahrungsmittel beschlagnahmt hatten. So verzweifelt wie in jenen Jahren ist die Lage heute noch lange nicht. Aber erstmals seit Kriegsende sind jetzt mehr als ein Fünftel der Griechen arbeitslos. Unter den Jugendlichen ist sogar jeder Zweite ohne Job. Die ausgebrannten Ruinen und die russgeschwärzten Fassaden, die in der Athener Innenstadt an die schweren Unruhen von vor zwei Wochen erinnern, lassen ahnen, welches Gewalt­potential sich in dieser Statistik verbirgt.

Weg von der EU

Neun von zehn Griechen, so das jüngste ­Politbarometer, sehen ihr Land auf dem falschen Weg. Griechenland geht ins fünfte Jahr der Rezession. Weil die Wirtschaftsleistung kontinuierlich zurückgeht, steigen die Defizit- und Schuldenquoten. Der Finanzminister erhöht deshalb wieder die Steuern und streicht den Haushalt weiter zusammen, um die Sparvorgaben der internationalen Gläubiger zu erreichen. Damit entzieht er dem Wirtschaftskreislauf noch mehr Geld und treibt das Land tiefer in die Rezession. In diesem Jahr wird das Bruttoinlandsprodukt voraussichtlich um 5 Prozent schrumpfen.    •

Quelle: Handelsblatt vom 21.3.2012

Die griechischen Sparmassnahmen im Überblick

576 Millionen Euro Einsparungen bei Ausgaben für Medikamente
537 Millionen EuroKürzungen bei Gesundheits- und Rentenfonds; 500 Millionen davon entstammen dem Budget einer neuen nationalen Organisation, die die Grundversorgung im Gesundheitswesen sicherstellen soll, 15 Millionen Euro aus einem Fonds der Telefongesellschaft OTE und 21 Millionen aus einem Fonds der öffentlichen Stromversorger
400 Millionen EuroEinsparungen im Verteidigungshaushalt, davon 300 Millionen durch Verzicht auf Neuanschaffungen und 100 Millionen bei den laufenden Kosten
400 Millionen Euro Kürzungen bei öffentlichen Investitionen
386 Millionen EuroKürzungen bei Haupt- und Zusatzrenten
205 Millionen EuroEinsparungen bei Personalausgaben
200 Millionen EuroEinsparungen bei den Verwaltungsausgaben der Ministerien
86 Millionen EuroKürzungen im Haushalt des Agrar- und Nahrungsmittelministeriums, vor allem durch Streichung von Subventionen
80 Millionen EuroKürzungen im Bildungswesen, darunter 39 Millionen Einsparungen bei den Gehältern von Ersatzlehrern und Lehrern an griechischen Schulen im Ausland sowie zehn Millionen bei Forschung und Technologieförderung
70 Millionen EuroKürzung der Wahlkampfunterstützung
66 Millionen EuroEinsparungen im Haushalt des Finanzministeriums durch Kürzung der Pensionen
59 Millionen EuroKürzungen bei der Kommunalförderung
50 Millionen EuroStreichung von Überstunden von Ärzten in staatlichen Krankenhäusern
43 Millionen EuroKürzungen der Unterstützungsleistungen für Familien mit mehr als drei Kindern
25 Millionen EuroKürzungen im Kultur- und Tourismushaushalt
3 Millionen EuroKürzungen bei den Personalausgaben der staatlichen Versorger

   

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